Читать книгу Die Hausarztpraxis von morgen - Iris Veit - Страница 24
3.2 Die Patient-Arzt-Beziehung erweitert sich zur Patient-Familie-Arzt-Beziehung
ОглавлениеDamit wird die Funktion des Hausarztes noch komplexer. Sie wird nicht nur komplexer, weil Familienstrukturen einem zeitlichen Wandel unterlegen sind, die »Normalfamilie« seltener wird und bunte Familienbilder von Paaren ohne Kinder, Singles, Alleinerziehenden, gleichgeschlechtlichen Paaren und Wohngemeinschaften entstanden sind. Komplexer wird es vor allem, weil der Arzt Teil des Systems Familie wird – ob er will oder nicht – und nicht nur Beobachter aus der Distanz bleiben kann. Die Beziehung Patient-Arzt erhält die Dimension Patient-Familie-Arzt. Im Vergleich mit der Behandlung eines Einzelnen wird das Spektrum möglicher Erwartungen, die der Patient dem anderen zuschreibt (Übertragungenbertragungen), erweitert. Als Reaktion darauf kann der Hausarzt mehr als andere Ärzte zum Mitspieler, der sich mit einem Familienmitglied verbündet, oder zum vermeintlichen Regisseur der Familieninszenierung werden; er kann Richter oder Detektiv sein, oder manchmal auch zum angeklagten Opfer gemacht werden. Schon diese Rollen-Metaphern verweisen auf einen Raum, in dem es um Beweise, Urteile und Strafen geht und in dem der Arzt die Rolle des Richters oder des Mitschuldigen zugewiesen bekommen kann. Diese Metaphern verweisen darauf, dass in Familien häufig Schuld- und Schamkonflikte wirken, in die der Arzt einbezogen wird. Zum Beispiel erhebt in der Sprechstunde ein Familienmitglied Vorwürfe und Anklagen gegen ein anderes Familienmitglied, manchmal auch in dessen Beisein. Oder der Arzt sieht sich mit Vorwürfen konfrontiert, an Eheproblemen mitschuldig zu sein – weil der Mann den Eindruck hat, seine Frau habe sich, beeinflusst durch die ärztliche Behandlung, von ihm entfremdet. Ob solche Zuweisungen funktionieren, hängt auch von der Bereitschaft des Arztes ab, die zugewiesene Rolle zu übernehmen, anders formuliert von seiner Resonanz. Diese Implikationen der Familienmedizin sind für die Allgemeinmedizin noch nicht ausreichend reflektiert und werden im Folgenden beschrieben.