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»I’m on the Highway to Hell.« Erst das dritte Klingeln ihres Telefons riss Daniela Wackernagel in der Nacht von Samstag zu Sonntag aus dem Schlaf. »Mhm?«

»Kajira – zu mir!« Die Stimme war leise, präzise, hart.

Sie kratzte sich am Hals. »Was?« Das frische Tattoo, ein blutender Stacheldraht, juckte wie die Hölle. Daniela starrte auf die Digitaluhr neben sich auf der Doppelmatratze. 3 Uhr 21. Benommen von der Schlaftablette, die sie vor zwei Stunden eingeworfen hatte, kapierte sie nicht, wer der Anrufer war.

»Beweg deinen fetten Arsch, Kajira! Sofort! Oben! Die Schlafklamotten bleiben an. Hausschuhe sind erlaubt.« Ein britischer Akzent färbte die Sprache des Mannes – aus seinem Mund klangen selbst obszöne Worte Mund kultiviert. Wie unter einem Stromstoß schnellte Danielas langer Oberkörper in die Höhe. Sie schaute von ihrem Hochbett aus dem Fenster – über das Dach des zur Hälfte im Krieg weggebombten Nebenhauses. Das rote Geländer der Brücke zum Volkspark Humboldthain, der sich in der Nacht versteckte, konnte sie nur erahnen. Ein Zug ratterte über die Bahngleise am Gesundbrunnen.

Daniela presste das Mobiltelefon ans Ohr. Sie wollte seine dunkle Stimme in sich aufsaugen. Gabriel von Regenstein – endlich! Er hatte sie seit der letzten Session quälende zehn Tage lang warten lassen. Dark Raven - der göttlichste Dominus der Stadt. Toller Body, jede Menge Kohle. In der Szene ging das Gerücht um, er habe ein Pferdegestüt in Brandenburg und stamme aus dem englischen Rittergeschlecht der Lords of Rainstone. Ein Gentleman-Sado, ein Wohltäter, the one and only. Und sie, die kleine Kunststudentin Daniela Wackernagel, 23, war seine Kajira, seine Sklavin. Gabriel hatte den Namen von John Norman entliehen. In dessen Fantasy-Zyklus rund um die »Gegenwelt« Gor wurden Sklavinnen generell als Kajirae bezeichnet.

»Ich fliege, Herr und Meister!«

Das Handy antwortete mit einem stoischen Tuten.

Daniela stieg die schmale Leiter hinunter. Ihre Beine zitterten. Ein paar Pillen würden das Problem im Handumdrehen lösen. Große Füße tasteten nach billigen Badelatschen. Darf ich es wagen, Strümpfe anzuziehen? Besser nicht.

Daniela blinzelte in die Deckenlampe. An den Raufaserwänden ihres einzigen Zimmers hingen unzählige mit Reißzwecken angepinnte Bleistiftzeichnungen – Karikaturen in unterschiedlichen Größen, auf Pappe, Papier, Stoff, gerade geschnitten, am Rand ausgerissen, zerfasert, ohne die rigide Ordnung, die ansonsten in der Wohnung herrschte. Keine Familienfotos. Daniela schlurfte in die kleine Küche.

Schräg unten in der Erdgeschosswohnung am Eingang flimmerte Fernsehlicht. Hausmeister Charly konnte mal wieder nicht pennen. Sie kramte in einer Schublade nach der Ephedrin-Packung.

In dem fensterlosen Minibad wusch sich Kajira den Schlaf aus ihrem runden Gesicht. Sie legte sich das Hundeband aus dickem Leder um den Hals. Zärtlich strich sie über die vier Metallösen, die in jeder Himmelsrichtung angebracht waren. Ihr persönliches Sklavenattribut. Ein Geschenk von Dark Raven. Das Schlafhemd schlackerte um die Taille, lag locker auf ihrem Apfelpo. Der linke Ärmel verdeckte den Kopf eines mehrfarbigen Frau-steht-vor-einem-Buddha-Tattoos, das bis zu ihrer Hand reichte.

