Читать книгу Rote Linie - Jan Eickmann - Страница 21
ОглавлениеPrügel
Kinder zu schlagen ist ein Zeichen für geistige Armut.
Auch wenn mir das Wissen darum damals nicht geholfen hat, so tut es das heute.
Ich war beschädigt und das nicht nur durch die körperliche Gewalt, die mir angetan wurde, sondern auch schon vorher durch den Alkoholkonsum meiner Mutter.
Heute brauche ich länger, um bestimmte Dinge zu erfassen, ich verliere schneller die Geduld, weshalb ich Sachen nie richtig zu Ende gebracht habe. Das alles sind natürlich Eigenschaften, die auch bei gesunden Menschen vorhanden sind, jedoch hatte ich immer das Gefühl, dass mir die Gebrauchsanweisung „Leben“ fehlte.
Viele Sachen in meinem Leben laufen schief, nehmen einen Zickzack-Weg und führen dann erst zum Ziel - oder eben auch nicht. Was für andere ein Leichtes zu sein scheint, ist für mich echte Arbeit oder bleibt mir verborgen.
Ich rebelliere gegen Autoritätspersonen und zwingt mich jemand zu etwas, beginne ich mit der Verteidigung. Mein inneres Kind wehrt immer weiter die Schläge der Vergangenheit ab und eigentlich dachte ich, dass ich alle Schläge bereits in den 80ern erhalten und in den 2000ern verarbeitet hatte.
Doch man bewältigt da wohl nichts, sondern lernt, damit umzugehen.
Man begreift irgendwann, dass es ein
>Davor und ein danach> gibt, mit denen man dann leben muss.
Prügel - und ich meine damit richtige Prügel - einzustecken, ist als Kind eine unvorstellbare Katastrophe.
Man kann nicht weglaufen oder seine Kreditkarte nehmen und mal eben in ein Hotel einchecken. Ich konnte mich der Gewalt einfach nicht entziehen. Ich hatte eine Gehirnwäsche von meinem Onkel und meiner Tante erhalten. Sie redeten mir ein, dass alles, was mir angetan wurde, meine eigene Schuld sei. Das bläuten sie mir ununterbrochen ein. Niemand würde mir kommen, um mir zu helfen, meine dreckigen Verwandten, wie sie sie nannten, sowieso nicht. Wo sollte ich also hin? Ich ertrug die Schläge und die Vergewaltigungen stumm und sprach mit niemandem darüber. In der Schule verhielt ich mich unauffällig, soweit ich mich daran erinnern kann.
Ich wusste, würde ich bei ihnen nicht so funktionieren, wie sie es erwarteten, hatte ich eine schlaflose Nacht vor mir mit Mathematik lernen, bis ich vor Erschöpfung einschlief. Die Prügel fanden nach einer Weile fast täglich statt. Man versuchte es gar nicht erst anders mit mir, schließlich war ich der Sohn meiner versoffenen Mutter, der nicht erkannte, wie gut sie es mit mir meinten, so die einhellige Meinung der beiden.
An mir - und noch viel schlimmer in mir - wurde so einiges kaputtgeschlagen. In den Anfängen benutze man noch die Hand. Holte mein Onkel mit der Hand aus, flog entweder ich oder meine Brille durch das Zimmer, in dem wir uns gerade aufhielten. Oft passierte beides gleichzeitig.
Irgendwann reichte auch das nicht mehr und er griff zu den hölzernen Kleiderbügeln mit Nieten auf dem Flur zurück.
Diese Kleiderbügel schmerzten besonders auf meiner nackten Haut. Die Kraft, die ein erwachsener Mann aufbringen kann, war mit jedem Schlag zu spüren.
Ich war manchmal so grün und blau, lila und rot geschlagen, dass mir vor Schmerzen übel war. Ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Die Schläge und ihre Folgen reichten aber noch weiter. Es war nicht leicht, im Sportunterricht mitzumachen oder auch nur auf still auf dem Stuhl zu sitzen, denn ich versuchte immer, dem Schmerz auszuweichen. Ich frage mich bis heute, warum kein Mensch und kein Nachbar von meiner Situation Kenntnis genommen hat und niemandem mein ungewöhnliches Verhalten auffiel.
