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Kapitel 6

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Frühstück ist ein völlig unzureichender Begriff für das, was momentan in der Kaffeebude der Polizeiwache Gütersloh stattfand. Alle vier Kochplatten der Einbauküche im rückwärtigen Teil des Raumes arbeiteten auf Hochleistung. Franzl Horstmann, der mit Uniform und geblümter Schürze ein sehr kurioses Bild abgab, hatte zudem im Flur seine 80er Paellapfanne aufgebaut, in der gerade ein Dutzend Spiegeleier umeinander schlinderten. Frühstücksspeck, Lauchzwiebeln und Möhrenstifte brutzelten einträchtig neben Nürnberger Würstchen und Datteln im Speckmantel. Der mächtige, doppelflammige Gasbrenner, gefeuert von einer 11-kg-Propangasflasche, machte ordentlich Dampf. Undenkbar in einem normalen Polizeigebäude, aber in der alten Fabrik mit fünf Metern Deckenhöhe kein Problem, nicht mal die Rauchmelder sprangen an.

Auf dem Tisch türmten sich Brötchenkörbe, Obstschalen und drei bis vier Marmeladensorten. Aufschnitt und Käse suchte man hier vergebens. Im Hinblick auf den Inhalt von Pfannen und Töpfen brauchte das heute kein Mensch. Es gab aber Fruchtsäfte, Joghurt, starken schwarzen Tee und mehrere Kaffeekannen. Der Duft, der von hier seinen Ausgang nahm, um durch die offene Tür und das Treppenhaus seinen Weg in die oberen Etagen und damit in die Büros von Kripo, Stab und Verwaltung zu nehmen, war so gewaltig, dass er schon verschiedentlich zu heftigen Beschwerden geführt hatte. Etliche Kollegen und Kolleginnen des Innendienstes hatten es als Belästigung am Arbeitsplatz, ja sogar als leichtere Form der Körperverletzung empfunden, wenn sie mit leerem Magen diesen massiven Reizen ausgesetzt wurden. Auch in den angrenzenden Gewahrsamszellen waren die Wohlgerüche noch deutlich wahrzunehmen. Um hier nicht in den Verdacht menschenunwürdiger Behandlung oder gar unerlaubter Vernehmungsmethoden zu geraten, war einigen Insassen verschiedentlich schon ein Teller Gebratenes zuteilgeworden, freilich nur bei vorbildlichem Betragen und unter Abnahme des heiligen Versprechens, jetzt nicht nur wegen des guten Essens vermehrt den Aufenthalt im Polizeigewahrsam anzustreben.

Sonntags hatten die Läden zu, da war man auf Selbstverpflegung angewiesen. Und Franzl Horstmann nahm als Wachdienstführer seine Fürsorgepflicht sehr ernst. Punkt zehn Uhr wurde zum Brunch geblasen, das war eisernes Gesetz. Wehe dem armen Wicht, der sonntags zwischen zehn und elf Uhr das Pech hatte, einen Auffahrunfall zu verursachen. Er lief Gefahr, wenig zuvorkommend bedient zu werden. Doch heute blieb es ruhig. Der Bürger schien genau so entspannt zu sein wie die Staatsmacht.

Nein, die Störung kam von einer anderen, völlig unvermuteten Seite. Die Tür flog auf und herein trat Polizeirat Dr. Sönke Meier-Wirsing. War es schon äußerst ungewöhnlich, dass der neue kommissarische Direktionsleiter sich an einem Sonntagmorgen auf der Dienststelle blicken ließ, so verwunderte es umso mehr, dass er in Uniform war. Normalerweise bevorzugte er schlechtsitzende dreiteilige Herrenanzüge mit rosa Oberhemd und Fliege. Als promovierter Rechtswissenschaftler weiß man schließlich, wo man hingehört und wie man sich auch optisch vom Gros der nichtakademischen Emporkömmlinge im höheren Polizeivollzugsdienst zu distanzieren hatte.

