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Onkel und Tante

Das Einleben bei beiden war schwierig für mich. Ich weiß, dass wir 1979 in Ahrensburg wohnten, eine Autostunde entfernt von Hamburg. Ich erinnere mich an eine kühle Atmosphäre und an eine eigenwillige Einrichtung, an viele Tränen und dass ich mich sofort unwohl fühlte.

Meine Tante und mein Onkel hatten ihre eigene Sicht auf die Dinge sowie über meine Familie. Sie waren der Meinung, dass mir die Familie nicht guttun würde, also tischten sie mir eine Lüge auf. Sie erzählten mir, dass mein Bruder sowie meine Mutter tot wären. Ich war keine Woche bei ihnen, als sie mich mit dieser erfundenen Nachricht erschreckten. Ich wollte und konnte das nicht glauben, da ich ja beide noch vor ein paar Tagen gesehen hatte. Meine Tante und mein Onkel taten überhaupt sehr viel, um mich in diesem Glauben zu lassen.

Meine Tante hatte immer ein Auge auf mich, aber nie im fürsorglichen Sinne.

Ich kannte sie eigentlich kaum und eine Wahl hatte ich eh nicht.

Beide hatten etwas Unangenehmes in ihrem Wesen und jetzt bei ihnen zu wohnen, verstärkte das ungute Gefühl in meiner Magengegend. Heute würde ich es Warnsignale nennen. Sie hatten für mich ein eigenes Zimmer mit einem Bett, einem einfachen Schrank sowie einem Tisch eingerichtet. Mehr fand ich nicht vor.

Ich versuchte, mich in dem Raum wohlzufühlen, doch es gelang mir einfach nicht. Das war allerdings mein kleinstes Problem. Die Mahlzeiten, die sie kochte, wurden schnell zu einer echten Hürde für mich, die nicht überwinden konnte.

Mein Onkel hatte damit kein Problem und aß, was sie ihm vorsetzte, da gab es auch für ihn keine Widerspruchsmöglichkeit.

Er war das ja auch so gewohnt.

Beide machten keinen Unterschied, dass ich mit neun Jahren nicht so viel essen konnte wie ein Erwachsener. Von meinem Zuhause war ich solch üppige Mahlzeiten nicht gewohnt, da ich ja eher die Hasen beklaute und weniger daheim aß. Hier bei ihnen gab es alles im Überfluss und sie versuchte, das auch in mich hinein zu stopfen.

Es dauerte nicht lange, bis mein Körper streikte und ich die hingestellten Mengen nicht bewältigen konnte, sehr zum Unmut meiner Tante. Mein Onkel war während des Tages auf der Arbeit und kam erst nachmittags halb fünf nach Hause. Er wirkte immer sehr erschöpft und wollte von alledem, was in seiner Abwesenheit so passiert war, eigentlich nichts wissen. Meine Tante war in allem bösartig streng und setzte mit aller Gewalt ihren Willen durch. Es ging ihr dabei nicht darum, mir etwas beizubringen, mich zu fördern oder Defizite auszugleichen, sondern dass gemacht wird, was sie sagt.

Sie setzte alles daran, mir meine Mutter und meinen großen Bruder auszureden. In flammenden Reden sprach sie davon, was für eine versoffene, unmögliche und abscheuliche Person meine Mutter war. Ich wiederum verteidigte sie, wie Kinder es eben machen, jedoch hörte sie nicht auf, meine Mutter schlechtzureden. Auch an meinem Bruder ließ sie kein gutes Haar. Selbst mein Onkel, der sich sonst zurückhielt, stieg in diesen Vortrag mit ein. Über Wochen widersprach ich und verteidigte beide bis zu dem Zeitpunkt, als sie mir drohten.

Mein Onkel wollte davon nichts mehr hören und sagte, würde ich die beiden noch ein einziges Mal erwähnen oder von ihnen sprechen, gäbe es eine Tracht Prügel. Danach würden sie mich vor einem Kinderheim aussetzen. Ab sofort gäbe es die beiden nicht mehr, sonst müsste ich weg.

Sie befanden, dass beide ab sofort tot wären. Meine Mutter hätte sich zu Tode gesoffen und mein Bruder wäre gestorben. Ende der Diskussionen. Als ich abermals widersprach und ihm:

„Du wirst uns nie trennen!“, entgegen brüllte, hatte ich die erste schallende Ohrfeige meines Onkels im Gesicht und flog in die Ecke. Ich wog kaum etwas und es war nicht schwer, mich umzuhauen. Seine Hand empfand ich als Pranke und ich spürte ein Brennen auf meiner Wange. Ich war geschockt. So eine Reaktion hatte ich trotz Ankündigung nicht erwartet. In meinem Zimmer weinte ich über meinen Verlust, denn ich wusste, ich würde meinen Bruder und meine Mutter so schnell nicht wiedersehen. Mir war klar, dass es meinen Bruder noch gab. Bei meiner Mutter war ich mir nicht ganz so sicher. Da ich keinen Kontakt mehr zu ihnen hatte, wusste ich nicht, was stimmte und was eben nicht. Erwischten meine Tante und mein Onkel mich beim Heulen, bekam ich die nächste Ohrfeige und die Drohungen gingen weiter.

Nach weiteren Wochen hatte sie mich mit Schlägen und Drohungen so weit, dass ich beide für tot hielt und ich das auch bestätigte.

Ihre Gehirnwäsche wirkte bei mir.

Einige Wochen später kam ich von der Schule nach Hause und glaubte, von weitem meinen Bruder vor der Haustür zu sehen, sicher war ich mir aber nicht.

