Читать книгу Die Tote im Dominastudio - Isabella Bach - Страница 19
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ОглавлениеGEFÜHLTE STUNDEN später trommelten Danielas Füße rastlos auf den Boden. Na toll! Was ist der Zweck dieser langweiligen Nummer? Sie sah das finstere Gesicht des Dunklen Raben vor sich, die beiden steilen Falten auf seiner Stirn. »Du kennst die Regeln, Sklavin. Ich bin dein Abgrund, und solange du mein Eigentum bist, sind Fragen nach dem Warum verboten!«
Kajira unterdrückte ein Seufzen. Okay, wenn es Ihnen Vergnügen bereitet, mich hier verschimmeln zu lassen … Sie schlang die Arme um ihre Beine. Was Gabriel wohl gerade oben macht? Er könnte das Haus verlassen, ohne dass ich es merke. Hat er mich vergessen? Ihr Herz hämmerte gegen die Brust. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, stieß sie gegen die Wand. Die Haut über den Fingerknöcheln riss auf und blutete. Das brachte sie zur Besinnung. Mein Herr und Meister stellt mich auf die Probe. Er führt mich an meine Grenzen; prüft, was ich für ihn aushalten kann. Für ihn zu leiden ist meine Aufgabe. Ich darf ihn nicht enttäuschen. Sie wiegte den schweißnassen Körper vor und zurück. Das Mantra beruhigte ihren Puls.
Bilder stiegen in ihr auf, Schnappschüsse von einem Bauernhof im Allgäu. Vor dem inneren Auge der Sklavin tauchte ein weißer Esel auf: Stinker, der sich im Sommer für sein Leben gern mit den Schweinen im Schlamm wälzt. Daniela spritzt ihn mit dem Schlauch ab. Der Esel hüpft in den Wasserstrahl, schreit vor Freude und verdreht glückselig die Augen. Das Mädchen bürstet Stinkers Fell trocken. Die warmen Nächte verbringen sie zusammen im Stall.
Daniela ist schon sieben, wird aber erst nächstes Jahr in die Schule gehen. Am Geburtstag ihres Vaters lugt der junge Esel aus dem Stall, bläht die Nüstern auf und trabt zielstrebig auf die Küchentür an der Rückseite des Hauses zu. Daniela läuft hinter ihm her. Lange rote Locken springen um ihr Gesicht. »Stinker, nein, das darfst du nicht!«
Der Esel lässt sich nicht beirren. Ehe das Mädchen ihn erreichen kann, schiebt seine Nase den Riegel nach oben. Sein Kopf drückt die Tür auf. Daniela stemmt ihren mageren Körper gegen den Esel. Zieht mit all ihrer Kraft an seinem Hals. »Bitte, hör doch! Wir bekommen einen Haufen Ärger.«
Vergeblich – Stinker hat nur ein Ziel. Im nächsten Moment gräbt er sein Maul in den frischen Hackbraten auf dem Mittagstisch. Er kaut genüsslich, reagiert nicht auf Danielas Betteln. Als die Eltern den Raum betreten, hat der Esel bereits zwei von den drei im Fleisch versenkten Eiern verdrückt. Vater ist ebenso feingliedrig wie Daniela. Die Mutter hat Hände und Füße so breit und kräftig wie Biberschwänze. Und die Tochter weiß, was der Blick, mit dem die grobe Frau ihren einzigen Freund fixiert, bedeutet. Hilflos sieht das Mädchen zu, wie die Mutter Stinker schlägt und nach draußen tritt. Der Esel schreit empört auf. Daniela schießen Tränen in die Augen. Sie dreht sich zu ihrem Vater um. Er steht regungslos in der Küche und hat diesen weltvergessenen Ausdruck im Gesicht, den das kleine Mädchen von Herzen hasst. Mutter treibt das Tier über den Hof zur Stallwand. Aber dieses Mal scheint ihre Wut größer zu sein als sonst. Plötzlich hält sie eine lange, von Öl glänzende Bullenpeitsche in der Hand. Das kleine Mädchen sinkt zwischen ihr und Stinker auf die Knie. »Bitte nicht!«
Die Mutter hebt den Arm. »Aus dem Weg! Wer nicht hören will, muss fühlen!« In ihren Augen steht nicht nur grenzenloser Zorn, sondern auch etwas, das das Kind nicht deuten kann. Aber Daniela begreift, dass sie nur überlebt, wenn sie gehorcht. Der Vater ist im Haus geblieben. Die Schläge krachen zwischen den Mauern wie Pistolenschüsse. Der Körper des Mädchens erstarrt. Wenige Augenblicke später bricht der einzige Freund auf dem Hof zusammen. Seine Schmerzensschreie weichen einem qualvollen Stöhnen. Die Mutter wendet sich ab, wischt die Peitsche sorgfältig unter fließendem Wasser sauber und hängt sie zurück an den Haken in der Scheune. Dann geht sie wortlos zurück ins Haus.