„Morgen, die Herren. Na, fürs leibliche Wohl ist ja gesorgt bei Ihnen“, tönte er in den Raum und schielte auf die Fülle des opulenten warmen Buffets. „Ich hab's ja schon immer gesagt“, schleimte er munter drauf los: „Das wahre Leben spielt sich im Wachdienst ab, da kann einer sagen, was er will!“

‚Woher du Flachpfeife das wohl wissen willst!’ dachte Franzl, dem die ständigen Anbiederungsversuche seines neuen Chefs inzwischen ziemlich auf die Nüsse gingen. Laut sagte er: „Greifen Sie zu, Herr Dr. Meier-Wirsing, es ist reichlich da!“

„Furchtbar gern, ist nett von Ihnen. Eigentlich bin ich ja schon spät dran. Gleich tagt der Polizeibeirat oben im Haus. Ich werde dort zum Thema No-Go-Zonen und Angsträume referieren. Der Landrat wird selbst zugegen sein und ich möchte nicht zu spät kommen. Aber ein bis zwei Spiegeleier nehme ich gern.“

Bestens gelaunt setzte er sich gleich neben Manni Schulte, dem er kumpelhaft auf die Schulter klopfte, und lud sich den Teller randvoll.

Manni betrachtete sein Dinkelbrötchen mit den krossen Nürnbergern und dem süßen Senf wie eine tote Maus. Dann legte er es zurück auf seinen Teller, den er langsam von sich schob.

Möglich, dass Meier-Wirsing es bemerkt hatte, er ließ sich jedenfalls nichts davon anmerken. Vielmehr schaufelte er mit Appetit große Gabeln voll Ei und Baked Beans in sich hinein, wobei er Interesse heischend in die Runde schaute. Sein Blick blieb an Eyleen hängen, die am Kopfende saß und Fruchtquark aus einer Schüssel aß. „Ah, Frau Kollegin bevorzugt vegetarische Kost. Tja, so 'n echtes Männerfrühstück ist halt nicht jedermanns Sache.“

Eyleen O'Toole war erst vor vier Wochen überraschend zur Truppe gestoßen und bis jetzt sehr still und in sich gekehrt. Sie hatte sich noch nicht eingelebt. Sie kam aus Enniskillen in Nordirland und hatte als Polizeistudentin ein Auslandspraktikum in der Partnerstadt Bielefeld absolviert. Irgendwie hatte es der Halb-Irin mit deutschen Wurzeln in Ostwestfalen überraschend gut gefallen. Man munkelte, dass auch ein gewisser Bielefelder Kollege nicht unwesentlich dazu beigetragen habe. Ende vom Lied war, dass sie sich hier bewarb, nach Klärung umfangreicher Formalitäten das Abschlusssemester an der hiesigen Fachhochschule absolvieren und nun einer Beamtenlaufbahn in der deutschen Polizei entgegensehen durfte. Sie war schließlich hier in Gütersloh gelandet. Der erhoffte Standort Bielefeld war überbesetzt, was leider wohl auch auf den bewussten Kollegen zutraf, wie der Flurfunk meldete. Die junge Keltin fand sich also plötzlich ungeküsst und fern der Heimat in der Weltstadt Gütersloh wieder. Das alles musste sie erst mal verdauen, wobei ihr offensichtlich große Portionen herzhafter Nahrung halfen. Denn hätte Meier-Wirsing genauer hingeschaut, dann hätte er an ihrem leer gegessenen Teller unschwer erkennen können, dass sie sehr wohl schon ein ordentliches „Männerfrühstück“ drin hatte und die mitgebrachte Portion Quarkspeise jetzt eben noch locker obendrauf haute. Aber er hatte das Interesse an der jungen Frau mit dem rostbraunen Strubbelkopf bereits verloren und Franzl Horstmann mit einem Monolog über Funktionsstärken und Schichtdienstpläne zugetextet.