Kajira zog den verbeulten Trenchcoat vom Haken an der Wohnungstür. Ihre Hände flatterten in der Luft. Die langen Haare, die aussahen wie das Gefieder eines Raben, knisterten, als das Mädchen sie aus dem Kragen des Mantels holte. Daniela färbte ihren karottenroten Schopf regelmäßig, bearbeitete die verhassten Locken mit einem Plätteisen. Sie hatte ein Faible für die Sängerin der Indie-Rockband Jennifer Rostock zu Zeiten deren Bandgründung. Ich muss mich beeilen. Gabriel, geliebter Gebieter! Wenn er sich meldete, war es, als würde sich ihr dummes, nutzloses Ich auflösen und Platz machen für etwas Schillerndes, Aufregendes. Kajira wurde springlebendig wie ein Wasserfall. Die Sklavin genoss die Unterwerfung.

Daniela griff nach dem Autoschlüssel, stieg drei Stockwerke nach unten, rannte durch den Hinterhof. Sie betrat die Böttgerstraße. Ihr Blick blieb wie häufig in den letzten Wochen am Haus gegenüber hängen. Im Parterre glomm das Ende einer Zigarette im dunklen Fenster auf. Eine Rauchschwade zog in das Licht der Straßenlaterne. Ein Auto kroch an dem Haus vorbei. Die Scheinwerfer beleuchteten den nackten Oberkörper eines muskulösen Mannes, streiften sein Gesicht, einen struppigen Kinnbart. Daniela sah die Verwitterung in den Zügen des Kerls. Wieso habe ich ständig das Gefühl, dass der Typ mich beobachtet? Mit schnellen Schritten lief die junge Frau am Magic Mountain vorbei. Sie war Stammgast auf der 2.500 Quadratmeter großen Indoorfläche. Klettern kickte, wenn ihr Leben an einem Sicherungsseil hing; der Körper über dem Abgrund in Schweiß gebadet; alle Sinne hellwach. Richtig abgefahren fand Daniela die Wand im Humboldthain. Der ehemalige Berliner Naziflakbunker konnte wegen der nahe vorbeiführenden S-Bahn nicht ganz gesprengt werden. Ein Verein hatte für seine fortgeschrittenen Mitglieder die Nord-West-Seite zu einer der größten Sportkletteranlagen in Deutschland umfunktioniert: Tritte, Griffe und Haken auf einer glatten Betonstruktur. Nichts für Warmduscher.

Und dann war da noch der Untergrund. Im Volkspark Humbolthain wurde aus 1,5 Millionen Kubikmetern Trümmer und Erde ein Mont Klamott. Diesen Teil des Ruinenbergs konnten Touristen begehen. Apokalyptische Katakomben, in denen Dark Raven seine Spiele trieb. Der Teufel allein wusste, wie er dem Betreiber einen Schlüssel für den Zugang seiner Hölle am Gesundbrunnen abluchsen konnte. SM-Clubs waren Kindergärten dagegen. Die Erinnerung an ein paar hammergeile Sessions, die sie dort mit ihrem Sado genießen durfte, trieb Daniela einen Schauer über die Haut. Das Mädchen mochte es, wenn ihr Spielpartner die Regie übernahm, sie von jeder Verantwortung entband. Kajira lieferte sich gern bedingungslos aus; mit jeder Faser ihres Körpers, alle Sinne auf Empfang; nicht denken, nur sein. Das Ego löst sich auf, zerfließt - pure Energie, die auf Wellen aus Schmerz und Lust reitet: mächtig, magisch. Nur Gabriel kann mir diesen Kick verpassen.

Daniela ging auf ihren altersschwachen Mini zu, spürte nichts, weder den Wind, der ihr entgegenschlug, noch die Kälte, die den schutzlosen Körper unter dem offenen Mantel traf. Die Rostlaube brauchte drei Anläufe. Daniela schlug auf das Lenkrad ein. Endlich sprang die Karre an. Daniela schaltete Heizung und Scheibenwischer ein.

Den Weg nach Grunewald fand sie trotz Nieselregen im Schlaf. Der Ortsteil im Berliner Westbezirk Charlottenburg-Wilmersdorf war nach dem gleichnamigen Forst benannt worden. Die Stadtvilla ihres Herrn und Meisters stand im teuersten Viertel der Metropole – im Gedenken an das Jagdschloss Grunewald. Am zweiten Januarsonntag des Jahres 1891 sollen sich dort Mitglieder des Kaiserhofs zu einer wilden Sexnacht versammelt haben. Daniela grinste. Lord Gabriel von Regenstein war verrückt nach adligen Traditionen.

Die Wischblätter quietschten auf der Frontscheibe des Minis.

Die Tote im Dominastudio

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