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Kapitel 3

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Die blaue Leuchtstele direkt am Bürgersteig war schon ziemlich alt und nur notdürftig von den wuchernden Bodendeckern freigeschnitten. Die Aufschrift „Polizei“ in weißen fetten Lettern war wirklich der einzige sichtbare Hinweis auf die tatsächliche Widmung des alten Fabrikgebäudes aus rotem Backstein, das etwa dreißig Meter von der übrigen Bebauung zurückstand und sich irgendwie im Dornröschenschlaf zu befinden schien, halb mit Efeu und wildem Wein zugewachsen. Einen ausgelagerten Polizeiposten, allenfalls eine Stadtwache würde der unkundige Besucher hier vermuten. War aber falsch! 1975 war die alte Polizeistation an der Königstraße endgültig aus allen Nähten geplatzt. Oberkreisdirektor Dr. Sturzenhecker, Gott habe ihn selig, hatte auf der Suche nach einer Notlösung schließlich Nägel mit Köpfen gemacht, die alte Bartelsche Seidenweberei samt Nebengebäuden für das Land angekauft und in einem Hauruckverfahren polizeilich ertüchtigt. Die Wache machte sich im Erdgeschoss breit, Leitungsstab und Bezirksdienst im ersten Stock und die Kripo kam unters Dach. Der Verkehrsdienst richtete sich im ehemaligen Werkskindergarten jenseits der Grünen Straße wohnlich ein, die auf circa 100 Metern Länge Teil der Liegenschaft war, die Techniker kamen nebenan in die Hausmeisterwohnung. Sogar eine eigene Kfz-Werkstatt mit Hebebühne war vorhanden. Optimal in der damaligen Zeit, als Polizei nur Pistole, Funkgerät, Schreibmaschine und Telefon brauchte, um zu funktionieren. Wirklich, die Räumlichkeiten waren groß, die Dienstfahrzeuge standen alle sicher und trocken in der riesigen Werkshalle, Platz satt. Hier konnte man es gut und gerne für eine Übergangszeit aushalten. „Zehn Jahre höchstens“, tönte Dr. Sturzenhecker damals mit einem Mundwerk, das seine sonstige körperliche Erscheinung an Größe bei weitem übertraf. Die Pläne für ein neues Kreishaus an der Herzebrocker Straße mit eigenem Polizeikomplex lagen in der Schublade, auch für die Übernahme und Erschließung des alten Wehrmachtsschießstandes im Rhedaer Forst. Wen juckten angesichts dieser Perspektiven die paar Wanderratten, die den Hinterhof längst vereinnahmt hatten und auch die weitläufigen Kellergewölbe mit unzähligen Gängen und Schächten schrittweise eroberten. Man wohnte schmuddelig, aber zweckmäßig und geräumig. Das Ganze war nun allerdings fast 40 Jahre her. Ein technisches Wunder, dass die Hütte überhaupt noch stand. Mittlerweile arbeiteten zwei massive Lenzpumpen rund um die Uhr, um das eindringende Grundwasser im Keller auf Pegel zu halten, von Trockenlegen träumte längst niemand mehr. Bei Stromausfall würde die Polizei innerhalb von 48 Stunden absaufen, denn spätestens dann war der Serverraum geflutet. Die Industrieruine war längst ein Fass ohne Boden. Das Geld, das hier bereits hineingepumpt worden war, um einfach nur den Dienstbetrieb aufrecht zu erhalten, hätte einen Neubau längst mehrfach finanziert.

Kurz gesagt: Der Neubau der Polizei Gütersloh war mehr als überfällig.

Aber tausendundeine Schwierigkeiten waren in all den Jahren nacheinander aufgetaucht und hatten das immer wieder gebetsmühlenhaft propagierte Projekt hinausgeschoben. Die Berliner Straße 133, damals angepriesen als Filetstück der Gütersloher Stadtplanung, stellte sich als nicht vermittelbar heraus. Dann reihten sich mehrere Finanzkrisen mit andauernden Haushaltsperren aneinander. Zu allem Überfluss wurde das Liegenschaftswesen des Landes wie viele andere öffentliche Verwaltungsbereiche irgendwann privatwirtschaftlich outgesourct. „Bauten NRW“ übernahm das weitere Planverfahren mit jenem Schwung und Erfolg, der inzwischen europaweit bekannt ist und der den Sitz der Gütersloher Polizei bisher keine drei Millimeter weiter zu bewegen vermocht hatte.

