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Wer ist schuld?

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Eine ca. 35 Jahre alte Patientin stellt sich erstmals mit einer Vielzahl körperlicher Beschwerden vor. Auffällig ist, dass sie schon in den ersten Sätzen vorbringt, dass ihre Symptome stressbedingt seien. Im Verlauf des Erstgesprächs schildert sie eine häusliche Szene, die dem Besuch in der Praxis vorausgegangen ist. Der Ehemann habe sie aufgefordert, zum Arzt zu gehen, weil ihre Beschwerden doch eine körperliche Ursache haben müssen. Sie dagegen hatte erneut und zum wiederholten Mal den Vorwurf erhoben, er sei schuld an ihrer misslichen Lage.

Beide Partner streiten mit gegenseitigen Schuldvorwürfen verbittert um den Einfluss auf das einzige Kind und um dessen Zuneigung. Der Streit eskaliert, als innerhalb der Herkunftsfamilie des Mannes ein Gewaltverbrechen geschieht. Sein Vater ermordet anscheinend in einem Impulsdurchbruch die Mutter. Nun hält die Patientin ihrem Mann seine »böse« Herkunftsfamilie vor und will den Einfluss der eigenen Herkunftsfamilie auf das gemeinsame Kind stärken. Er fühlt sich einsam und isoliert und ist neidisch auf die »gute« Familie seiner Frau. Beide Familien wohnen im selben Ort. Mit dem Praxisbesuch hegt die Patientin die Hoffnung, die Diagnose einer durch Stress und Erschöpfung bedingten Krankheit ihrem Mann an den Kopf werfen zu können. Ihre Erwartung an die Hausärztin ist, sie möge mit ihrer Diagnose einer psychischen Störung Munition für ihren Kampf mit dem Ehemann liefern. Zwar wird eine somatische Ursache der Beschwerden der Ehefrau aufgedeckt, das Schuldthema wirkt jedoch weiter. Später findet der Ehemann die »Lösung«, unter Vorgabe beruflicher Zwänge mit seiner Kleinfamilie aus dem Einflussbereich der »guten« Familie fortzuziehen.

Ärzte sollten sich die Frage stellen, was sich im Vorfeld des Praxisbesuches in der Familie abgespielt haben mag. Familienmitglieder versuchen, die Ärztin – in diesem Fall durch ihre Diagnose – für sich zu instrumentalisieren, denn ihr autoritatives Gewicht kann die Gesamtbalance im hierarchischen Gefüge einer Familie verschieben. Sie kann durch ihre Expertenautorität Munition im gegenseitigen Kampf liefern oder auch entlasten.

Die Patient-Familie-Arzt-Beziehungskonstellation erweitert die Erwartungen, die an den Arzt gestellt werden. Er muss versuchen, ein System zu verstehen, in dem Schuld- und Schamkonflikte bedeutsam sind und um die einflussreichste Position im Familiengefüge gekämpft wird. Ob er will oder nicht, er soll zum Mitspieler einer Familieninszenierung werden. Diese Rolle muss er nicht übernehmen.

Die Hausarztpraxis von morgen

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