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Kapitel 2

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Walter Lehmann drehte sich in seinem Bett wie ein Hähnchen am Spieß. Bereits zum siebten Mal warf er einen Blick auf den alten Wecker, der vor ihm auf dem Nachtschränkchen stand. Mit grausamer Langsamkeit bewegte sich der Minutenzeiger und schien in jeder Position eine gefühlte Ewigkeit einzurasten. Seit 30 Jahren stand dieser Wecker auf halb sechs Uhr. Seit 29 Jahren wurde Walter zwei Minuten vorher wach und schaltete den Alarm ab, bevor der mit infernalischem Getöse lostoben konnte. Seit einem Jahr war das anders. Kurz nach zwei Uhr war die Nacht für Walter vorbei. Wie immer wachte er auch an diesem Montagmorgen schweißgebadet auf. Nein, er schreckte hoch und stellte fest, dass sich in seinem Kopf finstere Gedanken wie Mühlsteine drehten; immer um dieselben Dinge, die größer und größer wurden und für nichts anderes Platz ließen.

Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, wurde sein Magen aktiv, fing an zu krabbeln wie ein Ameisenhaufen und produzierte einen hübschen Säureschwall, der ihm beißend die Kehle hochstieg. Sein Darm fiel prompt in den Reigen ein. Es fühlte sich an, als würde dort jemand einen Haufen groben Kies von links nach rechts schaufeln. Walter wusste, er würde in spätestens zehn Minuten mit diesem fiesen Dünnschiss aufs Klo rennen müssen, der ihn seit Monaten hartnäckig verfolgte, um ihm auch noch den letzten Rest seiner leidgeprüften Rosette wegzuätzen. Es hatte keinen Zweck. Walter stand auf und tat das, was er in letzter Zeit häufiger tat. Er ging in die Wohnküche seines 2-Zimmer-Appartments und holte ein etwas zu groß geratenes Sherry-Glas und eine grüne Flasche aus der kleinen Vitrine. Er goss zwei Daumenbreiten einer goldbraunen Flüssigkeit ein, die er eine Weile in der hohlen Hand herumschwenkte. Gewohnheitsmäßig inhalierte er das kräftige Bukett intensiv durch die Nase, bevor er sich einen ordentlichen Schluck gönnte. 48 Volumenprozente schlugen in seinen ramponierten Magen ein wie die Krallen eines gigantischen Raubvogels. Zehn Sekunden hielt der scharfe Schmerz an, dann ließ er langsam nach und machte einer verheißungsvollen Entspannung Platz.

Aah, das tat gut. Walter nahm einen zweiten Schluck, den er lange im Mund herumrollte, bevor er ihn genießerisch die Kehle hinab rinnen ließ. Der Schmerz blieb aus, das Magenflattern verflog. Wohltuende Wärme und Schwere breiteten sich von seiner eben noch desolaten Körpermitte in alle Extremitäten aus. Ein dritter Schluck leerte das Glas. Zehn Minuten lang saß Walter mit geschlossenen Augen am Küchentisch, genoss den kathedralen Abgang des Destillats und dachte an nichts, während er sich mental ins Bodenlose fallen ließ. Doch dann begannen die Teufel in seinem Bauch, ihre Schockstarre abzuschütteln und sich von neuem zu regen.

„Nicht mit mir“, dachte Walter und goss sich ein zweites Glas ein.

Um halb sechs tat Walters Wecker etwas, das er früher nie getan hatte: er klingelte. Und zwar klingelte er mit jener Lautstärke und Dissonanz, die nur alten Weckuhren mit zwei großen Chromschellen vorbehalten ist. Walter wurde aus einem komaähnlichen Tiefschlaf gerissen, der ihn schließlich doch noch vor einer Stunde überfallen hatte. Er schaffte es nach etwa fünf Versuchen irgendwie, das Monster abzustellen und zumindest rein körperlich eine halbwegs aufgerichtete Position einzunehmen. Die heiße Dusche half nicht wirklich weiter, und wie sonst kalt abzuduschen brachte er schon länger nicht mehr über sich; er zitterte ohnehin am ganzen Körper. Beim Zähneputzen wurde ihm schlecht. Er brauchte dringend etwas zu essen, musste aber bestürzt feststellen, dass er schon wieder nichts eingekauft hatte. Im Kühlschrank fand er noch eine Bockwurst in einem offenen Glas, die er gegen den deutlichen Protest seines Magens kalt herunterwürgte.

