Читать книгу Rote Linie - Jan Eickmann - Страница 13
ОглавлениеDelirium
Unsere Mutter trank immer mehr und ich war zu klein, als dass ich das Ausmaß hätte überblicken können.
Der Alkohol gehörte zu meinem Alltag und ich wusste schon nicht mehr, wie ein anderes Leben hätte aussehen können.
Ich kann mich an keine Schulfreunde erinnern, was nicht verwunderlich ist, da mir aus dieser Zeit, was die Schule angeht, jegliche Erinnerung fehlt.
In der Schule war ich laut Zeugnis eher schlecht. Bedenkt man die Umstände, in denen ich aufgewachsen bin, ist es eigentlich ein Wunder, dass ich die Schule überhaupt geschafft habe.
Ich habe das meinem Bruder zu verdanken, denn er war es, der in seiner Jugend versuchte, mir ein Gefühl von Normalität zu geben.
Er sorgte für einen Ausgleich zwischen Schule und Freizeit.
Er und ich gingen oft auf einen Abenteuerspielplatz in Barmbek, den es heute wohl nicht mehr gibt. Es gab dort einiges, was man anstellen konnte. Ein richtiger Abenteuerspielplatz eben, mit Tischtennisplatte, Spielzeug und anderen Kindern in meinem Alter. Der Spielplatz war so beliebt, dass selbst die Bild-Zeitung damals darüber berichtete.
Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich fotografiert und auch tatsächlich in der Bild-Zeitung veröffentlicht wurde. Dieser Artikel hing kurze Zeit später bei mir in der Schule.
Er war mein ganzer Stolz, denn ich konnte endlich mal etwas anderes sein als das Kind, das sich mit Alkohol und Hunger beschäftigen musste.
Soweit ich mich erinnere, gab es niemanden an der Schule, der um unsere Situation zu Hause Bescheid wusste.
Natürlich war ich eher schlecht in der Schule. Ich war müde, wahrscheinlich auch mangelernährt und selten bei der Sache. Mein Bruder achtete auf unsere Mutter, damit diese irgendwie funktionierte und das Jugendamt nicht mitbekam, was bei uns los war. Gleichzeitig hatte er auch ein Auge auf mich.
An guten Tagen fanden wir eine Graupensuppe und frisch gewaschene Wäsche, an schlechten Tagen unsere Mutter betrunken vor.
Ab und an kam es vor, dass ich meinen Schlüssel vergessen hatte, sodass ich klingeln musste. An so einem Tag geschah es, dass unsere Mutter mir die Tür öffnete und fragte mich, was ich denn möchte. Ich erklärte ihr, dass ich meinen Schlüssel vergessen hätte. Sie fragte: „Wer sind Sie?“ Ich lachte und sagte:
„Ich bin es. Jan.“
„Ich kenne keinen Jan“, sagte sie mit ruhiger Stimme.
„Mama, ich bin es, bitte lass mich rein!“
Sie lächelte nur leicht und meinte, dass sie mich nicht kenne und schloss die Tür emotionslos zu, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.
Wieder klingelte ich, denn ich verstand nicht, was das sollte. Die Tür blieb verschlossen. Ich war in Sorge, denn ich hatte gesehen, wie leer ihr Blick war und wie abwesend sie wirkte.
Ich setzte mich auf die Treppe im Hausflur und weinte. So hatte ich sie noch nie gesehen und in mir kam das Gefühl der Überforderung auf. Handys gab es damals nicht. Da ich nicht wusste, wo mein Bruder war, blieb mir nichts anderes übrig, als erst einmal zu warten. Es vergingen circa zehn Minuten, bis ich mich erneut traute zu klingeln.
Ruckartig ging die Tür auf und meine Mutter bat mich herein, als hätten wir eben kein Gespräch geführt.
„Was war das eben?“, wollte ich von ihr wissen.
Abermals bekam ich keine Antwort von ihr.
Ich fühlte mich verunsichert und konnte das alles überhaupt nicht verstehen. Meine Mutter befand sich wieder im Delirium, was ich damals aber nicht wissen konnte. Der Alkohol hatte ihren Körper so sehr vergiftet, dass dieser nicht mehr funktionierte.
Wir saßen im Wohnzimmer und ich versuchte, die merkwürdige Stimmung in etwas Gutes zu verwandeln, indem ich ihr irgendetwas erzählte, was Achtjährige halt erleben.
Mitten in meinen Erzählungen unterbrach sie mich und sagte mir, dass wir aufs Dach müssten. Dort würden fliegende Autos sein, die sie gleich abholen kämen. Ich verstand nicht, was sie meinte und widersprach ihr, doch das schien sie überhaupt nicht zu erreichen.
Unruhig und fast weinend versuchte ich, ihren Gedanken zu folgen. Mit zittriger Stimme probierte ich, ihr zu erklären, dass es keine fliegenden Autos auf dem Dach gibt.
Sie schwankte in die Küche, nahm sich den Wäschekorb, der da schon eine Weile stand und ging zum Wäscheaufhängen auf den Dachboden, wo sie ihre fliegenden Autos erwartete.