Auch an diesem Montag traf sich die allmorgendliche Führungsbesprechung daher nicht in einem angemessenen, medienbestückten Konferenzraum, sondern im geräumigen Flur der Chefetage, der einfach mit einigen Bürotischen und Stühlen möbliert war und zugleich als Frühstücksraum und Kaffeebude herhielt. Pünktlich um halb neun trafen die Leiter der Fachdirektionen Einsatz, Verkehr und Kripo ein und besetzten ihre angestammten Plätze. Für die Führungskräfte des Höheren Dienstes war das Treffen obligatorisch, dazu kamen Vertreter vom Stab, der Leitstelle und der Pressestelle. Lockere Unterhaltung entwickelte sich, während Stullen gemampft und Müslischalen geleert wurden.

„Na, dann geht’s den Geldsäcken in Westfalen auch endlich an den Kragen“, grummelte Kripo-Chef Albert Reiffeisen hinter seiner Neuen Westfälischen hervor.

„Ach, die Luxemburger Bankenaffäre? Recht so, sage ich.“ Polizeioberrat Gerold Maleczyk, Leiter der Direktion Verkehr, bezog wie gewohnt klare Position. „Höchste Zeit, dass da mal einer aufräumt mit dieser staatlich geförderten Steuerhinterziehung. Die Finanzkrise steckt uns allen noch schwer im Nacken. Als wenn die nicht schon genug Schaden angerichtet hätte.“

„Ist aber eindeutig verfassungswidrig“, ließ Polizeirat Meier-Wirsing sich vernehmen, der mit einem schweren Pilotenkoffer hereinkam und wie üblich keine Gelegenheit ausließ, sein Füllhorn juristischer Fachlichkeit über die Menschheit auszugießen.

„Strafrechtlich übrigens auch extrem brisant. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Da kauft ein demokratischer Rechtsstaat gestohlene Bankdaten, um sich selbst zu bereichern. Digitale Hehlerei in Reinkultur. Aber nicht genug, dass NRW sich damit direkt an einer Straftat beteiligt. Nein, die Herren bauen auch noch sämtliche folgenden Strafverfahren darauf auf. Fällt eindeutig unters Verwertungsverbot. Und das ist noch das kleinste Übel bei dem Eklat. Hach, welch ein Thema für eine Doktorarbeit. Fast bedauerlich, wenn man bereits promoviert hat.“

Das Gespräch verstummte schlagartig, Blicke wie Diamantkernbohrer fraßen sich in Wände und Decken.

Wie jeden Tag seit 15 Jahren erschien um Punkt 8:35 Uhr der Leitende Polizeidirektor Herbert Hirschacker. Er ging kurz um den Tisch und gab jedem die Hand. Dann setzte er sich auf einen freien Stuhl irgendwo mitten zwischen die Kollegen. Im Unterschied zu allen anderen Führungskräften weigerte er sich standhaft, einen festen Platz zu besetzen, erst recht den am Kopfende, der daher gewöhnlich frei blieb. Nicht heute. Meier-Wirsing hatte wie selbstverständlich vor dem Ende Platz genommen und umfangreiches Bild- und Aktenmaterial um sich herum drapiert, das er intensiv studierte. Zwischendurch warf er Blicke in die Runde, mit denen er den restlichen Besprechungsteilnehmern nonverbal zu verstehen gab, dass er hier und heute die Hauptrolle zu spielen gedachte.

LPD Hirschacker schien die Situation völlig zu ignorieren. Er nickte dem Dienstgruppenleiter der Leitstelle zu. PHK Braun räusperte sich.

„Okay, zum Einsatzgeschehen. Zunächst hätten wir einen Geschäftseinbruch in der Gütersloher Innenstadt. Diesmal war es das 'Gents', der neue Herrenausstatter in der Spiekergasse. Die komplette Sommerkollektion ausgeräumt. Schlosszylinder fachmännisch gezogen, Beuteschaden bei 50.000 Euro, keine Zeugen, keine Täterhinweise.“

„Die müssen doch mit dem Lkw vorgefahren sein bei der Beute. Und das soll keiner gemerkt haben?“ Maleczyk runzelte misstrauisch die Stirn.