Kurz darauf stand er auf und verabschiedete sich winkend und mit vollem Mund kauend. Der fette Soßenfleck sah aus wie ein Vogelschiss und stach sehr schön vom leuchtenden Blau seines neuen Uniformhemdes ab, aber niemand gab ihm einen Tipp, als er eilig dem Ausgang entgegen stakste.

„Manni, was is?“ Otto schaute besorgt rüber. Wenn jemand sein Essen verschmähte, war das für ihn ein Anzeichen ernster Gefahr. „Mir is nich gut“, quälte Manni hervor.

„Na komm, Manni, da gibt’s wirklich Schlimmere!“ Henry schaltete sich wie immer vermittelnd ein.

„Nee, Henry, du weißt nicht, was du sagst. Zwei Jahre Ausbildung mit dem als Klassensprecher, da hast du einen Mord frei.“ Uli wurde hellhörig.

„Echt? Du warst mit dem da in Stukenbrock zusammen? Erzähl mal!“

„Na ja, ich hatte gleich in der zweiten Woche Stress mit meiner Perle und war abends etwas zu spät in der Unterkunft. Ratet, wer mich verpetzt hat? Hat mich fünf Wochenenden gekostet.“

„Waas, so’n Kameradenschwein? Na, der hätte bei uns aber ‘ne Abreibung gekriegt, bei nächster Gelegenheit auf der Judomatte!“

„War gar nicht nötig. Die erste Judorolle seines Lebens hat ihm direkt das Schlüsselbein zerbröselt, sechs Wochen Ausfall. Der Kerl war einfach zu dämlich für alles. Egal ob Fußball, Handball, Völkerball, Schwimmen oder Ju-Jutsu, Sönke stolperte dauernd über seine eigenen Beine. Den wollte keiner in der Mannschaft haben. So einen Bewegungslegastheniker habe ich noch nicht wieder erlebt. Wie der die Prüfungen im Laufen, Retten, Schießen und in der Selbstverteidigung geschafft hat, ist mir heute noch ein Rätsel. Vermutlich haben die ihn durchgereicht, weil er in allen Klausuren ‘ne Eins schrieb und jeden Morgen beim Spieß ‘ne fette Schleimspur hinlegte. Ein lupenreiner Streber, das war der. Und ‘ne Petze.“

„Ja, und wie ist der später im Dienst klargekommen?“

„Überhaupt nicht. Nach der Ausbildung ging es für ihn nach Köln-Kalk. Ein Kollege aus der B-Tour war da mit ihm zusammen, op de Scheel Sick. Ja, und wenn’s da zur Sache ging und die Fäuste flogen, was ungefähr zwei- bis dreimal pro Schicht der Fall war, dann saß unser Sönke im Streifenwagen und hatte die Knöpfe runter.“

„Ah, ein Schisshase also auch noch?“ Kopfschüttelnd lehnte Henry sich zurück. „Da wird er ja lauter Freunde in der Truppe gehabt haben.“

„Exakt. Es dauerte genau sechs Monate, dann hatte unser Sönke gekündigt, sich in der Uni Münster in Jura eingeschrieben und in Rekordzeit summa cum laude promoviert. Aber anstatt jetzt eine Karriere als Richter, Staatsanwalt oder Rechtsanwalt anzustreben, ist der Irre zurück zur Polizei und mit seinem zweiten Staatsexamen direkt in den Höheren Dienst eingestiegen. Und schon habe ich ihn wieder an der Backe, nur dass ich mich jetzt nicht mal mehr wehren kann. Ich kann doch einem Polizeirat nicht einfach eins aufs Maul hauen!“

