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ZWEI TAGE SPÄTER verließ Daniela Wackernagel zögernd das Haus. Dem Kletterparadies Magic Mountain schenkte sie heute keinen sehnsüchtigen Blick. Ihre Gedanken kreisten nach wie vor in einer Endlosschleife um den Dunklen Raben. Wie sollte sie ohne ihren Herrn und Meister weiterleben? Er ist mein Licht, meine Sonne, mein Leuchtturm.

Der trübe Herbsthimmel verfinsterte Danielas Laune einen weiteren Tick. An einem Haus auf der anderen Straßenseite lehnte ein Bodybuildertyp und rauchte. Er blickte zu ihr hinüber. Daniela erkannte das verwitterte Gesicht, den struppigen Kinnbart. Der nächtliche Raucher. Der hochgewachsene Kerl löste sich von der Mauer, warf eine halb gerauchte Zigarette achtlos auf den Bürgersteig. Daniela war, als würde sie auch seine gesamte Gestalt nicht das erste Mal sehen. Die junge Frau lief verwirrt die Böttgerstraße hinunter. Dann erinnerte sie sich an das auffällige T-Shirt. Ein Muskelmann, mit dem sie vor ein paar Tagen in der Nähe des SM-Studios zusammengestoßen war, hatte es ebenfalls getragen. Auf sein Gesicht hatte sie damals vor lauter Schreck nicht geachtet. Unter dem Schriftzug RALLE prangte ein glänzend roter US-Truck mit den obligatorischen Riesennebelhörnern aus Chrom. Daniela blickte über die parkenden Autos hinweg. Der Mann lief in ihre Richtung und starrte sie an. Verfolgt der mich etwa? Die namenlose Sklavin zog die Schultern nach oben. An der Hauptverkehrsstraße wartete Daniela an einem Fußgängerüberweg. Sie drehte sich um. Ralle hatte inzwischen die Straßenseite gewechselt, schlenderte lässig auf sie zu. Die Ampel sprang auf Grün. Daniela beschleunigte ihre Schritte, überquerte hastig den Brunnenplatz, bog in die Straße ein, die zum Ufer des Flüsschens führte. Als die namenlose Sklavin am Studioeingang den Summer hörte, war sie außer Atem.

Im Carpe Noctem stand Nora Sengbusch wie Nemesis persönlich hinter dem Tresen: 57 Jahre, frauliche Rundungen an den richtigen Stellen, eisgraue Hochfrisur. Raffinierte Korsetts trug sie seit Jahren nicht mehr. Das überließ die personifizierte Rachegöttin den jungschen Dingern.

Daniela Wackernagel, die nicht mehr Kajira war, senkte den Blick; verzog in Gedanken an den unsympathischen Fettsack August Schenker das Gesicht. »Es tut mir leid. Ich hab’ heute Nachmittag den Müll raus gebracht und mich dabei ausgesperrt. Mein Wohnungsschlüssel hat von innen gesteckt.« Sie schämte sich, hatte nicht einmal ihrer einzigen Freundin Paula von den letzten beiden Treffen mit Dark Raven erzählt; von der Verzweiflung, die sie seitdem erfüllte. Und die Queen of Pain wäre die Letzte, der sie sich anvertrauen würde. Die Studiochefin schenkte den Frauen, die für sie arbeiteten, nichts; schon gar kein Mitgefühl.

Es klingelte an der Studiotür. Daniela zuckte zusammen.

Nora runzelte die Stirn. Daniela öffnete. Erschrocken starrte sie in ein verwittertes Gesicht mit struppigem Kinnbart. Scheiße, der Raucher aus der Böttgerstraße! Der Bodybuilder mit dem Truck-Hemd! Seine Jogginghose war an den Taschen stark ausgebeult. In seinem rechten Ohr trug er einen Piratenohrring. Er wirkte verschwitzt. »Hey, Püppi, ick bin Ralle, der schärfste Fernfahrer vom Wilden Wedding. En Kumpel hat mir jesteckt, det et hier oben schnuckelige Sklavinnen jibt – und du, Mädel, bist janz jenau meine Kragenweite.«

Danielas Angst verflog. Sie grinste belustigt. Wer hat denn den aus dem Zoo gelassen?

Die Queen of Pain rauschte mit raumgreifenden Schritten hinter dem Tresen hervor. Sie schob Daniela mit einer resoluten Handbewegung zur Seite und inspizierte den Kerl mit einem schnellen Blick. Nora schüttelte den Kopf. »Junger Mann, eine Püppi gibt es hier nicht. Ich denke, Sie haben sich verirrt. Ich führe ein Domina-Studio. Meine Damen sind von ihren Gästen tadellose Manieren gewohnt.«

Ralle bekam Basedowaugen. »Aber ick habe jenug Kohle. Ehrlich!« Er zog ein Bündel Geldscheine aus der rechten Hosentasche und streckte es Nora hin.

Die Queen of Pain rümpfte die Nase. »Das mag sein. Aber wir sind hier nicht auf einem orientalischen Basar. Ich empfehle Ihnen den Puff in der Badstraße.«

Die namenlose Sklavin fragte sich, warum die Chefin den Typen ablehnte. Der ist doch witzig. Außerdem konnte sie die Kohle gut gebrauchen. Die Miete war fällig. Daniela zwinkerte ihm zu.

Im Gesicht des Mannes arbeitete es. Die Kiefer mahlten. Seine Augen verengten sich. »Und du, Muttchen, könntest eine ordentliche Tracht Prügel vertragen.«

Daniela blinzelte. Oh, oh, er spricht plötzlich Hochdeutsch.

Ralle griff in die andere Jogginghosentasche. Seine große rechte Hand zog eine zusammengerollte Peitsche mit einem kurzen roten Griff heraus.

Die namenlose Sklavin schaute ihn fasziniert an. »Cool!«

Nora Sengbusch stemmte ihre Hände in die Hüften. »Jetzt ist es genug. Troll dich oder ich rufe die Polizei!«

Sie warf die schwere Tür ins Schloss. Beide Frauen hörten Ralles dumpfe Stimme. »Eingebildete Tussi!«

Die Queen of Pain wandte sich mit einem Schnaufen an Daniela. »Kennst du den Typen?«

Die Sklavin schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich, er ist mir nur ein paar Mal auf der Straße hinterhergelaufen.«

Nora zog scharf Luft in ihre Nase. »Mensch, Mädchen, lass dich ja nicht mit diesem Kerl ein. Seine Sorte ist aus grobem Holz, respektlos und gefährlich. Außerdem braucht er eine Dusche und ordentliche Kleidung.«

Daniela zuckte mit den Achseln. Ralle hatte für ihren Geschmack nicht schlecht gerochen – ein bisschen würzig vielleicht, aber das mochte sie.

Die Studiochefin schaute Daniela mit Argwohn an. »Dein Gesicht sieht merkwürdig aus. Ist da sonst noch etwas, das ich wissen sollte?«

»Nö.« Die namenlose Sklavin griff sich schuldbewusst an die Nase. Es knirschte, als ob ihr ein Zahn aus dem Kiefer gezogen würde, und tat höllisch weh. Ohne das Camouflage-Make-up würde ihre Haut von der Nase bis unter die Augen blau leuchten.

Die Queen of Pain zeigte ihr Wer’s-glaubt-wird-selig-Gesicht, sagte aber nur: »Dann ist es ja gut.«

Die Tote im Dominastudio

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