Читать книгу Achtsam durch den Tag - Jan Chozen Bays - Страница 9
2. Achtsamkeit schult und stärkt den Geist
ОглавлениеWir wissen alle, dass man den Körper trainieren kann. Wir können beweglicher werden (Turner und Akrobaten), graziöser (Balletttänzer), geschickter (Pianisten) oder stärker (Gewichtheber). Der Tatsache jedoch, dass es viele Aspekte des Geistes gibt, die man kultivieren kann, sind wir uns weniger bewusst. Kurz vor seiner Erleuchtung beschrieb der Buddha die Eigenschaften von Herz und Geist, die er über viele Jahre entwickelt hatte. Er hatte beobachten können, dass sein Geist „gesammelt, gereinigt, licht, unbefleckt, geschmeidig, gehorsam, frei von Mängeln und unerschütterlich“ geworden war. Wenn wir Achtsamkeit üben, lernen wir, den Geist aus seiner gewohnheitsmäßigen Voreingenommenheit herauszuheben und ihn an einem Ort unserer Wahl abzusetzen, um einen bestimmten Bereich unseres Lebens zu erhellen. Wir schulen ihn darin, leicht, machtvoll und flexibel zu sein und sich auf das zu konzentrieren, worauf wir ihn richten möchten.
Der Buddha sprach von der Notwendigkeit, den Geist zu zähmen. Er verglich diesen Vorgang mit dem Zähmen eines wilden Elefanten aus dem Dschungel. So wie ein wilder Elefant Schaden anrichten kann, indem er die Ernte niedertrampelt und Menschen verletzt, so kann der ungezähmte und launische Geist uns selbst und den Menschen um uns herum schaden. Unser menschlicher Geist besitzt viel mehr Macht und viel größere Kräfte, als uns klar ist. Die Achtsamkeit ist ein wirksames Instrument zur Schulung des Geistes; sie verschafft uns Zugang zum wahren Potenzial des Geistes – zu Einsicht, Freundlichkeit und Kreativität – und ermöglicht uns, es zu nutzen.
Der Buddha wies darauf hin, dass man einen wilden Elefanten, nachdem man ihn eingefangen und aus dem Dschungel herausgeführt hat, erst einmal an einen Pfahl binden muss. Was unseren Geist angeht, so nimmt der Pfahl die Form dessen an, worauf wir die Aufmerksamkeit in unserer Achtsamkeitsübung richten – zum Beispiel die Form des Atems, des Essens in unserem Mund, unserer Körperhaltung. Wir verankern den Geist, indem wir ihn immer und immer wieder zu einer Sache zurückkehren lassen. Das beruhigt ihn und befreit ihn von Ablenkungen.
Ein wilder Elefant hat viele ungestüme Gewohnheiten. Er läuft weg, wenn sich ihm Menschen nähern. Er greift an, wenn er sich fürchtet. Mit unserem Geist ist es ganz ähnlich. Wenn er Gefahr spürt, rennt er vor der Gegenwart davon. Er flüchtet sich in angenehme Phantasien, in Gedanken an künftige Rache, oder er wird einfach taub. Wenn er verängstigt ist, greift er vielleicht in einem Wutausbruch andere Menschen an, oder er richtet den Angriff nach innen mit stiller, aber zersetzender Selbstkritik.
Zu Lebzeiten des Buddha wurden Elefanten als Reittiere für den Krieg trainiert; man brachte ihnen bei, Befehlen zu gehorchen, ohne vor dem Lärm und dem Chaos auf dem Schlachtfeld zu fliehen. So kann auch ein durch Achtsamkeit geschulter Geist den sich schnell verändernden Bedingungen des modernen Lebens unerschütterlich standhalten. Ist unser Geist erst einmal gezähmt, vermag er ruhig und gefestigt zu bleiben, wenn er mit den unvermeidlichen Schwierigkeiten in dieser Welt konfrontiert wird. Schließlich laufen wir nicht mehr vor Problemen davon, sondern sehen sie als eine Möglichkeit, unsere physische und mentale Stabilität auf die Probe zu stellen und auszubauen.
Die Achtsamkeit hilft uns, die gewohnheitsmäßigen und konditionierten Fluchtmechanismen unseres Geistes zu erkennen, und gestattet es uns, eine alternative Weise des In-der-Welt-Seins auszuprobieren. Diese Alternative besteht darin, unseren Geist in den tatsächlichen Ereignissen des gegenwärtigen Augenblicks ruhen zu lassen – in den Klängen, die wir mit den Ohren hören, den Empfindungen, die wir über unsere Haut fühlen, den Farben und Formen, die die Augen aufnehmen. Achtsamkeit hilft, das Herz und den Geist zu stabilisieren, sodass sie von den unvorhergesehenen Ereignissen in unserem Leben nicht mehr so heftig durchgerüttelt werden. Üben wir Achtsamkeit lange und geduldig genug, dann interessieren wir uns schließlich für alles, was geschieht; wir werden neugierig darauf, was wir aus Widrigkeiten und schließlich sogar aus unserem eigenen Tod lernen können.