Eine lebhafte Diskussion brach los über den neuen kommissarischen Direktionsleiter. Eyleen O'Toole saß am Kopfende und hörte aufmerksam zu, zwei smaragdgrüne Augen voller Mitgefühl auf Manni gerichtet. Dann veränderte sich ihr Blick. Kalt und unergründlich wie die irische See durchdrang er die Decke der Kaffeebude und fokussierte einen Punkt, der deutlich außerhalb des Raumes, irgendwo oben im Gebäude liegen musste. Das Mädchen griff mit der linken Hand blind eine Banane aus der Obstschale, wobei eine steile Falte auf ihrer Stirn erschien. Die Rechte glitt zu einer der zahlreichen Gürteltaschen, die sie am Koppel trug und zog mit fließender Bewegung ein solides Klappmesser hervor, das sie einen Moment in Kopfhöhe hielt. Mit dem Daumen betätigte sie den Einhand-Mechanismus und fuhr eine ziemlich verbotene Klinge aus. Dreieinhalb Zoll handgeschmiedeter Damaszenerstahl rasteten mit einem satten Klick ein, die böse zugeschliffene Spitze senkrecht nach oben gerichtet. Ruhig setzte Eyleen die stark gemaserte Schneide an und versetzte der Banane knapp unterhalb des Stiels sorgsam einen tödlichen Halsschnitt. Mit einer Daumenbewegung verschwand der haarscharfe Stahl im Griff, und das Messer war eine Sekunde später wieder sicher in der Gürteltasche verschwunden. Mühelos zog sie nun die Schale von der leicht überreifen Frucht, die exakt das Aroma verströmte, das sie besonders liebte. Ihre Gesichtszüge, eben noch völlig entrückt, entspannten sich und sie schaute wieder freundlich kauend in die Runde. Uli hatte die Szene aus dem Augenwinkel verfolgt und sich so seine Gedanken gemacht.

„He Eyleen, wen hast du denn da gerade aufgeschlitzt?“ raunte er ihr zu.

„Das weiß man nicht“, meinte sie unbestimmt und ließ damit offen, ob die Banane nun tatsächlich Opfer einer personifizierten Ritualschlachtung geworden war oder nicht. Uli sah die junge Kollegin aus den Augenwinkeln an, die ziemlich nett und hilfsbereit rüberkam, aber irgendwie schweigsam und schwer durchschaubar war.

20 Minuten später ging die Tür auf und erneut trat unerwarteter Besuch ein. Der Landrat. Er wirkte etwas gehetzt, musterte aber sogleich anerkennend das Buffet, ließ sich von Henry eine Nürnberger aus der großen Pfanne aufschwatzen und wandte sich dann an Franzl.

„Herr Horstmann, können Sie mir vielleicht aus der Patsche helfen? Der Polizeibeirat tagt oben im Unterrichtsraum, und Herr Meier-Wirsing war für einen Vortrag über Angsträume in Gütersloh vorgesehen. Er fällt aber leider aus. Könnten Sie hier vielleicht spontan Ihre dienstlichen Erfahrungen einbringen?“

Franzl runzelte die Stirn. „Wir haben hier doch gar keine No-Go-Areas oder Angsträume. Oder habe ich was verpasst?“

„Nein, natürlich nicht. Aber genau das wird vom Beirat ja hinterfragt. Da sitzt so ein Oberschlaumeier drin, der immer schwarzmalen muss.“

„Sorry, sonst gerne“, zog sich Franzl aus der Affäre. „Leider bin ich heute Chef vom Dienst und kann nicht einfach so weg.“

„Ah natürlich, wie dumm von mir.“ Der Landrat schaute betreten.

„Aber Herr Haferkamp hat an der Fachhochschule zu dem Thema recherchiert. Für seine letzte Hausarbeit. Uli, kannst du da aushelfen?“

„Klar, warum nicht? Ich greife nur schnell meine Unterlagen, dann kann’s losgehen.“

Der Landrat seufzte erleichtert, beide machten sich auf den Weg nach oben.

Joe von der Leitstelle meldete sich über die Haussprechanlage.

