Читать книгу Die Tote im Dominastudio - Isabella Bach - Страница 13

2

Оглавление

ZWEI KILOMETER LUFTLINIE entfernt zogen am Samstagmorgen dunkle Wolken eilig über die Dächer des ehemaligen Lederfabrikgeländes hinweg. Jenseits des Trubels der Weddinger Hauptverkehrsstraße erinnerte nichts an die einstige Schmuddelecke Berlins.

Um zehn nach elf saß Marlene Burgfried im Schneidersitz in ihrem sanierten Loft auf einer Meditationsbank und entfachte das innere Morgenfeuer. Die Hände lagen mit den Handflächen nach unten auf den Knien. Öffnen. Ihr Atem strömte lautlos durch die Nase ein. Der Oberkörper der schlaksigen 71-Jährigen schaukelte sanft nach hinten. Gleichzeitig schob Marlene ihren flachen Bauch nach vorne. Warten. Durch das vierte Auge auf der oberen Stirnpartie Energie vom Himmel einfließen lassen. Verweilen. Mit dem Körper nach vorne schaukeln. Becken nach hinten loslassen. Ausatmen. Loslassen. Loslassen.

In die nächste Übungsfolge schlich sich der Gedanke an ihre Enkelin: Ein Glück, Felicitas bekommt allmählich wieder Boden unter die Füße. Öffnen. Gleichzeitig mit dem Einatmen fragte Marlene sich, aus welcher Quelle die junge Frau die neue Kraft schöpfte. Während der Scheidungsphase von Michael Heyn vor drei Jahren war die damals 29-jährige monatelang in eine Depression gefallen. Ausatmen. Loslassen. Und jetzt ruhte Felicitas in sich selbst. Marlene atmete tief ein. Hatte die junge Frau wieder Kontakt zu Gott aufgenommen? Marlene, konzentrier dich auf die Übungen!

Felicitas’ ovales Gesicht erschien ihr als Fata Morgana. Mit dem nächsten Atemzug überwältigte Marlene eine Ahnung: Meine Enkelin verbirgt etwas vor mir! Marlene atmete ein, vergaß, das Becken nach vorne zu schieben. Beim Ausatmen flatterten die Blütenkelche auf ihrem rot-beigen Kimono.

In Ordnung, Marlene, du kannst heute Abend in Ruhe darüber nachdenken. Aus. Loslassen. Ein. Energie vom Himmel.

Das Bild der Enkelin verblasste. Nach zwei weiteren Übungsfolgen schwebte Marlene minutenlang in watteweicher Leichtigkeit, bis sich ein haltloses Kichern den Weg bis zu ihren Ohren bahnte. Träge hob sie die Lider.

Die Herbstsonne blinzelte hinter den Wolken hervor, drang durch die bodentiefen Isolierglasfenster, erhellte 200 Quadratmeter Parterre und setzte das Rot der Backsteinwände wirkungsvoll in Szene. Lediglich die Bereiche Bad und Gästetoilette konnte Marlene nicht einsehen. Draußen im Lichthof zupfte der Wind Blätter von der jungen Buche, verteilte sie spielerisch auf Holztisch und Bänke in der Mitte.

Ihr Liebhaber lag auf dem breiten Bett im Kolonialstil an der Nordostgrenze des Lofts und bedachte Marlene mit wohlgefällig amüsiertem Blick. Kriminaloberrat Dr. Lorenz Vogelsang hatte den Kopf mit den verwuschelten grauen Haaren in die rechte Hand gestützt.

Zehn Minuten später erhob Marlene sich. Dank Fußbodenheizung kühlten die Fliesen ihre Glieder nicht aus.

Lorenz zog eine seiner breiten Brauen nach oben. »Schon fertig mit Krach Tsching Bumm

Marlene liebte seine sonore Stimme. Sie blickte in das verschmitzte Gesicht, betrachtete sein Kinngrübchen, die freundlichen Fältchen rund um die Augenpartien und auf der Stirn. Marlene dachte mit Zärtlichkeit an die gedrungene Gestalt unter der Bettdecke, sah die breiten Schultern des langjährigen Freundes. Die Ähnlichkeit des Leiters des Berliner Morddezernats mit Marlenes Lieblingsschauspieler verblüffte nicht nur seine Kollegen.