Ich ging hoch und erzählte den beiden, wen ich vor der Tür vermutet hatte und dass ich ja recht hatte, dass sie nicht tot seien. Sie erklärten mir, dass ich mich irre, denn mein Bruder und meine Mutter wären schon länger tot. In dem Blick meines Onkels sah ich, was passieren würde, wenn ich jetzt erneut diese Diskussion führen wollte und gab auf. Eines Tages stand mein Bruder wirklich vor unserer Tür, doch ich öffnete nicht. Ich traute mich nicht, mit ihm zu sprechen, was ich damals zutiefst bereute. Noch heute frage ich mich, wie sie so etwas mit mir anstellen konnten.

Ich glaubte irgendwann alles, was sie mir sagten, entweder aus Angst oder weil ich es glauben musste.

Das war das letzte Mal, dass ich meinen Bruder sah. Die nächsten Jahre taten mein Onkel und meine Tante alles dafür, dass mein Bruder nicht mehr in meine Nähe kam.

Anfang 1980 zogen wir um, weiter in die Innenstadt. Meine Tante und mein Onkel bekamen eine Wohnung über einem Stoffladen, in dem sie auch später arbeitete. Ich lebte mittlerweile schon seit einigen Monaten bei ihnen. Jeden einzelnen Tag hasste ich. Ich war ein Kind von zehn Jahren, klein und schmächtig, was meine Tante ziemlich aufregte. So versuchte sie mit viel Essen, dass mein Gewicht anstieg. Morgens musste ich zwei Liter Hagebuttentee trinken und einen großen Teller Grießbrei und zwei Scheiben Brot mit Zungenwurst essen. Mittags nach der Schule gab es dann eine warme Mahlzeit und wieder zwei Liter Tee. Am Nachmittag gab es weiterhin Tee und Grießbrei. Als mein Onkel von der Arbeit kam, gab es oft Kartoffeln, Gemüse und Fleisch für beide und für mich erneut Grießbrei und Tee.

Mir war das viel zu viel und ich wusste nicht, wie ich das alles bewältigen sollte.

So kam es, dass alles, was reinging, irgendwann oben auch wieder herauskam. Ich verärgerte meine Tante damit zutiefst, weshalb sie anfing, mich mit Grießbrei zu füttern, worauf ich mich übergeben musste. Sie empfand es als Verschwendung von Lebensmitteln. Übergab ich mich auf den Teller, rührte sie es unter und fütterte mich damit weiter. Der säuerliche Geschmack löste erneut den Würgereflex bei mir aus. Mein Körper rebellierte und wollte das nicht essen. Das wiederum brachte meine Tante in Rage. Nach einiger Zeit verlor sie die Geduld. Sie nahm den Esslöffel, mit dem sie mich gerade fütterte und haute mir auf den Mund. Dabei traf sie meinen vorderen Zahn, der daraufhin abbrach. Ich schrie wie am Spieß und weinte, was sie wenig beeindruckte, im Gegenteil. Sie fütterte mich wütend weiter, der Grießbrei lief mir aus dem Mund, die Tränen und Rotz liefen dabei auf den Löffel. Sie nahm alles wieder zusammen, verrührte es und schob es mir erneut in den Mund. Sie stieß mir den Löffel in den Rachen, bis es wehtat und ich ein weiteres Mal würgen musste. Sie ließ nicht locker, das tat sie nie. Sie war wie ein Pitbull, der sich festgebissen hatte. Ich würgte alles wieder raus, sie stopfte nach. Ich hatte das Gefühl, diese Momente wollten nie enden. Sie taten es auch erst, nachdem ich alles gegessen hatte, die ganze Grießbrei-Rotzekotze. Ich kam nur aus der Situation heraus, wenn ich es schaffte, mich zu beruhigen und alles bei mir zu behalten. Mein Bemühen, den Würgereflex zu unterdrücken, gelang mir nur unter größter Anstrengung. Sie drohte damit, würde ich mich noch einmal übergeben, werde sie mir jedes Mal eine Gabel in die Hand stechen. Sie ging zur Schublade, holte eine Gabel heraus und legte sie neben mich. Dann forderte sie mich auf, meine Hand neben die Gabel zu legen, was ich auch tat. In ihren Augen sah ich, dass sie nur darauf wartete, dass ich alles herauswürgte. Ich weinte und flehte sie an, es nicht zu tun. Ich würde mich ja nicht übergeben wollen, aber ich konnte das Essen nicht bei mir behalten. Es war viel zu viel und viel zu schnell, wie sie mich fütterte. Ich versuchte, mit ihr zu auszuhandeln, dass ich allein essen durfte, jedoch ließ sie sich darauf nicht mehr ein.

Ich wusste, was die Gabel bedeutete. Sie kannte dabei kein Erbarmen. Bei dem Versuch, mich zu konzentrieren, flehte ich bei jedem Löffel um mehr Zeit. Zeit, damit sich mein Magen an den Grießbrei gewöhnen konnte, den ich nicht mochte.

So sehr ich mich auch bemühte, ich konnte das Essen nicht bei mir behalten. Der Brei samt Tee blieb nicht in mir, kam wieder hoch und lief mir aus dem Mund. Meine Tante griff nach der bereitgelegten Gabel und rammte sie mir auf den Handrücken, sodass ich vor Schmerzen aufschrie. Wieder lief mir alles aus dem Mund zurück auf den Teller und alles begann wieder von vorn.

Es dauerte über zwei Stunden, bis ich alles bei mir behalten konnte. Meine Hand tat mir weh und mein Magen signalisierte, dass nichts mehr ging. Erst als ich alles gegessen hatte, durfte ich aufstehen.

Rote Linie

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