„Ich hoffe mal, ihr habt alle aufgegessen. Der 25/11 muss raus in die Stadt. Hilo hinter der Martin-Luther-Kirche. RTW und NEF kommen etwas später, die sind gerade mit Mann und Maus auf der Autobahn beim Unfall und haben gefragt, ob ihr erst mal gucken könnt.“

„Könnt ihr das übernehmen?“ Manni sah Eyleen an. „Ich hab von gestern noch ‘nen ganzen Berg zu schreiben.“

„Kein Problem“, meinte Eyleen freundlich. „Los, Otto, kleine Verdauungsfahrt.“

„Hä? Übernehmen?“ Freiwillige und sonst irgendwie vermeidbare Tätigkeiten passten Otto grundsätzlich nicht in den Kram, dementsprechend mopperte er sofort los.

„Hast du’s hier jetzt auch schon zu sagen? Vielleicht fragst du erst mal? Da klebt doch Scheiße dran an der Sache, das riech ich doch drei Meilen gegen den Wind. Aber Frollein O’Toole schreit ganz einfach hier und ich kann’s hinterher ausbaden und hab den ganzen Salat am Arsch!“

Franzl schaute aus dem Wachraum kurz und eindringlich um die Ecke. Otto machte widerwillig die Klappe zu, schob bockig beide Hände in die Hosentaschen und trollte sich schmollend raus Richtung Streifenwagen.

Im Treppenhaus versperrte ein großer Haufen Bauschutt halb den Weg. Der stumpfe Geschmack von Zementstaub legte sich schwer auf Zähne und Zunge. Eine Wand war aufgestemmt, uralte Kabel und Verteilerdosen waren darin zu sehen. „Zwei Jahre noch“, sagte der Landrat mehr zu sich selbst. „Dann ziehen wir um.“ Uli sagte lieber nichts dazu.

„Was hat Herr Meyer-Wirsing denn?“, fragte er stattdessen. Der Landrat blickte sich um. „Ich weiß auch nicht. Er steht da, will seinen Vortrag beginnen, und auf einmal bleibt ihm die Stimme weg. Alles was aus ihm rauskam war ein heiseres Krächzen. Jetzt sitzt der Arme in der Teeküche vom zweiten Kommissariat und hat Halsschmerzen, das glaubt kein Mensch.“

Uli erhaschte aus dem Fenster einen Blick auf Eyleen, die unten gerade zum Streifenwagen ging, einen übelst gelaunten Otto im Schlepp. Als hätte sie den Blick gespürt, sah sie hoch zu ihm. Sie drehte die Handflächen nach oben, zuckte mit den Schultern und lächelte unschuldig. Dann stieg sie ein und fuhr mit qualmenden Reifen vom Hof. Tief in Gedanken stolperte Uli dem Landrat hinterher die Treppe hinauf.

Keine fünf Minuten später kam Otto über Funk für die Wache:

„Franzl, schick mal die Kripo raus, das is nix für uns.“

„Wie Kripo?“

„Lupenreine Leichensache. Unsere liebe Irene hat’s dahingerafft. Liegt hier stocksteif unterm Rhododendronbusch, Rückseite Martin-Luther-Kirche.“

„Wer, Irene Männertreu etwa?“

„Haargenau dieselbe.“

„Okay, ich schick euch den Tatortdienst.“

Franzl nahm den Telefonhörer auf und veranlasste das Nötige. Fünf Minuten später sah er Hermann und Dierk-Helge durch die Tür gehen. „Komisch“, dachte er sich. „Irgendwie haben die immer Wochenenddienst, wenn wir auch dran sind. Ob die sich das aussuchen? Ich glaub, ich frag Hermann nachher mal.“ Die Gelegenheit ergab sich schneller als gedacht. Das Telefon klingelte und Hermann war dran.

„Du Franzl, ich glaube, du musst mal rauskommen und Chef spielen. Wir haben hier mittlere Zuständigkeitsprobleme.“

„Oh Mist. Macht Otto wieder Zicken?“

„Ja genau, aber nicht nur der!“

„Okay, bin schon unterwegs.“

Drei Minuten später bremste Franzl an der Kirche. Hinten erkannte er Otto, der bockig an der Kirchenmauer lehnte. Fünf Meter abseits und mit deutlicher Distanz zueinander Hermann und Dierk-Helge, ebenfalls in völliger Funkstille. Eyleen wuselte derweil hin und her, die Canon im Anschlag und schoss Fotos aus allen Richtungen. Schwer seufzend ging Franzl hinüber.