„Sicher hat jemand im Vorbeigehen einen Lkw gesehen“, mutmaßte Reiffeisen. „Fragt sich, ob etwas verdächtig war. Anlieferverkehr ist völlig normal in der City, auch nachts. Wenn das clever gemacht ist, merkst du im Vorbeigehen nicht unbedingt, ob hier aus- oder eingeräumt wird.“ Die Themen wechselten. Routinemäßig spulte PHK Braun die weiteren Ereignisse vom Wochenende ab. Schlägereien, Vermisstenfälle, häusliche Gewalt und festgenommene Straftäter.

Meier-Wirsing zwang sich eisern zur Ruhe und studierte seine Unterlagen. Er konnte es aber nicht verhindern, dass seine Füße sich unbemerkt selbstständig machten und einen unrunden Rhythmus auf den alten grünen Velours tappten. Einige der Besprechungsteilnehmer bemerkten die Zappelei und sahen sich vielsagend an.

Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, kam PHK Braun auf den Punkt: „Ja, herausragendes Ereignis war der tödliche Unfall mit Flucht von Freitagnacht. Herr Meier-Wirsing war Einsatzleiter.“ Erwartungsvoll blickte er letzteren an, um ihm das Wort zu erteilen. Der holte gerade Luft, um zu seinem wohldurchdachten Vortrag anzusetzen, als Kriminaldirektor Reiffeisen ihm mit unglaublicher Kaltschnäuzigkeit in die Parade fuhr.

„Den Grundsachverhalt kennen wir alle aus der Zeitung. Frage: Wie ist der Ermittlungsstand und wie lange gedenken Sie, diesen exorbitanten Kräfteansatz zu fahren? Es kann doch wohl nicht so schwer sein, ein paar Lkw zu überprüfen. Ich habe nicht eine EK zu laufen, ich habe derer vier auf einmal. Ich brauche meine Männer zurück.“

„Die Sie seit über sechs Monaten aus meiner Direktion abgezogen haben, wenn ich erinnern darf!“ Meier-Wirsing hatte sich gut vorbereitet. So schnell ließ er sich hier und heute nicht abservieren.

„Zu Ihrer Kenntnis: Es sind 14 infrage kommende Lkw. So einfach wie Sie sich das vorstellen, ist die Sache aber nicht. Denn jedes Lkw-Gespann besteht aus fünf unabhängigen Komponenten. Da haben wir den Motorwagen, dazu die Anhängerlaffette. Jedes dieser Fahrgestelle bekommt dazu einen getrennten Kofferaufbau, die so genannte Wechselbrücke. Ja und dann ist da noch der Fahrer. All diese Komponenten werden ständig getauscht. Wir müssen also 14 Personen und 56 Objekte an etwa 30 verschiedenen Standorten im gesamten Bundesgebiet überprüfen, jeweils unter Einsatz von Ermittlern, Leichenspürhunden und Kriminaltechnikern.“

Reiffeisen knirschte hörbar mit den Zähnen. Dieser Kläffköter biss tatsächlich zurück.

„Wie sind Sie eigentlich auf DHL gekommen? Unfallzeugen gab's doch keine!“, bohrte er nach. Irgendwo musste hier doch eine faule Stelle zu finden sein.

„Kompetente Spurensuche am Unfallort“, konterte Meier-Wirsing genüsslich. „Steht alles direkt auf die Straße geschrieben. Man muss halt nur lesen können!“ Mann, der Spruch kam gut, den würde er sich merken!

Reiffeisen knurrte unwillig. Nicht dass er ansatzweise kontraproduktiv eingestellt wäre, im Gegenteil. Ihm ging als waschechter Kripomann nur leider jegliches Verständnis für verkehrspolizeiliche Sachverhalte ab. Treu der Devise: Kripo kann ich aus dem FF, für alles andere reicht mein Führerschein.

„So ist das“, pflichtete LPD Hirschacker dem Flamingo bei. Der alte Hase lächelte versonnen vor sich hin. „Kollege Lütkehennerich war nicht zufällig am Unfallort?“

Meier-Wirsing wand sich verlegen auf seinem Stuhl hin und her. Eigentlich wollte er selbst hier die Lorbeeren einheimsen. „Ja richtig“, gab er zu, „der kam zufällig vorbei, gerade aus dem Urlaub.“

„Ach, der obdachlose Wanderarbeiter? Ich dachte, der wäre wieder irgendwo in Marokko, die Wüste begrünen?“ POR Maleczyk sah mit süffisantem Augenaufschlag in die Runde.

