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Spiritualität und das Wohl des Einzelnen
ОглавлениеDas Leiden des Einzelnen zu lindern ist eine Mission der Religion, die unabhängig von ihren Verbindungen zu der Soziobiologie entstanden zu sein scheint. Zwischen 800 v. Chr. und 700 n. Chr. traten charismatische religiöse Führungsgestalten auf, die dazu beitrugen, den Schwerpunkt der Religion von archaischen Stammesriten auf das moralische Selbstbewusstsein des Individuums zu verlagern (Barnes 2000, 2003; Armstrong 1993). Diese religiösen Führungsgestalten bemühten sich, die institutionalisierten religiösen Praktiken von der persönlichen religiösen Erfahrung des Einzelnen zu trennen, bei der es um den Glauben, religiöse Praktiken und eine gemeinschaftliche Lebensweise ging, die das Leiden Einzelner linderten. Sie verschoben das Interessengebiet der Religion von dem Wohlergehen der Gruppe auf das Innenleben des Einzelnen. Die Frucht ihrer Mühen war das Entstehen einer persönlichen Spiritualität als einer Form der Religion, in der die durchlebte Erfahrung des einzelnen Menschen den ersten Rang einnimmt.
Innerhalb kurzer Zeit bildete sich weltweit an verschiedenen Orten eine persönliche Spiritualität aus. Lao-Tse, ein Geschlecht hebräischer Propheten, Jesus Christus, Buddha und Mohammed gehörten zu den Religionsstiftern, die neue religiöse Glaubensformen und -praktiken vorstellten und die älteren neu interpretierten. Jede dieser innovativen religiösen Bewegungen besteht bis heute und ist eine Quelle der Inspiration für einzelne Menschen, denen es um persönliche Seelenruhe und Mitgefühl mit anderen geht. Diese religiösen Neuerungen, die mehr durch moralische Reflexion als durch soziobiologische Notwendigkeiten motiviert sind, wurden allgemein als Spiritualitäten bezeichnet. Diese Spiritualitäten wurden zum Teil von späteren Generationen von Anhängern ergänzt und reinstitutionalisiert. Sie behielten den Namen bei, machten den Inhalt aber konkreter und greifbarer. Und auch sie haben die Zeiten überdauert, indem sie nach wie vor das moralische Bewusstsein, die Selbst-Reflexion und das persönliche Wachstum ihrer Gläubigen gestärkt haben.
Der stärkste religiöse Aufbruch fand in der Zeit zwischen 800 und 200 v. Chr. statt, die Karl Jaspers (1949) die Achsenzeit nannte. In „A History of God“ beschrieb Karen Armstrong (1993) die religiösen Umwälzungen dieses historischen Zeitalters folgendermaßen:
Mitleid war ein Charakteristikum der meisten Weltanschauungen, die während des Achsenzeitalters geschaffen wurden. Das Ideal des Mitgefühls bewegte selbst Buddhisten zu einer wesentlichen Veränderung in ihrer religiösen Orientierung, indem es sie bei ihrem Buddha und den bodhisattvas die Demut (bhakti) einführen ließ. Die Propheten beharrten darauf, dass Kult und Gottesdienst wertlos waren, wenn nicht die Gesellschaft als Ganzes eine gerechtere und mitfühlendere Gesinnung annahm. Diese Erkenntnisse wurden von Jesus, Paulus und den Rabbinern weiterentwickelt, die alle dieselben jüdischen Ideale teilten und wesentliche Veränderungen im Judentum einführten, um diese umzusetzen. Der Koran machte die Ausbildung einer mitfühlenden und gerechten Gesellschaft zum Zentrum der reformierten Religion Allahs. Mitgefühl ist eine ganz besonders schwierige Tugend. Sie verlangt, dass wir die Grenzen unseres Egoismus, unserer Unsicherheit und unserer von früheren Generationen übernommenen Vorurteile überschreiten.
Spirituelle Richtungen, die mit dem Taoismus, dem Judentum, dem Christentum, dem Islam, dem Buddhismus und anderen Traditionen verbunden sind, hatten wichtige Themen gemeinsam. Diese Themen sind auch für die Arbeit jüngerer spiritueller Führungsgestalten entscheidend gewesen, von Mahatma Gandhi bis hin zu Mutter Teresa und Martin Luther King1:
1. Ausrichtung auf den ganzen Menschen. Spirituelle Richtungen stellen die Verbindung „von Person zu Person“ in den Vordergrund, was also bedeutet, dass das Öffnen der eigenen Person und das vollständige Eingehen auf den anderen als Person kennzeichnend dafür ist, obwohl man die Unterschiede anerkennt. Unterschiede im Hinblick auf gesellschaftlichen Status, Klasse, Rasse, Geschlecht oder weitere gesellschaftliche Kategorien werden beiseitegeschoben. Die Verbindung von Person zu Person fördert einen Dialog, in dem gesprochen und zugehört, gehört und nachgedacht wird. Unterschiedliche Sichtweisen können ausgesprochen und nebeneinander gestellt und mit Respekt betrachtet werden. Diese Verbindung hat Martin Buber als „Ich-Du“-Beziehung anstelle von „Ich-Es“-Beziehung beschrieben (Buber 1958). Emmanuel Levinas hat ein derartiges Gespräch zwischen Individuen als „Beziehung von Angesicht zu Angesicht“ charakterisiert, die in ihrer Ethik nach einem außerhalb des Seins liegenden Gut sucht (Levinas 1961). Der Anthropologe Victor Turner (1969, 1974, 1982) beschrieb dies als einen sozialen Prozess der „Communitas“, der bei der Teilnähme an einem Ritual auftrete, wenn Unterschiede durch soziale Hierarchien und Grenzen aufgehoben werden, eine starke Wahrnehmung der Bindungen, die Menschen miteinander verbinden, wird spürbar, bei der „die Menschen in ihrer Ganzheit ganz gegenwärtig sind“ (Turner 1969).
