Читать книгу Rote Linie - Jan Eickmann - Страница 17
ОглавлениеMutter
Alkoholiker kümmern sich immer gut um ihre Spirituosen, aber seltener um ihr Umfeld. Ich erinnere mich an Zeiten, da hatten mein Bruder und ich so großen Hunger, dass wir rüber auf den Abenteuerspielplatz gingen, um uns dort unser Essen zu klauen. Dort gab es, neben jeder Menge Freizeitaktivitäten, auch Hasen und Meerschweinchen, die in Ställen gehalten wurden.
In einem unbeobachteten Moment griffen wir uns das Gemüse, welches für die Tiere gedacht war, damit wir etwas zu essen hatten und unsere Mägen aufhörten zu knurren. Natürlich litt nicht nur mein Bauch, sondern auch meine schulische Leistung unter dieser Situation. Wenn ich nicht mit der Suche nach Essen beschäftigt war, war meine Mutter das Problem. Sie hatte einen neuen Saufkumpanen gefunden, nicht der erste, aber der erste, an den ich mich erinnere. Das mit dem Alkohol wurde immer schlimmer für uns. Immer öfter mussten wir uns um sie kümmern. Manchmal marschierte sie einfach los und wir wussten, dass es ihr nicht gutging und folgten ihr heimlich. Sie ging auf die nächste Brücke, die sie fand und wollte sich hinunterstürzen. Sie meinte, sie müsse jemanden retten. Mein Bruder und ich hängten uns mit unserem ganzen Gewicht an unsere Mutter. Dieses Gefühl, sie so außer sich zu sehen, war immer schlimm. Ich war klein und ich hätte sie gebraucht. Stattdessen nahmen wir ihr den Alkohol weg und versuchten, ein normales Leben aufrechtzuerhalten, was natürlich nicht klappte. Mein Bruder wiederum versuchte, beide Elternteile zu ersetzen, da weder unsere Mutter noch unser Vater sich um uns kümmerten. Ich kann mir gar nicht die Überforderung vorstellen, die mein Bruder durchlebt haben muss.
Der Alkohol war allgegenwärtig. Ich erinnere mich, dass ich manchmal nachts durch das Wohnzimmer tobte, völlig überdreht von der Couch auf den Sessel sprang, weil sie zu später Stunde entschied, Saufen und Party in Einklang zu bringen. Es spielte keine Rolle, dass ich erst in die zweite Klasse ging und meinen Schlaf gebraucht hätte. Ich hüpfte und sprang über ihren Säuferbesuch drüber, bis mir der Kopf rot anlief und ich richtig Durst bekam. Meine Mutter reichte mir lachend ein großes Glas, ich dachte, es wäre Wasser und schüttete alles in mich hinein. Zu spät bemerkte ich, dass es Schnaps war.
Als ich alles wieder ausspuckte, was ich noch im Mund hatte, lachte sie und feierte weiter. Ich hatte das erste Mal einen sitzen. Das Leben bei ihr war unruhig und unbeständig. An meine Schulzeit in der zweiten Klasse fehlen mir jegliche Erinnerungen. Ich habe ein Zeugnis, welches beweist, dass ich da war. Jedoch kann ich mich weder an Schulwege, Pausen oder Mitschüler erinnern. Hätte ich das Zeugnis nicht, würde ich behaupten, dass ich nicht zur Schule gegangen bin. Laut meinem Zeugnis habe ich nur sieben Tage gefehlt, also war es wohl mein Bruder, der für einen normalen Ablauf sorgte. Bei dem Zustand unserer Mutter kann ich mir kaum vorstellen, dass sie uns weckte. Eine Querstraße weiter von unserem Zuhause lebte unsere andere Oma, Tikk Oma, wie wir sie nannten. Sie war schon sehr tüdelig, daher bekam sie diesen Namen. Hin und wieder fanden wir uns zum Mittagessen bei ihr ein und ich erinnere mich, dass ich aus ihrem Fenster hoch zu unserem sehen konnte.
Ich besuchte sie, so oft es ging, denn mit unserer Mutter ging es immer weiter bergab. Ich traf dort auch öfter auf meine Tante und meinen Onkel. Er war der Bruder meiner Mutter. Mein Bruder und ich übernachteten manchmal bei ihnen. Wir konnten sie beide auf den Tod nicht ausstehen. Doch ab und an schliefen wir da und waren froh, als wir da wieder wegkonnten. Ich war klein und wusste nicht, wie viel im Hintergrund schon passiert war. Doch das Nächste, woran ich mich erinnere, war, dass es auf einmal hieß, ich muss zu meiner verhassten Tante und meinem Onkel. Mein Bruder würde bei meiner Mutter bleiben. Man hatte heimlich beschlossen, dass ich von meiner Mutter getrennt werden sollte, was ich aber nicht ahnte. So kam der Tag, an dem sie mich und meinen Bruder förmlich auseinanderrissen. Ich verstand die Welt nicht mehr. Ohne eine Ankündigung und ohne mich darauf vorzubereiten, nahm man mich einfach weg aus allem, was ich kannte und was mir vertraut war. Ich würde diesen Moment als Wendepunkt in meinem Leben bezeichnen, denn es sind ab da eine Menge falscher Entscheidungen getroffen worden. Man hat es sich sehr leicht gemacht. Ohne zu überlegen, wurde ich einfach durchgereicht. Noch heute frage ich mich, warum ich zu meinem Onkel und zu meiner Tante gekommen bin. Beide hatten nichts Herzliches oder Kinderfreundliches an sich. Mein Onkel hatte einen erwachsenen Sohn aus einer vorangegangenen Beziehung, auch er sprach meine Tante mit Tante an.
Vielleicht konnte meine Tante keine Kinder bekommen, ich weiß es nicht. Sollte es so gewesen sein, hat eine höhere Instanz alles richtig gemacht.