Die Hiebe haben Stinkers weißes Fell aufgerissen. Das Blut sickert noch minutenlang aus den Striemen. An diesem Nachmittag schneit es das erste Mal in diesem Winter.
Eine Stunde später findet der zwölfjährige Heiko Daniela unter einem summenden Teppich aus Schnee und Fliegen. Das kleine Mädchen wirkt, als wäre es mit dem Esel verwachsen. Heiko karrt sie in einem Leiterwagen zum Nachbarhof. Daniela überlebt die Lungenentzündung nur, weil der Dorfarzt zu dieser Stunde Honig bei Heikos Mutter kauft. Nach drei Wochen kehrt das Mädchen zurück. Die Eltern sind schweigsame Leute, und sie halten nicht viel von Körperkontakt.
Kajira stöhnte in der Erinnerung auf. Ihre Kehle war ausgedörrt. Der Magen knurrte. Sie hatte keine Tränen. Gabriel, Geliebter, wo bist du? Der Druck auf ihrer Blase wurde unerträglich. Da sie keine Wahl hatte, erleichterte sie sich in einer Ecke.
Daniela kringelte sich in der Embryohaltung zusammen. Sie spürte, wie die Urinlache ihr Knie berührte und an ihrem Oberschenkel entlang kroch. Die junge Frau konnte nicht ausweichen, war müde. Die Stille kreischte.
Heikos schmales Gesicht schob sich vor ihr inneres Auge.
Als 13-Jährige hatte sie einmal mit ihm geschlafen, im Wald. Sie spürte nichts, nur das Brennen der Mückenstiche an ihren Beinen. Daniela wollte, dass er sie schlug. Der 18-Jährige wich vor ihr zurück. Den Mund weit aufgerissen, hielt er beide Hände mit den Außenflächen vor seinen Körper. Seine Augen schwammen in Tränen, als er ging.
Daniela zettelte im Dorf immer wieder Prügeleien an, verließ mit 16 den Hof ihrer Eltern. Jahre lang hatte das Mädchen mit jedem Sex, der sie wollte. Sich eigenhändig mit einem scharfen Gegenstand zu verletzen, war keine Option. Sobald sie Blut sah, fiel sie in Ohnmacht. Daniela brauchte jemanden, der ihr wehtat, damit sie spürte, dass sie am Leben war.
Dark Raven erlöste sie vor achtzehn Monaten von ihrer ewigen Gier nach dem Kick. Er war der Kick, ihr perfekter Herr und Meister. Kajira spürte, dass Gabriel ihren Schmerz brauchte wie ein Junkie. Irgendetwas in seiner Kindheit hatte ihn tief verstört. Sie fühlte sich mit ihm verbunden. Liebster, ich klage nicht, harre im Schoß der Finsternis aus – für dich, Dunkler Rabe; aus Liebe. Ihre Augen suchten nach Licht, nach einer winzigen Hoffnung. Ihre Zunge fühlte sich in der Mundhöhle an wie Schmirgelpapier: trocken und hart. Der Magen krampfte sich vor Hunger zusammen. Daniela dachte an den Hackbraten ihrer Mutter, an Stinker. Herr und Meister, ich schenke dir meinen Schmerz. Einsamkeit drückte die Sklavin wie eine schwere Decke auf den Boden. Raum und Zeit lösten sich auf.