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Was ist Achtsamkeit und warum ist sie wichtig?
ОглавлениеUnter Forschern, Psychologen, Ärzten, Erziehern, aber auch in der allgemeinen Öffentlichkeit hat das Interesse an Achtsamkeit während der letzten Jahre enorm zugenommen. Es gibt inzwischen eine Menge wissenschaftlicher Forschungsergebnisse, die die Vorteile der Achtsamkeit für die körperliche und geistige Gesundheit belegen. Doch was genau meinen wir mit „Achtsamkeit“?
Hier ist die Definition, die ich gern verwende:
Achtsamkeit bedeutet, dem, was um Sie herum und in Ihnen geschieht – in Ihrem Körper, Herzen und Geist –, bewusst die volle Aufmerksamkeit zu schenken. Achtsamkeit ist Aufmerksamkeit ohne Kritik und ohne Urteil.
Manchmal sind wir achtsam und manchmal nicht. Ein gutes Beispiel ist das Achten auf Ihre Hände am Steuer eines Autos. Erinnern Sie sich an Ihre erste Fahrstunde und daran, wie der Wagen damals in Schlangenlinien vorankam, während Ihre Hände das Steuer ungeschickt hin und her drehten, korrigierten und überkorrigierten. Sie waren hellwach und ganz und gar auf die Mechanik des Autofahrens konzentriert. Nach einer Weile lernten Ihre Hände dann, richtig zu steuern und automatisch feine Korrekturen vorzunehmen. Sie vermochten den Wagen flüssig voranrollen zu lassen, ohne noch bewusst auf Ihre Hände zu achten. Sie konnten gleichzeitig lenken, reden, essen und Radio hören.
Dies ist ein Beispiel für eine Erfahrung, die wir alle bereits gemacht haben – die des Fahrens, während wir auf Autopilot geschaltet haben. Sie suchen nach den Schlüsseln, öffnen die Autotür, setzen vorsichtig aus der Auffahrt zurück und … fahren in die Parkgarage am Arbeitsplatz. Aber Moment mal! Was passierte mit den dreißig Kilometern und vierzig Minuten, die zwischen Ihrem Haus und dem Arbeitsplatz liegen? Waren die Ampeln rot oder grün? Ihr Geist hat in irgendeinem angenehmen oder auch betrüblichen Bereich Ferien gemacht, während Ihr Körper Ihr Gefährt geschickt durch den fließenden Verkehr und Wartezeiten an roten Ampeln manövriert hat, bis Sie plötzlich an Ihrem Bestimmungsort wieder aufgewacht sind.
Ist das etwas Schlechtes? Es ist nicht schlecht in dem Sinne, dass Sie sich deshalb schämen oder schuldig fühlen sollten. Wenn Sie in der Lage sind, seit Jahren auf Autopilot zur Arbeit zu fahren, ohne einen Unfall zu bauen, dann ist das eine reife Leistung! Wir könnten jedoch sagen, dass es traurig ist. Verbringen wir nämlich viel Zeit, in der unser Körper eine Sache tut, während unser Geist woanders Ferien macht, so bedeutet dies, dass wir für einen guten Teil unseres Lebens nicht präsent sind. Und sind wir nicht präsent, dann haben wir dauernd ein vages Gefühl des Unbefriedigtseins. Dieses Gefühl der Unzufriedenheit, einer Kluft zwischen uns selbst und allen anderen Dingen und Menschen, ist eines der Grundprobleme des menschlichen Lebens. Es führt zu jenen Momenten, in denen uns ein Gefühl tiefen Zweifels und abgrundtiefer Einsamkeit durchfährt.
Der Buddha nannte dies die „Erste Wahrheit“: die Tatsache, dass jeder Mensch irgendwann diese Not erfährt. Natürlich gibt es in unserem Leben auch viele glückliche Momente, doch wenn unsere Freunde nach Hause gegangen sind, wenn wir einsam oder müde sind oder wenn wir uns enttäuscht, traurig oder betrogen fühlen, dann tauchen die Unzufriedenheit und das Unglücklichsein wieder auf.
