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Krankmachende religiöse Verhaltensweisen verstehen
ОглавлениеEine soziobiologische Sichtweise hilft dem Kliniker, die rätselhaften kognitiven und emotionalen Sichtweisen zu begreifen, die möglicherweise sonst nicht aufgenommen werden, wenn Patienten eine ausgeprägte religiöse oder ideologische Identität aufweisen. Kapitel 6 erweitert diese soziobiologische Diskussion um die Erklärung, wie Patienten, die dicht geschlossenen religiösen oder ideologischen Gruppen angehören, in der Lage sind, mit einem doppelten Selbst zu operieren – einem öffentlichen, soziobiologischen Selbst und einem privaten, persönlichen Selbst –, von denen jedes sein eigenes, festgeschriebenes Bewusstsein, seine Sensibilitäten, Werte und Absichten hat. Nur das soziobiologische Selbst kann in einer therapeutischen Begegnung offenbart werden. Dieses soziobiologische Selbst reagiert besonders sensibel auf die Handlungen des Therapeuten, wenn sie etwas berühren, was mit Bindung, Gemeinschaftsbildung, Verwandten-Selektion, sozialer Hierarchie und sozialem Austausch zu tun hat. Ein solches Verständnis kann eine entscheidende Orientierung für den Umgang mit Patienten und für die Planung therapeutischer Interventionen bieten.
Die Einschätzung, ob die Bereiche der persönlichen Spiritualität in der Religiosität eines Patienten vorhanden oder nicht vorhanden sind, ist der Schlüssel für die Einschätzung der Risiken für potenziellen Schaden. Diese Einschätzung balanciert auf einem schmalen Grat zwischen dem Eingreifen aus gerechtfertigten klinischen und ethischen Gründen und dem Respektieren des Rechts eines Patienten darauf, seinen Glauben auf seine Art zu praktizieren. Manchmal ist der destruktive Gebrauch der Religion so offensichtlich, dass es kaum einer Diskussion bedarf, wie bei religiösen Begründungen für rassistische Handlungen oder häuslicher Gewalt. Eine ethische oder gesetzliche Verpflichtung, Kontrolle auszuüben, ist dann gegeben, wenn es ein akutes Risiko für Verletzungen gibt, wie bei der Androhung von Selbstmord oder Gewalt. Häufig sind die schädlichen Auswirkungen weniger extrem und subtiler. Dann versucht man am besten, den Patienten als Komplizen zu gewinnen, um die Folgen abschätzen zu können, die sein religiöses Verhalten für seine eigene Person oder für andere hat.
Die Rolle des Therapeuten ist die eines Beraters, der den Patienten bei seinen moralischen Entscheidungen unterstützt. Der Therapeut hat das Ziel, dem Patienten zu helfen, moralische Impulse aus der persönlichen Spiritualität wahrzunehmen, die helfen können, ethische Unterscheidungen zu begründen. Ein Wissen um die spirituellen Bereiche, die die Religion in dem Leben eines Menschen eröffnen sollte, kann hier die Einschätzung leiten. Spezielle Fragen können helfen zu unterscheiden, ob die religiösen Praktiken die Beziehungsdimension der Spiritualität fördern. Zu diesen Fragen gehören:
Fördert das Bindungsverhalten des Patienten gegenüber seinem Gott Sicherheit oder Unsicherheit?
Wecken die religiösen Begegnungen mit dem Heiligen Furcht oder Aggression oder regen sie zu Nachdenken und Kreativität an?
Haben die Interaktionen mit den anderen innerhalb der religiösen Gruppe des Patienten einen dialogischen oder monologischen Charakter? Das heißt, kann eine Person davon ausgehen, dass sie ohne Rücksicht auf Rolle oder Status sprechen kann, gehört und verstanden wird und dass die Sichtweise des Einzelnen innerhalb der Gruppe ernst genommen wird? Wie wird die Person, die am wenigsten Macht hat, behandelt?
Welche Art von Person würde sich in dieser Versammlung leicht unbehaglich oder schlecht fühlen?
Wie werden Personen in Außengruppen angesehen? Werden sie in der Praxis als vollwertige menschliche Wesen respektiert und geschätzt?
Werden ethische Entscheidungen davon geleitet, ob eine Person gleich als zu der Gruppe gehörend erkannt wird oder nicht?
Die Glaubenspraxis sollte außerdem existenzielle Haltungen wie Integrität, Hoffnung, Gemeinschaft, Verantwortung, Sinn, Engagement und Dankbarkeit unterstützen. Diese existenziellen Grundhaltungen sind wesentlich für die Sorge für das eigene Selbst in schwierigen Situationen. Die rote Sorgenflagge wird gehisst, wenn nicht dies die Früchte der religiösen Praxis sind, sondern stattdessen Verwirrung, Verzweiflung, Isolierung, Hilflosigkeit, Sinnlosigkeit, Ablehnung oder Hass (Griffith & Griffith 2002) auftreten. Ein Kliniker kann danach fragen, wie gut die existenziellen Haltungen gestützt werden von der Art der Beziehung, die ein Mensch zu seinem Gott hat, der Gemeinschaftsbildung innerhalb der religiösen Gruppe, der Verbundenheit mit außerhalb der Gruppe Stehenden und einem ethischen Handeln, das auf angemessene Erwartungen für sozialen Austausch gründet.
1 Diese spirituellen Themen sind in „Encoutering the Sacred in Psychotherapy“ (Griffith & Griffith 2002, Kap. 1) ausführlicher diskutiert worden.