Dass sein Arbeitsanzug entgegen sonstiger Gepflogenheiten nicht mehr ganz sauber war, registrierte er überhaupt nicht. Vorsichtig bestieg er sein Fahrrad und fuhr recht wackelig den Westfalenweg entlang Richtung Dammstraße. An einem schmucken Vorgarten hielt er kurz an und kotzte seine Bockwurst hinter die peinlichst manikürte Buchsbaumhecke. Jetzt ging es ihm etwas besser. Er hielt an der Großbäckerei am Elmers Weg und kaufte dort ein Milchbrötchen, das er im Fahren mampfte. Über die Wiedenbrücker Straße ging es weiter ins Industriegebiet West. Punkt sechs Uhr schwenkte er zur Firma Sandmann ein. Er zog seinen Schlüsselbund, betätigte den Schlüsseltaster, und das schwere Rolltor glitt geräuschlos, weil gut geschmiert, zur Seite. Mit Betreten des Geländes ging in Walter eine unmerkliche Veränderung vor. Er legte sein jämmerliches Privatleben ab wie einen Regenumhang, der draußen bis zum Feierabend unsichtbar an einem imaginären Haken hängen blieb.

Er schloss den Seiteneingang auf und ging im Dunkeln nach hinten in die Umkleide zu seinem Spind. Mit dem grauen Kittel, den er dort herausnahm, streifte er sein zweites Ich über. Anderen mochte er als kauziger Kalfaktor erscheinen, der die Halle und den Hof fegte. Und Walter ließ sie alle gern in diesem Glauben. Doch in Wirklichkeit war er Haus-, Hof- und Lagermeister, Herr über Material und Gerät, der seit 30 Jahren jeden Tag von neuem dafür sorgte, dass Firma Sandmann das blieb, was sie war: ein erstklassig funktionierender Handwerksbetrieb. Walter schaltete den Hauptschalter der großen Halle ein. Grelle Neonröhren flammten auf. Instinktiv schloss er die Augen, die nach dieser Nacht noch lichtempfindlicher waren als gewöhnlich. Nach einer Weile hatte er sich noch immer nicht an die Helligkeit gewöhnt und ging mit zusammengekniffenen Augen an seine Arbeit. Wie zwei gute Freunde standen die beiden neuen Baukräne vor ihm. Die hatte er den ganzen Freitag lang gewartet. Die sollten heute auf die neue Baustelle nach Steinhagen.

Walter hatte sich gewundert, als der Chef die Kräne vor vier Wochen angeschafft hatte. Die vorigen waren noch bestens in Schuss gewesen. Aber der Chef hatte irgendwas von Investieren und Steuerabschreibung erzählt. Walter war froh gewesen. Im letzten Jahr hatte es in der Firma irgendwie nicht mehr so recht gefluppt. Kaum größere Aufträge, nur Kleinkram und ein paar Mal auch Kurzarbeit. Aber das war vorbei. Zwei schöne Eigenheime im neuen Steinhagener Baugebiet waren in Auftrag. Die Sohlen waren gegossen, heute würde die Kellerschalung in Angriff genommen werden. Arbeit für circa zehn Wochen, und weitere Aufträge steckten schon in der Pipeline.

Walter ging schnell aus dem grellen Neonlicht der großen Halle hinüber zum kleinen Bürotrakt, um die Materiallisten für heute zu checken. An der schweren Feuerschutztür stockte er, sie stand halb offen. Nanu, wer hatte denn hier wieder geschlampt? Ein Blick reichte und Walter wusste was los war: Die Tür war aufgebrochen worden. Schwerer Hebeleinsatz in Schlosshöhe hatte Tür und Stahlzarge heftig deformiert, das Schloss war halb herausgebrochen. Walter zog die Tür vorsichtig auf. Den Gegenstand, der dahinter am Boden lag, kannte er. Das mannshohe Brecheisen stammte aus seinem eigenen Lager und wurde normalerweise für Schalarbeiten eingesetzt. Entschlossen ging Walter vor in den Bürotrakt. Er dachte keinen Moment daran, dass die Täter eventuell noch im Gebäude sein könnten. Beide Büros waren durchsucht, der Inhalt von Schränken und Schubladen auf dem Fußboden verteilt worden.

Walters Sorge galt dem Firmentresor im Chefbüro. Doch das Ungetüm mit dem doppelten Zahlenschloss aus Mitte des vorigen Jahrhunderts war unangetastet. Dafür lag aber der stählerne Schlüsselschrank mitten im Raum. Er war offensichtlich mit Brachialgewalt geknackt und dabei von der gegenüberliegenden Wand abgerissen worden. Walter checkte schnell die Schlüssel, die auf der Erde herumlagen. Das Ergebnis war deutlich. Er rannte zurück und um die Kräne herum zur Halle 2. Die beiden neuen 12-Tonner mit Ladekran und Allradantrieb. Beide spurlos verschwunden. Der Gabelstapler war auch weg. Walter war wie betäubt. Dann fiel ihm plötzlich noch etwas ein. Der Mercedes vom Chef.

Nur ein Schubs

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