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Kapitel 9

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Wäre Walter an diesem Donnerstag pünktlich zur Arbeit gegangen, wäre alles anders gekommen. Doch das Schicksal wollte es nun mal so. Irgendwann tauchte er aus tiefer Bewusstlosigkeit auf in einen Zustand flacheren Dahindämmerns. Nach einer weiteren Stunde begannen zwei unterschiedliche Sinneswahrnehmungen die Oberfläche seines Bewusstseins zu durchstoßen, die sich nach und nach als bohrender Kopfschmerz einerseits und heftige Übelkeit andererseits herausstellten. Walter brauchte weitere 20 Minuten, bevor er körperlich in der Lage war, vier Aspirin aus der griffbereiten Schachtel auf seinem Nachtschränkchen mit einem Glas abgestandenem Mineralwasser runterzuspülen. Das war der Moment, als er auf die Uhr schaute. Ihm wurde klar: Es war Donnerstagmorgen und kurz nach zehn. Er hatte verpennt.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schock. Panik schoss in ihm hoch. Er musste sofort los, vielleicht konnte er das Schlimmste noch irgendwie verhindern. Walter sprang auf, dann wurde ihm schwarz vor Augen. Das nächste, was er sah, war die Unterseite seiner Spüle. Um den Siphon tanzten bunte Sterne. Zum Kater und zur Übelkeit gesellten sich ein schrill singender Musikantenknochen, eine riesige Beule am Hinterkopf und eine geprellte Rippe. Walter japste nach Luft wie ein Karpfen an Land und musste erkennen, dass er in keinem arbeitsfähigen Zustand war. Irgendwie schaffte er es, sich am Tisch hochzuziehen, auf seinen Stuhl zu plumpsen, in der Firma anzurufen und sich für zwei Tage krank zu melden. Grippe mit Schüttelfrost und Durchfall.

Das war das Ende. Walter spürte, wie irgendwo tief in seinem Inneren ein großes Stück von ihm wegbrach. Bis heute hatte er es geschafft, seinen neuerdings dramatisch steigenden Alkoholkonsum mit immer anderen Erklärungen und Entschuldigungen vor sich selbst zu rechtfertigen. Aber jetzt war die Lage anders. Walter hatte noch nie in seinem gesamten Berufsleben auch nur einen einzigen Tag gefehlt. Seine Anwesenheit, seine Zuverlässigkeit, seine Pünktlichkeit und seine Leistungsfähigkeit wurden bei Firma Sandmann vorausgesetzt wie Schwerkraft, Ebbe und Flut. Ein Naturgesetz war gerade außer Kraft getreten, die Welt hatte sich verändert. Walter sah die grüne Flasche am Boden neben seinem Bett liegen. Sie war leer. Er hatte letzte Nacht mal eben einen guten halben Liter hochprozentigen Schnaps geschluckt. Sonst waren es zwei, höchstens drei Gläser, die er sich als spezielles Schlafmittel verordnet hatte, wenn es nicht anders ging. Das hatte auch immer gut funktioniert. Jetzt hatte er einfach nicht mehr aufgehört, wobei er nicht mehr wusste, ob er nicht aufhören wollte oder ob er nicht konnte. Auf jeden Fall aber hatte er sich dermaßen abgeschossen, dass er jetzt immer noch nicht wieder richtig stehen konnte.

Eine Weile blieb Walter auf der Bettkante sitzen, völlig unfähig, irgendetwas zu tun. Dann stand er vorsichtig auf, um wenigstens irgendeine Art Tagesablauf zu starten. Er sah sich um und fand, dass dringend aufgeräumt und saubergemacht werden musste. Aber als er sich bückte, um ein Stück Zeitung vom Boden aufzuheben, wurde ihm prompt übel. Er schaffte es gerade noch bis zum Klo, wo er sich erst mal gründlich auskotzte. Er putzte die Zähne, trank noch zwei Gläser Leitungswasser und ging dann wieder ins Bett, nicht ohne den festen Vorsatz, nach höchstens ein oder zwei Stunden Schlaf den inneren und äußeren Saustall von Grund auf auszumisten.

