Читать книгу Rote Linie - Jan Eickmann - Страница 20
ОглавлениеIn meinem Zimmer versuchte ich, mich nicht zu übergeben. Ich würgte und kämpfte mit mir und versuchte, mich zu beruhigen, was nur gelang, wenn ich nicht an die nächste Mahlzeit dachte, die nicht lange auf sich warten ließ. Ich wusste, dass ich noch satt sein würde von dem vorangegangenen Fraß, wenn diese anstand. Am Abend machte ich mich, so schnell es ging, für das Bett fertig. Das war der einzige Platz, wo ich lange Zeit Ruhe vor ihnen hatte. Es gab aber auch Tage, an denen auch das nicht der Fall war. Ich hatte von ihnen aufgetragene Sachen zu erledigen und eine gewisse Reinlichkeit an den Tag zu legen.
Abends sollte ich mich immer baden. Nach den vielen Grießbrei-Mahlzeiten-Attacken und deren Tortur vergaß ich es eines Abends das Baden. Ich war erschöpft und hatte es komplett vergessen. An diesem Abend kam meine Tante in das Zimmer gestürmt und fragte mich, ob ich nicht etwas vergessen hätte. Mir war nicht klar, wovon sie redete. Sie klärte mich sogleich auf und die Strafe ließ nicht lange auf sich warten. Da ich an diesem Abend nicht gebadet hatte, befahl sie mir, bei offenem Fenster auf dem Boden zu schlafen, ohne Decke oder Kissen, was sie auch kontrollieren würde. Wer so sehr stinken würde wie ich, hätte es nicht anders verdient. Sie riss das Fenster auf, draußen waren zehn Grad unter null. Mit einer kurzen orangen und sehr dünnen Schlafhose und einem kurzärmeligen Hemdchen legte ich mich auf den Boden, direkt vor dem Fenster. Ich wusste, sie würde die ganze Nacht wach bleiben, um mich zu kontrollieren, was sie auch tat. Jede Stunde kam sie herein. Nach drei Stunden hielt ich es kaum noch vor Kälte aus und deckte mich heimlich mit einem Flokati zu, der in meinem Zimmer lag. Ich war müde und erschöpft. Als sie ins Zimmer kam und mich damit erwischte, schrie sie mich an und nahm mir den Teppich weg. Kinder, die stinken, so wie ich und nicht baden, müssten bei offenem Fenster schlafen und verdienen keine Decke, so ihre Aussage. Ich durfte das Fenster nicht schließen, es interessierte sie nicht, dass ich wie verrückt zitterte. Ihr war klar, dass ich bei dieser Kälte niemals schlafen würde, weshalb sie dazu überging, mir nachts Matheaufgaben zu stellen, die ich lösen musste. Sie selbst hatte sich eine dicke Decke umgeworfen. Mittlerweile war das Zimmer komplett ausgekühlt und ich fror weiter. Ich war komplett übermüdet und um vier Uhr nachts ließ sie von mir ab. Sie schloss das Fenster und ging schlafen. Jetzt erlaubte sie mir, mich mit dem Flokati Teppich zuzudecken, mehr aber nicht. Das Bett war tabu.
Nach eineinhalb Stunden unruhigen Schlafs durfte ich wieder aufstehen, denn meine morgendliche Aufgabe wartete schon. Jeden Morgen halb sechs musste ich zum Bäcker, um Brötchen zu holen. Schnell stellte ich fest, dass alles, was mit Essen zu tun hatte, der reinste Stress für mich war. Mein Körper wehrte sich vehement gegen alles Essbare.
Ich stand vor dem Bäcker, der frische Duft von Brötchen stieg in meine Nase und erneut legte das Würgen los, was mich überraschte. Ich ging in die Backstube, würgte wie ein Verrückter, bestellte meine Brötchen und ließ sie mir vor die Tür bringen. Der Duft, der für andere der Beginn des neuen Tages war, war für mich eine Qual.
Der Bäckermeister ignorierte mein merkwürdiges Verhalten, ich bezahlte die Brötchen und machte mich auf den Weg nach Hause. Dort angekommen, musste ich den Tisch decken, Kaffee kochen, alles vorbereiten. Für ihre Lieblingsmarmelade mit Orangengeschmack und Orangenstückchen hatten sie immer die passenden Gefäße, die ich zu befüllen hatte. Mir schmeckte die Marmelade irgendwie immer zu bitter, was das Essen nicht einfacher machte für mich, wenn es dann Brötchen auch für mich gab.