Irgendwer hätte das doch bemerken müssen!
Ich weiß nicht, wie er darauf kam, doch mein Onkel wechselte eines Tages von den Kleiderbügeln zu einem Staubsaugerrohr, das sich auch irgendwann verbog, sodass wir einen neuen Staubsauger brauchten.
Die Schmerzen waren damit am schlimmsten für mich und ich war froh, dass er irgendwann beschloss, dass Kleiderbügel billiger sind als neue Staubsaugerrohre. So hatte ich nicht ganz so starke Schmerzen.
Das alles war die eine Seite der Medaille, die körperliche. Die andere Seite war die seelische. Liebe und Mitgefühl war etwas, das bei beiden nicht vorhanden war. Umarmungen waren nur für Fotos. Da hieß es lächeln, als wären wir eine glückliche Familie. Wir waren beides nicht, weder glücklich noch eine Familie, doch das sah niemand. Ich lechzte nach Zuneigung, obwohl sie so grausam zu mir waren, denn in mir war der Wunsch, dass sie merkten, dass ich das alles nicht tat, um sie zu ärgern, sondern weil mein Körper mittlerweile ein Eigenleben führte. Ich wollte von ihnen geliebt werden. Ich schrieb einen flammenden Liebesbrief, wie sehr ich sie doch liebte und wie sehr ich es doch bereute, sie so zu enttäuschen. Ich entschuldigte mich viele hundert Male, zeichnete umgedrehte schwarze Herzen für mich und rote normale Herzen für sie, um noch einmal zum Ausdruck zu bringen, wie sehr ich sie doch verletzte, wie unwürdig ich doch sei und dass ich ihre „Liebe“ ja nicht verdient hatte. Ich wollte geliebt werden, ich wollte, dass sie mir verzeihen, mich annehmen und mir helfen, meinen Weg zu finden … ich wollte Liebe. Ich bekam etwas anderes, nämlich meinen eigenen Brief jedes Mal vor die Nase gehalten, wenn es nicht so lief, wie sie es wollten.
Sie zitierten aus dem Brief oder erklärten, dass ich so ein undankbares Balg wäre, dass sie es kaum mit mir aushalten könnten.
Oft wurde mir vorgeworfen, dass ich ja nur eines im Sinn hatte, nämlich sie so lange zu traktieren, bis beide sterben, aber den Gefallen könnten sie mir nicht tun, dafür würden sie schon sorgen. Bevor einer von ihnen krepiert, wäre es ihre Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, mich mitzureißen, wenn sie untergehen. Dermaßen viele Gehässigkeiten, so viele Boshaftigkeiten lassen sie so nicht stehen, so ihre Aussage.
Ich verstand das alles nicht, was sie mir vorwarfen. Ich heulte und weinte bittere Tränen und entschuldigte abermals dafür, dass ich ihnen so viel Kummer bereitete.
Die Kontrolle, die mein Onkel und meine Tante auf mich ausübten, war ein wesentlicher Bestandteil ihres Lebens. Alles musste so ablaufen, wie sie es bestimmten. Ich stand jeden Tag vierundzwanzig Stunden unter Beobachtung. Erlaubte ich es mir, anders zu denken oder zu fühlen, wurde so lange auf mich eingeredet oder geprügelt, bis ich derselben Meinung war wie sie.
Ich gab schnell den Widerstand auf. Ich war vom Wesen kein Kämpfer, niemand der sich durchsetzen konnte, das erkannten sie schnell. Mein Onkel und meine Tante hatten einen formbaren kleinen Menschen vor sich, den sie brechen wollten, wie ich es fast täglich zu hören bekam, wenn mich ihre Schläge trafen. Einen Gedanken an Freiheit und Selbstbestimmung gab es nicht. Von wem hätte ich es auch lernen sollen?