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Verwandten-Selektion: „Meine Religionsgemeinschaft ist eine Familie, in der einer für den anderen sorgt.“

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Eine soziale Gruppe muss im Umgang mit der Grenze zur Außenwelt geschickt sein, wenn sie überleben will. Wenn man nicht erkennen kann, wer zur eigenen Gruppe gehört und wer nicht, hört die Gruppe auf zu existieren. Religiöse Gruppen scheinen sich auf Mechanismen der Verwandten-Selektion zu gründen, die vor Urzeiten bereits Bestandteil menschlicher Soziobiologie geworden sind. Neurologische Bahnen, die der Selektion von Verwandten zugrunde liegen, arbeiten nach einfachen Schemata zur Unterscheidung von biologischen Merkmalen unter Familienangehörigen wie Gesichtszügen oder Gerüchen (Daly & Wilson 2005). Die sozialen Prozesse von Religionsgemeinschaften scheinen in der Lage zu sein, diese neuronalen Systeme einzusetzen, indem sie die Erfahrung einer „Familie“ durch Familienmetaphern und sprachliche Bilder wie „Bruder“, „Schwester“ und „Vater“ hervorrufen, die sie für Gruppenmitglieder verwenden. Crippen und Machalek (1989) haben Religion als einen „überhöhten Verwandtschaftserkennungsprozess“ beschrieben, bei dem die „Mechanismen der Verwandten-Selektion ‚usurpiert‘ werden, um Gemeinschaften aus fiktiven Verwandten zu bilden“ (S. 68), die wiederum den Einzelnen dazu bringen, „seine scheinbaren Eigeninteressen den von der Gemeinschaft geäußerten Interessen herrschender Vertreter unterzuordnen“ (S. 70). Kirkpatrick (2005) hat festgestellt, dass Glaubensüberzeugungen „eine Art kognitiven Irrtum“ darstellen, „bei dem psychologische Mechanismen fälschlicherweise nicht verwandte Mitglieder innerhalb der Gruppe als Verwandte erkennen, ähnlich wie unsere Geschmacksmechanismen dazu verführt werden können, Softdrinks oder Kartoffelchips zu mögen, die mit künstlichen Süßstoffen und Fettaustauschstoffen aromatisiert wurden“.

Eine gemeinsame religiöse Sprache und gemeinsame Praktiken können also eine Bezugsgruppe herstellen, deren Mitglieder Privilegien und Aufmerksamkeit genießen, die denjenigen außerhalb der Gruppe nicht zugestanden werden. Gerade in fundamentalistischen Religionen geht es zum großen Teil darum, eine Bezugsgruppe zu bilden und zu verteidigen, die durch spezifische Überzeugungen und Praktiken definiert ist und diejenigen, die sich nicht daran halten, in den Außenseiterstatus zu verbannen. Der Fundamentalismus ist also eine religiöse Form, bei der die Koalitionspsychologie über andere Arten von psychologischen und sozialen Absichten dominiert (Kirkpatrick 2005).

Dies ist vermutlich die beste Erklärung für die erstaunliche Beobachtung, dass das Verhalten in religiösen Traditionen, die auf einer Ethik des Mitgefühls, der Barmherzigkeit und der Nächstenliebe gründen, dennoch von einem Moment zum andern in Feindseligkeit, Bedrohung und Gewalt gegenüber denjenigen, die nicht Mitglieder der Religionsgemeinschaft sind, umschlagen kann. Wie Primo Levi in Auschwitz beobachtete, können „Mitgefühl und Brutalität in ein und demselben Individuum und in ein und demselben Moment existieren, entgegen aller Logik“ (Levi 1988). Jene, die außerhalb der Religionsgemeinschaft stehen – Fremde, Heiden, Ungläubige, Juden oder Nichtjuden –, brauchen nicht als vollwertige menschliche Wesen angesehen zu werden. Und wenn das so ist, empfindet man keine Schuld, wenn man sie misshandelt.

Religion hilft, Religion schadet

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