„Okay, wo brennt’s denn?“ fragte er rundheraus.

„Die Kripo drückt sich mal wieder“, polterte es aus Otto heraus.

„Stimmt gar nicht“, meldete der Rote sich sofort. „Ich wär’ schon längst fertig, aber ich soll ja nicht.“

Franzl guckte reichlich verwirrt in die Runde.

„Hermann, könntest du mich mal kurz erleuchten?“

„Na klar. Hier liegt Irene unterm Busch. Da vorn am Laternenpfahl liegt ihr Fahrrad, leicht beschädigt. Am Pfahl selber siehst du ‘ne Kontaktspur, die eindeutig von Irenes Pedale stammt, und weiter oben kleben ihre Haare und etwas von ihrer Kopfhaut. Tut mir leid, Franzl, aber das ist eindeutig ein Verkehrsunfall. Die ist ohne jeden Zweifel volley gegen die Laterne geknallt, hat es dann kriechend bis in ihre Endlage geschafft und anschließend den Löffel gereicht. Das Ganze vor etwa sechs bis acht Stunden. Die Leichenstarre ist noch nicht voll ausgeprägt. Also, ich unterstütze euch gerne bei der Spurensicherung, aber die Federführung liegt bei euch.“

„Sehe ich auch so!“ Eyleen war dazu gekommen und checkte ihre Fotos auf dem Display. „Ich hab soweit alles im Kasten und würde gleich nur noch die Leiche und die Spuren einmessen. Wenn du Otto dann überreden könntest, sein Schreibzeug klar zu machen für die Unfallanzeige, wäre eigentlich alles im Lot.“

„Kein Problem, geht sofort los. Und was hat Dierk-Helge zu moppern?“

„Der Rote? Das ist ein ganz schwerer Fall. Der ist auf einem völlig anderen Trip. Mordserie im Pennermilieu. Die zweite Leiche in zwei Wochen. Wollte gerade schon Reiffeisen anrufen wegen ‘ner Mordkommission. Zuviel Mankell gelesen, das hat der. Aber keine Sorge, um den kümmere ich mich später.“ Dierk-Helge stand mit verkniffenem Gesicht in der Gegend herum. Seine Kiefer mahlten.

„Und was spricht dagegen, dass einer sie gegen den Pfahl gestoßen hat?“ fragte er herausfordernd.

„Nichts spricht dagegen, aber auch nichts dafür. Die fast leere Wodkapulle in Irenes Handtasche, die spricht aber auf jeden Fall Bände. Da hast du ‘ne erstklassige Unfallursache.“

„Okay, dann bleibt es dabei“, beschloss Franzl schließlich mit gehobener Stimme, „Otto nimmt die Sache als Verkehrsunfall auf, Eyleen macht Fotos und Skizze, der Tatortdienst sichert die biologischen Spuren. Und Dierk-Helge, wenn du so freundlich wärst und mit Hermann zusammen anschließend die Leichenschau erledigen könntest? Dann sind wir alle locker vor Feierabend fertig. Falls du bis dahin irgendwelche Anzeichen von Fremdeinwirkung entdeckst, sag einfach Bescheid, dann fahren wir die Maschine sofort hoch.“

„Sollte man eigentlich mal durchziehen“, giftete Hermann. „Der Rote fliegt nämlich heute noch nach Spanien in Kurzurlaub. Der Flieger geht um halb sechs, wenn ich das richtig mitgekriegt habe. Wenn der wegen Irene seinen Urlaub sausen lassen will, von mir aus. Ich für meinen Teil bin aber gleich bei meiner Mama zum Pickert eingeladen. Und du kannst einen drauf lassen, dass ich da pünktlich erscheine.“

Nur ein Schubs

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