Marlene streckte das Kinn gespielt hoheitsvoll nach oben, stolzierte auf nackten Füßen gemessenen Schrittes zum Bett. »Shin Tao, bester Rühmann, der Weg der Götter - Zen Yoga; belebt Geist, Körper und Seele. Nur eine achtsame Shiatsu-Therapeutin ist eine erfolgreiche Therapeutin.« Marlene übte jeden Tag und ging zwei Mal in der Woche zum japanischen Bogenschießen. Mit diesen fernöstlichen Praktiken hielt sie seit vielen Jahren ihre innere Balance aufrecht.

Lorenz zeigte seine unverwüstlichen Zähne, um die Marlene ihn beneidete. »Méo – die einzige Göttin, die mich belebt, bist du.«

Marlene lächelte zurück. Der vietnamesische Kosename, den der Liebste ihr gegeben hatte, weil sie sich so geschmeidig wie eine Katze bewegte, rührte sie. Sie strich über Lorenz’ leicht gewölbten Bauch, beugte sich über ihn. Dichtes weißes Haar streichelte über sein Gesicht. »Frühstück?«

Der neun Jahre jüngere Freund löste kommentarlos den breiten Gürtel ihres bodenlangen Kimonos. Ihre Lippen fanden sich zu einem innigen Kuss.

Es war nicht der harmonische Klang des Telefons, der Marlene hochfahren ließ, sondern der Anrufbeantworter, der sich nach dem dritten Läuten einschaltete.

»Guten Tag, Oma, was macht die Kunst?«

Pause.

Marlene befreite sich aus Lorenz’ Armen, setzte sich auf und drehte die rechte Seite des Kopfes in Richtung der Stimme. Sie betrachtete angestrengt die preußischen Kappendecken, die dem riesigen Raum zusätzlichen Fabrikcharakter verliehen. Ihr linkes Ohr war seit der Geburt taub.

»Äh, guten Tag, Oma! Hast du nächste Woche Mittwoch Lust auf einen Plausch in dem Café am U-Bahnhof Rehberge? Ich möchte gerne meinen Geburtstag mit dir nachfeiern. Wie wäre es um drei? Okay, bis dann. Ach ja, hier ist Felicitas, deine Enkelin. Tschau.«

Lorenz streichelte Marlenes Schulter. »Was ist los?«

Marlene massierte ihre Ohrmuschel zwischen Daumen und Zeigefinger. »Was macht die Kunst? So habe ich Felicitas noch nie reden hören.«

Lorenz grinste. »Meine Sprüche sind beliebt.«

»Sicher, mein Bester. Aber hast du ihre Stimme gehört? Die Worte flattern wie aufgeregte Schmetterlinge. Ich erkenne Felicitas nicht wieder.«

Marlene stand auf, ging an der halbhohen Küchenmauer vorbei zum Telefon am anderen Ende des Lofts, spulte das Band zurück. Felicitas’ Stimme füllte erneut den Raum. Marlene hob die Hände. »Was für ein seltsames Gestotter. Oma! So nennt sie mich sonst nie. Hier ist Felicitas, deine Enkelin. Na so was!« Marlene meinte, in dem tauben Ohr ein Sirren zu hören; Töne, die sie quälten, wenn irgendetwas nicht stimmte.

Marlene kehrte zurück zum Bett.

Auf dem Nachttisch klingelte ein Handy. Mit einem Seufzer griff Lorenz danach. »Vogelsang!« Er lauschte kurz, schwang die Beine auf den Boden vor dem Bett, ächzte ein wenig. »Ich komme.«

Marlene sah ihren Liebsten fragend an, las in seinen Augen Bedauern. Er stand auf. »Das war Theo Kiefer. Mein neuer Assistent. Wir haben einen Toten in Neukölln.«

»Schade - dann fällt unser ausgedehntes Frühstück aus. Wie ist der Neue? Stimmt die Chemie zwischen euch?«

Lorenz nickte. »Ich mag ihn. Er ist ein Stiller; ein heller Kopf, der die Dinge auf den Punkt bringt. Mal sehen, wie er sich in seinem ersten Fall in unserer Abteilung bewährt.«

Die Tote im Dominastudio

Подняться наверх