Читать книгу Die Hausarztpraxis von morgen - Iris Veit - Страница 25
3.3 Familienkonflikte Die perfekte Familie – Schamkonflikte
ОглавлениеDer immer sehr selbstbewusst und charmant auftretende 50-jährige Mann arbeitet auf der mittleren Führungsebene eines Software-Unternehmens, ist verheiratet und hat zwei adoleszente Kinder. Er hat im frühen Erwachsenenalter einen Herzinfarkt erlitten, der in der ihn auch jetzt behandelnden Praxis erkannt und als Notfall erfolgreich stabilisiert wurde. Er stellt sich auch trotz der Erkrankung als erfolgreich und unabkömmlich im Beruf und als fürsorglicher und verantwortlicher Familienvater und Ehemann dar, der alles im Griff hat. In sein Bild von Perfektion gehört auch der Mythos der perfekten Familie.
Seine gleichzeitig in der Praxis behandelte Ehefrau, nicht berufstätig, tritt eher zurückhaltend und unsicher auf; ihre Beratungsanlässe erschienen der Ärztin eher als Bagatellen. Dies ändert sich erst, als die Patientin wegen eines Panikanfalls und nachfolgender stationärer Behandlung wieder in der Sprechstunde erschien. Jetzt gewann die Patientin für die behandelnde Ärztin, die immer stolz auf die »Rettung« des Ehemanns war, mehr Bedeutung, und erhielt mehr zeitliche Zuwendung seitens der Ärztin. Die Verschiebung von Aufmerksamkeit und Bedeutung schien den Ehemann erheblich zu kränken und ihn neidisch und eifersüchtig zu machen. Er schien zu befürchten, dass in den Gesprächen mit der Ehefrau Dinge zu Tage treten könnten, die am Mythos der perfekten Familie kratzen und ihn in den Augen der Ärztin beschämen könnten. Die Ärztin führte das auf seine Angst zurück, dass seine Ehefrau größere Selbstständigkeit gewinnen könnte, die das bisherige Konstrukt des Zusammenlebens in Frage stellen würde. Zu einer Aussprache darüber kam es nicht. Die Beziehung zur Ärztin wurde seinerseits kühler und noch konfliktreicher. In trotziger Haltung lehnte er sogar notwendige kardiale Kontrolluntersuchungen ab. Dies mag auf seine narzisstische Krankheitsverarbeitung zurückzuführen sein, aber kann auch als Reaktion auf die verschobenen Gewichte der Zuwendung und als Scham-Wut und trotziger Protest gegen die Bevorzugung der Ehefrau verstanden werden. Er gefährdete sich damit selbst in erheblichem Ausmaß.
Wie das Beispiel zeigt, kann verschobene Zuwendung bisherige Gleichgewichte in der Familie beeinflussen; verschiedene Mitglieder können um die ärztliche Aufmerksamkeit ringen, und ärztliche Interventionen gegenüber dem Einen haben Folgen für die Beziehungsgestaltung zum anderen. Auch Gender-Aspekte spielen eine Rolle. In eine Hausärztin kann sich der männliche Patient verlieben und umgekehrt; Eifersucht kann in der Ehefrau entstehen und zur Beeinträchtigung ihrer Beziehung zur Behandlerin führen.
Auch Hausbesuche können Schamkonflikte hervorrufen, weil sie einen Blick hinter die Kulissen ermöglichen. Nicht immer ist ein solcher Blick erwünscht. Naheliegende Konsequenz wäre, Hausbesuche anzukündigen und die Einwilligung der Betroffenen immer einzuholen.