2. Sich ganz einer Ethik des Mitgefühls verschreiben. Selbst die am meisten nach innen gerichtete Spiritualität mündet logischerweise in eine Ethik des Mitgefühls gegenüber anderen menschlichen Wesen. Dieses Mitgefühl bedeutet, dass man auf das Leid eines jeden anderen Menschen mit Verständnis, Hilfe und dem Bemühen zu heilen und zu schützen reagiert, ohne auf den sozialen Status zu achten. In manchen spirituellen Richtungen wird diese Ethik des Mitgefühls auf alle lebenden Kreaturen ausgedehnt (Armstrong 1993).
3. Mitfühlendes Sorgen für sich selbst. Das Mitgefühl für andere wird in den meisten spirituellen Richtungen wiederum auf das eigene Selbst ausgedehnt. Dieses Mitgefühl, das man mit anderen teilt, ist etwas anderes als die narzisstische Sorge um sich selbst, die auf eine Gleichgültigkeit gegenüber anderen aufgebaut ist. Mitgefühl und Sorge für das eigene Selbst mildern die persönliche Verwundung und unterbrechen den Kreislauf von Rache und Vergeltung.
4. Emotionale Haltungen der Widerstandskraft. Ein typisches Merkmal spiritueller Lehren ist es, dass sie Integrität, Hoffnung, Sinn, Dankbarkeit, Freude und andere existenzielle Haltungen hervorbringen, die die persönliche Belastbarkeit angesichts von Bedrohung, Unsicherheit und Leid verstärken (Griffith & Griffith 2002).
5. Begegnungen mit dem Heiligen als persönliche, sinnstiftende Erfahrungen, die Reflexion, moralisches Denken und Kreativität anregen. In einem exemplarischen Sinn wird das Heilige als der Bereich angesehen, in dem menschliche Begegnungen mit übermenschlichen Mächten stattfinden, wo das Handeln übernatürlicher Kräfte, Götter, Geister oder eine transzendentale Wirklichkeit angesiedelt ist. In der Spiritualität führen derartige Erfahrungen eher zu persönlicher Reflexion als zu dem Versuch, die Macht des Heiligen dazu zu benutzen, andere Individuen durch Magie zu kontrollieren, wie es in primitiven Religionen oder Gesellschaften der Fall ist, oder aber zu herrschen oder Gegner zu bekämpfen, wie es oft in klassischen Religionen geschehen ist.
6. Das Wohlergehen einzelner Personen, sei es die eigene Person oder eine andere, hat Vorrang vor den Bedürfnissen religiöser Gruppen. Spiritualität ist personenbezogene Religion.
Diese sechs spirituellen Themen sind nur eine Auswahl derjenigen, mit denen sich Theologen und Religionspsychologen beschäftigen. Sie umfassen jedoch einen großen Teil dessen, was schnell zu Problemen führt, wenn es in der Religion nicht vorhanden ist. Auf diese sechs Themen zu achten hilft aufzuzeigen, was fehlt, wenn das religiöse Leben einzig über seine soziobiologischen Programme definiert wird.
Im Zusammenhang damit decken diese Themen die gesamte Spanne menschlicher Bezogenheit auf das Selbst, auf andere und auf das Heilige ab. Bezogenheit existiert sowohl interpersonell wie auch intrapersonell, sowohl zwischen Menschen als auch innerhalb des eigenen Selbst. Bezogenheit auf die Person als Ganzes und eine persönliche Ethik des Mitgefühls werden hauptsächlich auf interpersonale Gebiete gelenkt. Begegnungen mit dem Heiligen, Mitgefühl und Sorge für das eigene Selbst und das Ausbilden existenzieller Haltungen der Belastbarkeit arbeiten größtenteils intrapersonell. Die Vorrangigkeit des Wohlbefindens eines Einzelnen gegenüber den Gruppenbelangen ist eine ethische Haltung, die sich sowohl auf interpersonelle als auf intrapersonelle Bereiche von Beziehungen erstreckt. Die Botschaft der Spiritualität lautet, dass es in der Religion um Bindung geht, an das eigene Selbst, an andere Menschen oder an das Göttliche. Wie Fürst Myschkin, Dostojewskis Vertreter der Spiritualität, es ausdrückt, scheint es oft „nur so, als wären keine Berührungspunkte vorhanden, in Wirklichkeit sind sie aber da … Das kommt von der Trägheit der Menschen, weil sie sich gegenseitig nach dem bloßen Augenschein einordnen und nichts finden können …“ (Fjodor M. Dostojewski, Der Idiot, 1868/1976,).
Diese Gebiete der Spiritualität machen deutlich, wie Religion mit der sozialen Wahrnehmung umgeht. Die soziobiologische Religion, aber nicht die persönliche Spiritualität ist geprägt von Unterscheidungen, die über die Wahrnehmung gesteuert und durch verschiedene soziobiologische Systeme reguliert werden. Die persönliche Spiritualität dagegen ist hauptsächlich über die Wahrnehmung geprägt, die die Einstimmung auf die emotionalen Zustände einzelner Personen einbezieht.