Mir war klar, wenn sie die Marmelade essen wollten, musste ich es auch, doch alles war besser als Grießbrei. Hatte ich Schule, konnte ich alles etwas abkürzen. Ich hatte nicht viel Zeit und so fielen die Mengen morgens kleiner aus. Für die Schule schmierte sie mir Brote, die ich auf dem Weg dahin wegschmiss. Irgendwann fragte sie mich, wie mir die Brote mit Käse geschmeckt haben. Ich befand sie als gut und tappte in die Falle. Es war Schicken und kein Käse, was sie wusste und somit war klar, dass ich gelogen hatte. Sie erzählte mir, die Lehrer hätten angerufen, um zu fragen, warum ich kein Pausenbrot mitbringen würde.
Ich gestand alles, wusste ich doch, dass Lügen sie nur noch mehr verärgern würde. Niemand hatte angerufen oder mich dabei gesehen. Das war alles eine Falle und ich tappte aus Angst hinein.
Das hatte Folgen für mich. Zuerst ging sie verbal auf mich los. Sie schrie mich an und brüllte in einer Tour, wie undankbar ich wäre und dass Kinder in Afrika hungern würden. Als sie dann richtig in Rage war, drohte sie mir mit meinem Onkel. Was das bedeutete, wusste ich. Er durfte mich verprügeln, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Ich lebte den ganzen Tag in Angst, weil ich mittlerweile wusste, was dann abends passieren würde.
Als mein Onkel nach Hause kam, erzählte sie ihm wild wippend mit dem Fuß, was ich getan hatte. Sie wippte dabei so heftig, dass ihr Übergewicht ein Eigenleben bekam.
Mein Onkel versuchte anfangs, dem Vortrag von ihr aus dem Weg zu gehen und auch dem, was sie von ihm verlangte. Hatte sie ihn so weit, musste ich mit ihm ins Kinderzimmer. Dort nahm er den Gürtel ab und ich musste mich mit heruntergezogener Hose, mit dem Rücken ihm zugewandt, vor ihn stellen. Er schlug ohne Vorwarnung und heftig zu. Der Gürtel knallte auf die nackte Haut, der Schmerz fing erst an zu brennen, dann setzte eine Übelkeit ein, die von den Schmerzen kam. Während er mich mit dem Gürtel verprügelte, sagte er mir süffisant nebenbei, dass er das ja nicht gerne täte und dass er sich wünsche, ich würde meine Tante nicht so verärgern.
Hatte er mich genügend gezüchtigt, lächelte er mir zu und meinte, dass er mich ja lieb hätte. Er verließ mein Zimmer, ging zu meiner Tante und erklärte, dass er mit mir geredet hätte.
Kurz darauf kam sie in mein Zimmer, sah, wie ich mich weinend wieder anzog und erklärte mir, dass sie jetzt einkaufen gehen würde. Daraufhin verließ sie die Wohnung.
Kaum war die Haustür zugefallen, rief mein Onkel aus dem Gästebad, dass ich zu ihm kommen solle. Das Bad war klein und eng sowie schlecht beleuchtet, aber es war der Platz, wo ich mich mir abends immer die Zähne putzte.
Er fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, ihn ein bisschen zu streicheln. Mein Hintern brannte noch und bis dahin dachte ich an nichts Schlimmes. Was jetzt kam, war mir neu. Mein Onkel saß auf der Toilette mit heruntergelassener Hose. Er griff nach meiner Hand, die seinen steifen Penis umgreifen musste. Damit ich meine Hand nicht wegziehen konnte, hielt er sie fest, wo sie sich gerade befand. Während ich sein Glied hin- und herbewegte, hörte ich ihn lauter atmen. Ich kannte es ja nicht, was da passierte. Bei dem Versuch, mich aus seiner Hand zu lösen, hielt er meine fester. In mir stieg das Unbehagen, weil ich in seinem Gesicht eine Veränderung sah. Seine Atmung wurde immer schneller und immer heftiger. Ich war durcheinander und schaute verwirrt und beschämt in die Toilettenschüssel. Auf einmal sah ich eine weiße Flüssigkeit sich ihren Weg bahnen. Ich hatte unfreiwillig den ersten Orgasmus eines Mannes miterlebt. Ich fühlte seine Erleichterung in meiner Hand und endlich ließ er sie los.