Wir alle versuchen es mit rezeptfreien Heilmitteln – mit Essen, Drogen, Sex, Überarbeitung, Alkohol, Kino, Einkaufen, Spielen –, um das Leiden des gewöhnlichen Lebens als Menschenwesen zu lindern. Alle diese Heilmittel funktionieren für eine Weile, aber die meisten von ihnen haben Nebenwirkungen – wie etwa Schulden, einen Filmriss, Inhaftierung oder den Verlust von jemandem, den wir lieben –, und damit vergrößern sie auf lange Sicht unser Leiden nur noch.
Die Packungsbeilage dieser rezeptfreien Heilmittel besagt: „Nur zur vorübergehenden Linderung von Symptomen geeignet. Wenn die Symptome anhalten, suchen Sie einen Arzt auf.“ Im Laufe vieler Jahre habe ich ein verlässliches Heilmittel zur Linderung des immer wieder auftretenden Unbehagens und Unglücklichseins gefunden. Ich habe es mir selbst und vielen anderen Menschen verschrieben – mit ausgezeichneten Ergebnissen. Es ist die regelmäßige Übung von Achtsamkeit.
Viele der Unzufriedenheiten mit dem Leben werden verschwinden und viele einfache Freuden werden auftauchen, wenn wir lernen, für die Dinge, so wie sie sind, präsent zu sein.
Sie haben bereits Augenblicke der achtsamen Aufmerksamkeit erlebt. Jeder Mensch kann sich wenigstens an eine Gelegenheit erinnern, bei der er vollkommen wach war und alles klar und lebendig wurde. Wir nennen diese Momente Gipfelerfahrungen. Es kann dazu kommen, wenn wir etwas ungewöhnlich Schönes oder Beeindruckendes erfahren, wie etwa die Geburt eines Kindes oder den Tod eines geliebten Menschen. Es kann auch geschehen, wenn unser Auto ins Schleudern gerät. Die Zeit verlangsamt sich, während wir beobachten, ob es zu einem Unfall kommt oder nicht. Aber es muss gar nichts Dramatisches sein. Es kann während eines gewöhnlichen Spaziergangs dazu kommen, wenn wir um eine Ecke gehen und plötzlich alles für einen Augenblick leuchtet.
Was wir Gipfelerfahrungen nennen, sind Zeiten, zu denen wir vollkommen wach sind. Unser Leben und unsere Aufmerksamkeit sind nicht voneinander getrennt, sie sind eins. In diesen Momenten schließt sich die Kluft zwischen uns und allem anderen und das Leiden verschwindet. Wir fühlen uns zufrieden. Tatsächlich sind wir jenseits von Zufriedenheit und Unzufriedenheit. Wir sind gegenwärtig. Wir sind Gegenwart. Wir erhalten eine vielversprechende Kostprobe von dem, was die Buddhisten das erleuchtete Leben nennen.
Diese Momente verblassen unweigerlich und schon sind wir wieder getrennt – und sauer darüber. Wir können das Eintreten von Gipfelerfahrungen oder Erleuchtung nicht erzwingen. Das Werkzeug der Achtsamkeit kann uns jedoch helfen, die Lücken zu schließen, die unser Unglücklichsein verursachen. Achtsamkeit vereinigt unseren Körper, unser Herz und unseren Geist und bringt sie in gesammelter Aufmerksamkeit zusammen. Wenn wir auf diese Weise vereinigt sind, wird die Schranke zwischen „Ich“ und „alles andere“ immer durchlässiger, bis sie in einem einzigen Augenblick verschwindet! Für eine Weile, manchmal nur für einen kurzen Moment, aber gelegentlich auch für ein ganzes Leben, ist alles ganz, ist alles heilig und in Frieden.