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2 Komplexitätsvariable: Multimorbidität 2.1 Die Zahl chronisch Kranker nimmt zu Patient mit multiplen chronischen Krankheiten und Adipositas

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Der 45-jährige Patient Herr Z. ist extrem übergewichtig mit einem BMI deutlich über 40 kg/m². Er leidet unter Gelenkbeschwerden und Schlafproblemen. Als Folgeerkrankungen bestehen bereits ein Diabetes mellitus, arterieller Hypertonus, koronare Herzkrankheit KHK und ein Schlaf-Apnoe-Syndrom. Chronische Schmerzen unterstützen seinen mangelnden Antrieb zur Bewegung und vermehren in einem Teufelskreis das Übergewicht.

Herr Z. ist arbeitslos. Eigentlich ist er gelernter Bergmann, wegen des Übergewichts (er kann sich kaum die Schuhe zubinden) konnte er seinen Beruf nicht mehr ausüben. Die soziale Ablehnung, die übergewichtige Menschen erfahren, ließ ihn schon vor Jahren keine Arbeit finden. Zwischenzeitlich hat er einen Kiosk aufgemacht. Zeitweilig übermäßiger Alkoholgenuss und Schulden förderten seine soziale Deprivation. Seine Essgewohnheiten werden von Armut beeinflusst: Als Nahrungsmittel werden industrielle Billigprodukte verwendet, die hastig und unachtsam verzehrt werden. Außerdem unterstützt Armut den sozialen Rückzug. Weil passende Kleidung kaum finanzierbar ist, traut er sich nirgendwo hin. Der Arztbesuch ist schon aus diesem Grund für ihn beschämend. So taucht er im »Blaumann« in der Arztpraxis auf.

Er schildert, dass er in seinem Elternhaus gezwungen wurde, den Teller, den der Vater ihm schöpfte, immer leer zu essen, auch wenn es »dicke Bohnen« gab, die er nicht mochte. Dieses Verhalten hat er sein Leben lang beibehalten. Die Essensszene am Mittagtisch ist nur eine von vielen quälenden Taten des Vaters. Der Patient erfuhr körperliche Gewalt und sexuellen Missbrauch in der frühen Kinderzeit. Die Mutter war nicht in der Lage, ihn zu schützen. Der Vater selbst war durch frühe Deprivation im Waisenhaus und durch kriegstraumatische Erlebnisse in der Adoleszenz polytraumatisiert.

Sozialpsychiatrische Interventionen, medikamentöse Behandlung, kontinuierliche Unterstützung im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung durch den Hausarzt und eine spätere, bariatrische Operation mit anhaltender Gewichtsabnahme von 50 kg helfen ihm, sich zu stabilisieren.

Eigentlich müsste Herr Z. mehr als sechs Medikamente einnehmen, zusätzlich fünf Gebietsärzte aufsuchen und an zwei, demnächst drei Disease-Management-Programmen (DMPs) teilnehmen.

Herr Z. ist einer von derzeit 5–7 Mio. Menschen, die an Diabetes mellitus Typ 2 leiden. Nach dem Robert Koch-Institut (RKI) beträgt die Prävalenz 2020 aller Diabetes-Erkrankungen bei den gesetzlich Versicherten 9,4 % (Frauen) bzw. 10,1 % (Männer) (www.diabsurv.rki.de). In 15 Jahren wird sich ihre Zahl um eine Mio. Menschen erhöhen. In diese Zahlen fließt auch ein, dass die Schwellenwerte verändert wurden und zumindest in den USA allein durch diese Veränderung eine Mio. mehr Menschen als Diabetiker betrachtet werden. Dies ist die Prognose trotz hoher Kosten, die für Disease-Management-Programme (DMP), hauptsächlich für das DMP Diabetes mellitus Typ 2, aufgewendet wurden (2009 in Deutschland circa 1,1 Mrd. Euro).

Die Zunahme chronisch Kranker und der Zusammenhang mit der Alterung der Gesellschaft ist belegt. Bis 2050 wird sich die Zahl der Pflegebedürftigen fast verdoppeln. Bereits jetzt sind die meisten Menschen, die einen Hausarzt aufsuchen, chronisch krank. Geschätzt sind mindestens zwei Drittel aller über 60-jährigen Patienten in Hausarztpraxen multimorbid erkrankt.

Die Definition von Multimorbidität ist nicht eindeutig. Wenn drei chronische Erkrankungen oder mehr bei einem Kranken vorliegen, wird hier von Multimorbidität gesprochen. Die Morbidität definierter chronischer Krankheiten, auch definierter psychischer Krankheiten, wächst. Die Ursachen von Multimorbidität lassen sich nur komplex verstehen.