Als Walter wach wurde, war es bereits dunkel. Er aß eine Kleinigkeit. Dabei stellte er fest, dass er fast nichts mehr im Haus hatte und dringend einkaufen musste. Aber es war schon nach acht, der kleine Supermarkt gleich um die Ecke hatte längst zu. Also verschob er alle guten Vorsätze auf den nächsten Morgen und verbrachte den Abend wie so viele andere vor dem Fernseher, wo ihn prompt eine bleierne Müdigkeit überfiel. Gegen drei Uhr schlich er sich mit schmerzendem Nacken vom Sofa ins Bett. Kaum, dass er aber drin lag, war er wieder rappelwach. An Schlaf war nicht zu denken und die Mühlsteine mahlten in seinem Kopf. Doch Walter blieb standhaft. Er griff nicht zur Flasche, was nicht zuletzt auch daran lag, dass er keinen Tropfen mehr im Haus hatte.

Am Freitagmorgen gegen sechs Uhr hielt Walter es im Bett nicht mehr aus. Er stand auf, holte Brötchen und frühstückte erst mal ausgiebig. Dabei las er in Ruhe die Zeitung, was er zu Hause sonst nur samstags tat. Plötzlich stand er mit einem Ruck auf. „So, Lehmann“, sagte er zu sich selbst, „jetzt ist Haushaltstag.“ Mit Schwung machte er sich an die Arbeit. Zuerst spülte er den Berg Abwasch weg, der sich völlig unerklärlicherweise angesammelt hatte. Dann entsorgte er eine beträchtliche Menge Müll und Leergut und sortierte seinen überquellenden Wäschekorb.

„Komisch“, dachte er. „Sonst habe ich nie eine Maschine vollgekriegt, und jetzt liegen hier Klamotten für drei Waschgänge.“ Angewidert roch er an einem Unterhemd, das einen mehr als herben Männergeruch ausströmte. War er damit etwa zur Arbeit gegangen?

Gut, dass mit dieser Schlamperei jetzt Schluss war. Gegen Mittag hatte Walter seine Wohnung komplett auf Vordermann gebracht. Irgendwie fühlte er sich besser als die ganzen letzten Monate zuvor. Er kochte sich einen Kaffee, dann nahm er sein Telefon und wählte eine Nummer im Ausland. Aber es nahm niemand ab.

Zur gleichen Zeit fuhren Anke und Dierk-Helge von Málaga aus auf der Küstenstraße in östliche Richtung. Der kleine Daihatsu hatte ganz schön zu tun. Anke scheuchte das Auto mit Schwung die Küste entlang, während Dierk-Helge auf dem Beifahrersitz mit Navi und Karte hantierte. Im Umkreis von 50 km um Málaga hatten sie schon alles abgeklappert, die Villas Selva y Mar aber nicht finden können. Das Exposee aus Sandmanns Büro zeigte eine Computer-Animation der zukünftigen Siedlung und einige Übersichtsaufnahmen von der Gegend. Man sah eine kleine, malerische Badebucht zwischen steilen Klippen. Ansonsten gab der Flyer auffallend wenig Information her. Anke, die ja gut spanisch sprach, hatte verschiedentlich Einheimische angesprochen, aber nur herausgefunden, dass die „Villas Selva y Mar“ nicht unmittelbar im Bereich von Málaga liegen konnten, da dort bereits alles hoffnungslos zugebaut war.

Sie waren nun bereits den fünften Tag unterwegs. Heute war Freitag, und Sonntag ging der Flieger zurück nach Paderborn. Aber die Stimmung war gut. Ankes Augen blitzten, sie liebte es einfach, Detektiv zu spielen. Und Dierk-Helge war alles recht, solange Anke gut drauf war. Vor, während und nach ihren permanenten ermittlungstechnischen Exkursionen nahmen sie sich reichlich Zeit zum Sonnenbaden, Schwimmen, Shoppen und für diverse Restaurantbesuche. Das Ganze verlief erstaunlich stressfrei. Im Gegenteil, der ausbleibende Ermittlungserfolg wurde von der unerwarteten Entdeckung etlicher traumhafter Badestellen und Restaurants mehr als wettgemacht.