Solche Momente wiederholten sich viele Male in den nächsten Jahren. Natürlich konnte er nur zu mir kommen, wenn meine Tante nicht dabei war. Ich traute mich nie, mich ihr oder sonst jemandem anzuvertrauen. Seine Drohung, mich ins Heim zu stecken, hielt mich davon ab.
Was hätte es auch gebracht? Meine Tante hätte mir sowieso nicht geglaubt. Dieser Missbrauch ging so lange, wie ich bei ihnen lebte. Es begann mit neun Jahren und hörte erst mit zwölf Jahren wieder auf. Ich versuchte, die Übergriffe, so schnell es ging, wieder zu vergessen. Ich war in einer Hölle gefangen, der ich nicht entkommen konnte.
Die Wochen und Monate gingen ins Land und es war eine Mischung aus Vergewaltigung der Seele, des Körpers, Schlägen und Erniedrigungen. Es gab Tage, an denen ich morgens aufwachte und essen konnte. Es ging wie von allein. Ich würgte nicht, ich trank meinen Tee und alles war gut.
Meine Tante merkte es sofort und wurde weicher, wenn es diese Tage gab. Sie wurde fast liebevoll. Sie freute sich, wenn ich fragte, ob ich noch etwas Brot haben kann.
An diesen Tagen verwöhnte sie mich. Sie kaufte mir schöne Dinge, streichelte mich und sagte mir, wie lieb sie mich doch hat. Ihre Fragen an diesen Tagen waren immer die Gleichen: warum ich es ihr denn immer so schwer machen würde, wie toll das doch jetzt gerade sei, ich könne das doch so immer haben. Dass nicht sie es schwer hatte, sondern ich, weil sie mich quälte, kam ihr nicht in den Sinn.
Doch ich wusste, dass das Martyrium weiterging, wenn ich am nächsten Morgen wieder aufwachte und mein Körper sich auf Krieg umschaltete, ohne dass ich etwas dagegen machen konnte.
Ihre Schläge und die sexuellen Übergriffe von ihm hatten aus mir ein unruhiges Kind gemacht, das sich weder konzentrieren noch Sachen merken konnte. Wenn ich abends nicht badete, lud mich mein Onkel, wenn meine Tante unterwegs war, auch mal gern zu sich in die Badewanne ein. Es spielte keine Rolle, dass ich das nicht wollte. So konnte er ihr aber sagen, dass das Baden schon erledigt war. Ich stieg in das Schaumbad und mein Onkel befahl mir gleich, zu ihm herüberzukommen. Ich hockte zusammengekauert am Ende der Badewanne in der Hoffnung, dass es nicht dazu käme, wenn ich ihn auf gar keinen Fall berührte. Doch er erzählte mir etwas von Liebe. Er entschuldigte sich dafür, dass er mich noch vor vierundzwanzig Stunden geschlagen hatte. Er zog mich zu sich, sodass ich mit dem Po genau auf seinen Penis rutschte. Er fing immer mit langsamen Umarmungen an und schon bald spürte ich seine Erregung. Er drang so weit wie möglich in mich ein, bis er bemerkte, dass das nicht weiterging. Er ließ dann doch von mir ab, allerdings nicht, ohne seine erzwungene Befriedigung zu erhalten.
Ich fühlte mich benutzt und ausgeliefert.
Es schien ihm immer mehr Spaß zu machen, denn auch die Orte wechselten. Fand am Anfang noch alles heimlich im Gäste-WC statt, war es bald die Badewanne gewesen und später das Ehebett. Er befahl mir, mich nackt zu ihm ins Bett zu legen. Er versuchte immer wieder, in mich einzudringen, doch so sehr er sich auch bemühte, ging es erst nicht wirklich. Mein Körper und meine Seele verließen in diesem Moment einander. Das war für mich die einzige Chance, diese Qual zu überstehen. Ich war ein Kind, ich konnte mich seinem Willen nicht entziehen. Ich konnte mich nicht wehren, denn hätte ich das getan, hätte er mich durch das geschlossene Fenster geworfen. Ich verstand seine Drohung, die er beiläufig ausstieß.