„Wie, obdachloser Wanderarbeiter?“ Polizeirätin Nora Brettschneider war Lehrgangskollegin von Meier-Wirsing und wie er Juristin, aber ungleich hübscher und sportlicher. Sie leitete seit kurzem die Stabsdienststelle.

„Ob Sie's glauben oder nicht, Kollege Lütkehennerich ist o.f.W. Ja wirklich: ohne - festen - Wohnsitz. Vor sechs Jahren hat seine Frau ihn rausgeschmissen. Seitdem wohnt er in so einem Mörderteil von Wohnmobil, das er selbst zusammengebraten hat und ist nirgendwo amtlich gemeldet. Ein Unding für einen Beamten, wenn Sie mich fragen. Wie zahlt der seine Steuern? Wie kriegt der seine Post? Wie ist der telefonisch erreichbar? Und wie der rumläuft: Immer auf Malocher getrimmt: schwarze Cordhose mit Doppelschlitz und Zollstock. Dann dieser unmögliche graue Pullover. Ich glaub, der hat noch keine Waschmaschine von innen gesehen. Dazu Weste und Schlapphut. Und natürlich den größten Ohrring, den er kriegen konnte. Was wirft denn das für ein Bild auf uns?“ Selbstgefällig legte Maleczyk sich zurück. 'Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich', dachte er und grinste hinterhältig.

„Das ist ja noch längst nicht alles.“ KD Reiffeisen haute mit Schmackes in die Kerbe hinein. „Zu allem Überfluss kriegt dieser Nichtsesshafte auch noch Teilzeit genehmigt und gondelt jedes Jahr locker drei bis vier Monate durch die Weltgeschichte. Da fällt mir wirklich nichts mehr zu ein.“ LPD Herbert Hirschacker sah seine Führungsriege mit müden Augen an. Dies war einer der Momente, wo er sich besonders intensiv auf seinen verdienten Ruhestand freute, der in wenigen Monaten beginnen würde.

„Zu Ihrer Kenntnis: Lütkehennerich war in seinem ersten Leben Zimmermann, er ist als Geselle tatsächlich einige Jahre lang auf der Walz gewesen. Kluft und Ohrring trägt er also völlig zu Recht, niemand kann ihm das verbieten. Die Rechtsabteilung hat das schon vor Jahrzehnten durchgeprüft. Ein Gleiches gilt für seinen Antrag auf Teilzeit. Er hat eine Dreiviertelstelle. Anders als andere Leute reduziert er aber nicht seine Wochenstunden, sondern arbeitet voll und nimmt das komplette Kontingent auf einmal. Da er das immer im Winter nach Neujahr tut und daher in der Haupturlaubszeit uneingeschränkt zur Verfügung steht, gibt es keinen vernünftigen Grund, ihm die Sache zu verwehren.“

„Und was macht er in der Zeit? Hat er kleine Kinder oder eine pflegebedürftige Mutter? Er muss doch einen Grund angeben.“ Im Beamtenrecht kannte Meier-Wirsing sich aus wie kein zweiter.

Herbert Hirschacker hob seine Stimme, was er selten tat. „Herr Lütkehennerich macht keineswegs Urlaub, oder jedenfalls nicht das, was wir darunter verstehen. Er arbeitet in dieser Zeit ehrenamtlich für die UNESCO und beteiligt sich an Hilfsprojekten in verschiedenen nordafrikanischen Staaten. Meistens hilft er beim Bau von Schulen und Krankenhäusern und bildet im Rahmen der Projekte vor Ort Handwerker aus.“

„Na ja, wem's Spaß macht!“ Maleczyk warf einen ziemlich affektierten Blick an die Zimmerdecke.

Herbert Hirschacker seufzte leise vor sich hin.

„Manch einem von uns“, sagte er dann schlicht, „würde es im Leben entscheidend weiterhelfen, mal so ein, zwei Jahre auf dem Bau zu arbeiten.“

Nur ein Schubs

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