„Du, guck mal, Schatz, da unten stehen Häuser an der Küste!“ Angestrengt blickte Anke von der deutlich höher liegenden Küstenstraße zum Meer hinunter und ging automatisch vom Gas. Dierk-Helge schaute ebenfalls nach rechts. Mehrere Dächer schimmerten durch die Pinienkronen, die hier auffallend dicht und grün standen. Gerade wollte Anke sich nach einer Abfahrtsmöglichkeit umschauen, als hinter ihnen ein infernalisches Hupen ertönte. Unabsichtlich war der kleine Wagen auf schlappe 50 km/h abgefallen, und nun saß ihnen irgendein Macho in einem silbernen Porsche im Nacken, der wild mit der Lichthupe flackerte. Das konnte Anke allerdings nur noch ahnen, denn der Drängler saß ihnen fast im Kofferraum.

Erschrocken trat Anke das Gaspedal durch und hob entschuldigend die Hand. Trotz Gegenverkehr überholte der Sportwagen aber mit brüllendem Motor. Ein typischer Porschefahrer mit Silberlocke und Sonnenbrille zeigte ihr den Mittelfinger.

„Boah, was für ein Arschloch!“ Wenn Anke eines nicht abkonnte, dann waren das aggressive Autofahrer in Angeberkarren. Obwohl sie komischerweise selbst gern einen recht heißen Reifen fuhr.

„Ey, lass den bloß fahren!“ Besorgt schaute Dierk-Helge zu seiner Liebsten hinüber, die das Gaspedal bis zum Bodenblech durchgedrückt und den dritten Gang bis weit in den roten Bereich hochgezogen hatte.

„Hast du das Kennzeichen gesehen? Das war ein Gütersloher. Kann doch kein Zufall sein!“

„Was, echt?“ Dierk-Helge erkannte sofort das Wetterleuchten im Gesicht von Anke. Er wusste, dass sie jetzt nur noch ein kapitaler Motorschaden aufhalten konnte. Aber auch bei Dierk-Helge stieg das Jagdfieber, der Terrier hatte angeschlagen. Sie kamen über eine Kuppe und konnten den Porsche in etwa 500 m Entfernung sehen. Der Daihatsu brachte mit gutem Zureden etwa 130 Sachen, das reichte, um dran zu bleiben, aber immer wieder riss der Blickkontakt ab.

So fuhren sie etwa fünf Kilometer, als sie sich einer kleinen Ortschaft näherten. Der Porsche verschwand zwischen den Häusern. Anke bemühte sich, das Dorf so schnell wie möglich zu durchfahren, ohne jemanden allzu sehr zu gefährden. Man schien diesen Fahrstil offensichtlich gewohnt zu sein, niemand störte sich daran. Am Ortsausgang machte die Straße einen leichten Bogen und ging dann kilometerweit schnurgeradeaus. Der Porsche war verschwunden. Anke hielt an einem Supermercado, haute aufs Lenkrad und fluchte.

„Scheiße, jetzt ist er weg.“

„Quatsch, ganz im Gegenteil!“ Dierk-Helge schaute sich um und scannte sorgfältig das Gelände.

„Wo immer er hinwollte, es muss hier in der Nähe sein. Links sind die Berge und rechts das Meer. „Da ist nicht viel zwischen.“ Anke schaute auf die Uhr. „Ich fahr mal zurück ins Dorf. Eigentlich könnten wir jetzt ganz gut irgendwo ‘nen Drink nehmen.“

Sie suchten sich eine nette kleine Bar an der Straße und setzten sich in die milde Sonne.

„Un café solo y una cervesa, por favor“, bestellte Anke in perfektem Spanisch.

„Becks oder San Miguel?“ antwortete der recht junge Kellner in ebenso perfektem Deutsch. Dierk-Helge entschied sich für San Miguel. Anke mochte es nicht, wenn der Tourismus die einheimischen Gepflogenheiten komplett verdrängte. Sie zog missbilligend die Nase kraus, was der Kellner offensichtlich bemerkte. „Dein Spanisch ist ja besser als meins“, lobte er. „Ich bin Pablo, aus Mannheim. Kaffee und Bier kommen sofort.“

Er ging ins Café und kam mit den bestellten Getränken zurück.