Ich wusste, wozu er fähig war. Wir hatten zu Weihnachten seinen Sohn zu Besuch, den ich nur dieses eine Mal sah, als ich bei ihnen lebte. Die Energie und die Angst, die er vor seinem Vater hatte, konnte man förmlich spüren.
Auch er musste wohl einiges durchlebt haben. Ich telefonierte Jahre später mal mit ihm und er erzählte mir, dass ihn sein Vater fast umgebracht hätte. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört.
Meine Tante hatte tagsüber wieder einen Job. Innerlich jubelte ich, wusste ich doch, dass ich endlich ein wenig durchatmen konnte.
Sie erklärte mir, dass ich mir am Tage jetzt selbst die Suppe warmmachen muss, die sie mir hinstellt. Ich bräuchte sie nur kurz erwärmen. Sie hatte den Satz nicht mal zu Ende gesprochen, da hatte ich den ganzen Fraß in Gedanken schon dem Klo übergeben. Nie und nimmer würde ich das essen, geschweige denn würde sie herausfinden, dass ich es nicht gegessen hatte.
Ich kam am ersten Arbeitstag meiner Tante nach Hause und schloss die Tür auf. Es war keiner da, niemand, der mich quälte, keiner, der mich zum Essen zwang. Ich betrat die Küche und da stand er, der Topf mit Suppe. Ich schaute rein, sah, was drin war, aß etwas davon und kippte den Rest in die Toilette. So machte ich es viele Wochen lang. Immer etwas essen, dann den Rest wegschütten. Manchmal gab es eine Mahlzeit, die ich noch weniger mochte und dann schüttete ich gleich alles weg.
Eines Abends rief mich meine Tante ins Wohnzimmer und fragte beiläufig, warum ich das Essen ins Klo schütte? Ich war wie erstarrt vor Angst. Wie konnte sie das wissen? Wie hatte sie das nur herausgefunden? Das hatte sie natürlich nicht. Sie hatte es nur so überzeugend gesagt, dass ich mich sofort ertappt fühlte und es zugab. Meine Tante hätte es nicht wissen können, sie war ja nicht dabei, doch ich Idiot rannte schnurstracks in ihre Falle. Sie wusste, wie man Kinder manipulierte. Das hatte Konsequenzen. Sie brüllte und schrie, wer ich denn sei und was ich glaubte, wer sie sei. Sie war völlig außer sich und tobte und wütete und schrie mir ins Gesicht.
Plötzlich hielt sie inne, ihr lief Blut aus der Nase. Sie rannte an mir vorbei zum Waschbecken. Ich folgte ihr vorsichtig.
Im Bad angekommen, sah ich, wie ihr eine Blutfontäne aus Mund und Nase schoss.
Ich hatte so eine Menge Blut noch nie gesehen und war völlig verängstigt. Ich starrte sie an, als sie sich plötzlich zu mir umdrehte und blutverschmiert und tropfend losschrie und sich ständig dabei an ihrem eigenen Blut verschluckte:
„Das ist alles deine Schuld. Du bist schuld daran, dass ich so blute, wegen dir werde ich noch verbluten!“
Sie gluckste und räusperte sich in ihrem Blutschwall. In meiner Angst, nicht wissend, was da in diesem Moment passierte, weinte ich wie verrückt, entschuldigte mich tausendmal, versprach, jetzt besser zu essen und wusste vor lauter Hilflosigkeit nicht, was ich tun sollte.
Mein Onkel hörte meine Tante brüllen, kam dazu und schickte mich sofort ins Bett. Ich rannte in das Kinderzimmer, zog mich schnell aus und legte mich ins Bett. Ich bewegte mich nicht mehr und hörte mit dem Zittern nicht mehr auf, so sehr ich es auch versuchte.
Am nächsten Morgen war alles wie immer. Hagebuttentee, Grießbrei und sonst nichts.
Ich wartete auf eine Erklärung oder weitere Beschuldigung meiner Tante, die aber nicht folgte.