Chronische Krankheiten nehmen auch zu, weil soziale Ungleichheit und prekäre Lebensverhältnisse zunehmen. Personen mit niedrigem Einkommen haben ein 2- bis 3-fach erhöhtes Risiko für chronische Krankheiten wie Schlaganfall, Herzinfarkt, Lungen- und Magenkrebs und Diabetes sowie degenerative Muskel- und Gelenkerkrankungen (Lampert et al. 2018 und Heidemann 2019). Und hier nehmen die Unterschiede noch zu. Die Zunahme chronischer Krankheiten bei Männern ist auf ihren Anstieg in der unteren Einkommensschicht zurückzuführen; bei Frauen steigt der Unterschied zwischen Arm und Reich an, weil die Frauen der höheren Einkommensschicht weniger chronische Krankheiten entwickeln (Hoebel et al. 2018; Abb. 2.1). Die Arztdichte in einer Region als Maßstab für die Güte der Versorgung ist nicht relevant für die Lebenserwartung, auch die Bevölkerungsdichte nicht. Ausschlaggebend sind Armut oder Reichtum, wie eine Untersuchung der Lebenserwartung nach Landkreisen in Deutschland 2020 bewies (Rau 2020).

Die Prävalenz chronisch psychischer Erkrankungen wird häufig unterschätzt. Nach der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland des Robert Koch-Instituts leiden allein ein Drittel aller Männer und ein Viertel aller Frauen über 60 Jahren an Schlafstörungen. 40 % chronisch somatisch Kranke entwickeln im Laufe ihres Lebens eine Depression oder andere psychische Erkrankungen (Kruse und Herzog 2013). Mehr noch, die Depression ist auch ein Risikofaktor für erhöhte Mortalität (Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression: www.depression.versorgungsleitlinien.de). Menschen mit einer koronaren Herzkrankheit

Abb. 2.1: Lebenszeitprävalenz von Diabetes mellitus, Adipositas und depressiver Symptome bei Frauen in Abhängigkeit vom Einkommen

Die Datenbasis wird durch die »Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland« (DEGS1 www.rki.de) gebildet, die das Robert Koch-Institut im Zeitraum von 2008 bis 2011 durchgeführt hat (n=8152). Die Daten sind für die Gesamtbevölkerung repräsentativ. Die Ergebnisse bei Männern sind ähnlich wie die hier abgebildeten bei Frauen (n: 4106 Diabetes mellitus und n: 3648 Adipositas). Die Untersuchung umfasste Befragungen, Untersuchungen und Tests. Die Daten zur depressiven Symptomatik werden von der Studie Gesundheit in Deutschland GEDA-2014/2015 unterstützt. Hier wurde nicht das Einkommen, sondern der Bildungsstatus bei 12900 Frauen erhoben. Die Erhebung der depressiven Symptome erfolgte in schriftlicher Befragung (PHQ-9)1.

und einer gleichzeitig bestehenden schweren Depression haben ein vielfach erhöhtes Risiko, an einem Herzinfarkt zu versterben. Mangelnde soziale Unterstützung mag ein Aspekt des gesamten Bedingungsgefüges sein.

Das medizinische Versorgungssystem kann besser auf akute Erkrankungen als auf Chronifizierung reagieren. Unsere bisherige Antwort auf die Zunahme chronischer Krankheiten ist die Einführung von Disease-Management- Programmen (DMPs). 2019 hatten sich über vier Mio. Patienten in das DMP Diabetes eingeschrieben. In bisherigen Untersuchungen sind die Effekte eher zurückhaltend bewertet und unsicher. Mortalität und die Prävalenz mikrovaskulärer Komplikationen sind gesunken (mehr Fußuntersuchungen bei den unteren Bildungsschichten), mehr Menschen erreichen einen Zielwert von < 8,5 HBA1c, keine Verbesserungen wurden für Lebensqualität und ökonomische Faktoren nachgewiesen (Robert Koch-Institut 2019, Hagen 2019, Adrion 2016). Doch das Risiko, in den nächsten fünf Jahren einen Diabetes zu bekommen, hat nur für die hohen Bildungsschichten abgenommen (Heidemann 2019).2

Demgegenüber belegen Untersuchungen, dass eine emphatische Patient-Arzt-Beziehung Langzeitkomplikationen des Diabetes mellitus reduzieren hilft (Del Canale 2012); ein Argument dafür, gesundheitspolitisch Hausärzten Raum für beziehungsmedizinisches Handeln zu lassen.

Hausärzte stehen vor dem Dilemma, dass sie den gesellschaftlichen Entwicklungen, die chronische Krankheiten hervorrufen, mit ihren Mitteln kaum begegnen können. Wir wissen, dass angesichts von Armut, Arbeitslosigkeit, Einsamkeit und einer global agierenden Nahrungsmittelindustrie individuelle Aufklärung und Motivation nur ein Tropfen auf den heißen Stein sind. Dennoch machen wir uns an die tagtägliche Arbeit. Es gibt auch Erfolge wie z. B. den Rückgang der Sterblichkeit an der koronaren Herzkrankheit und des Dickdarmkarzinoms durch Prävention, und insgesamt sind ältere Menschen gesünder als vor 30 Jahren.

Manche Hausärzte möchten Komplexität vereinfachen. Sie könnten der Gefahr erliegen, chronische Krankheiten als ausschließlich individuelles Problem des einzelnen Patienten zu betrachten, das sich besser lösen ließe, wenn der Patient ärztlichen Anweisungen folgen würde: »Iss weniger und bewege Dich mehr!« Deshalb sei schon an dieser Stelle und ausführlich im Kapitel 5 auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen chronischer Krankheiten hingewiesen ( Kap. 5).

Die Hausarztpraxis von morgen

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