„Sag mal, gibt’s hier am Wasser nicht irgendwo ein paar nette Ferienhäuser zu mieten?“ Anke schenkte ihm einen ihrer unglaublichen Augenaufschläge. „Wir suchen was für nächstes Jahr.“

Pablo hätte sie liebend gern nächstes Jahr wiedergesehen, deshalb überlegte er angestrengt. „Hier in der Gegend gibt es nichts, fürchte ich“, sagte er dann mit erkennbarem Bedauern. „Unten am Meer stehen ein paar Anwesen, ist aber alles Privatbesitz. Ziemlich reiche Leute. Ich glaube nicht, dass von denen jemand vermietet.“

„Oh schade. Der Küstenabschnitt ist noch so wunderbar unberührt. In Málaga ist es viel zu voll. Und überall nur blöde Touristen!“

Aber Pablo schüttelte den Kopf. „Die Küste ist in diesem Bereich nur schwer zugänglich. Bis auf die Handvoll Privatvillen gibt es hier nichts.“

„Komisch“, meinte Dierk-Helge zu niemand bestimmtem, „ich hatte doch im Internet gelesen, dass hier irgendwo eine neue Ferienanlage im Bau ist. Ziemlich exklusive Sache.“

Pablo lächelte. „Nein, hier wird nichts gebaut. Das wüsste ich. Ich bin seit vier Wochen aus Deutschland zurück und mache seitdem nichts weiter, als auf diese blöde Straße zu starren.“

„Echt?“ Verwunderung schaute aus Ankes braunen Rehaugen. „Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass das hier war. Wie hieß das Objekt doch gleich noch? Villas Selva y Mar. Oder, Schatz?“

Dierk-Helge nickte versonnen. Pablo runzelte die Stirn. Dann wandte er sich an einen älteren Mann, der in der hinteren Ecke der Terrasse saß, Rotwein trank und Zeitung las. Von dem spanischen Wortschwall, den Pablo auf ihn abfeuerte, verstand Anke kein Wort. So viel zum Thema Spanisch-Leistungskurs. Der Alte sagte drei knappe Sätze und nickte vage in Richtung Málaga.

„Der Jéfe sagt, hier wird nicht gebaut. Kein Mensch hat Geld.“

Der Alte gab einige weitere Bemerkungen ab, Pablo übersetzte simultan.

„Weiter unten, fünf Kilometer zurück Richtung Málaga, da ist irgendwas im Gange. Letztes Jahr ist im Reservat ‘ne Baustelle gewesen. Die sind wohl pleite gegangen, wie so viele andere auch. Seit einiger Zeit wird da wieder gearbeitet, genaues weiß man aber nicht. Ist sowieso nichts für die hiesige Wirtschaft. Das sind stinkreiche Leute da, kommen alle von außerhalb.“

„Ah, kann sein, dass es das war. Eine Abfahrt zum Meer habe ich aber nirgends gesehen. Muss ich wohl verpasst haben.“ Für Anke schien das Thema erledigt zu sein.

„Nein, nein, da gibt es keine Abfahrt. Du musst die Straße nehmen, die vorn im Ort abgeht. Die führt herunter zum Meer und dann weiter zu den Anwesen unterhalb des Dorfes. Von da aus geht eine schmale Straße zu diesen Privatvillen. Sie endet allerdings an einem Parkplatz für Wanderer. Das Ganze ist so ein Naturreservat. Ab da geht nur noch ein Schotterweg weiter. Und irgendwo dort ist auch diese Baustelle. Ich war aber selber noch nie da. Wenn Sie hinwollen, nehmen Sie besser einen Jeep, die Piste ist angeblich ziemlich schlecht.“

„Ach, ist ja auch egal. Wenn die pleite sind, können wir da nächstes Jahr auch nicht buchen.“

Sie zahlten, verabschiedeten sich von dem freundlichen Pablo, stiegen in ihren kleinen Daihatsu und fuhren los. Am Ortsausgang wollte Dierk-Helge, dass Anke nach links zum Meer abbog, aber Anke fuhr zurück ins Hotel. „Morgen“, sagte sie. „Morgen machen wir eine Wanderung.“

Zweitausend Kilometer nördlich versuchte ein inzwischen verzweifelter Walter Lehmann immer noch beständig, seinen ersehnten Telefonkontakt herzustellen. Er tigerte durch die Wohnung und blieb nach einer Weile rastlosen Umherwanderns wie zufällig vor seiner kleinen Vitrine stehen. Wo sonst immer die Flasche stand, war es leer. Walter merkte, dass er jetzt gern einen ordentlichen Schluck genommen hätte. Er verfluchte sich dafür und tat das einzig Richtige: Er soff eine Pulle Mineralwasser auf ex.

Nur ein Schubs

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