Читать книгу Rote Linie - Jan Eickmann - Страница 15
ОглавлениеWährend ich ihr vorsichtig folgte, plapperte sie lauter unsinniges Zeug vor sich her, von Kindern, die auf der Sonne wohnen und Autos, die jeden Tag dort oben wegfliegen.
Sie berichtete mir, dass die bereits alle an ihrem Fenster vorbeigeflogen seien und nun auf dem Dach warteten, um sie wegzubringen.
Jetzt brachen bei mir alle Dämme und ich weinte hemmungslos. Meine mir so vertraute Mutter wirkte wie eine Fremde auf mich.
Sie schaute mich liebevoll an und streichelte mir das Gesicht, als wüsste sie, wer ich bin und worüber wir uns unterhielten. Sie drehte sich um und ging in den Hausflur, zurück in unsere Wohnung.
Dort blieb sie am Eingang stehen, sah sich um, ging gleich ins Bad und schloss die Tür. Ich war erleichtert, dass sie in diesem Zustand nicht auf das Hausdach ging.
Selbst ich als Kind merkte, dass sie noch weniger sie selbst war als sonst. Ich überlegte, was ich tun konnte, als ich sie aus dem Bad rufen hörte. Ich rannte los und riss die Tür auf. Meine Mutter saß auf der Toilette, die Augen so weit verdreht, dass man fast nur noch das Weiße in ihren Augen sehen konnte. In ihrem Gesicht konnte ich ihre Panik sehen.
Ihr Gesicht und ihre Körperhaltung wirkten auf mich, als wäre sie geradewegs aus einem schlechten Horrorfilm gefallen, die ich damals schon als Kind sehen durfte. Dieser Anblick war furchtbar und zutiefst erschreckend für mich. Dieses Bild hat sich in meinem Kopf eingebrannt und ich werde es bis heute nicht mehr los.
Sie rief mir zu:
„Ich bin blind, ich kann nichts mehr sehen!“
Jetzt war auch ich in Panik. Ich schrie ihr entgegen, dass ich meinen Bruder holen würde.
Ich war gerade im Begriff, mich umzudrehen und loszurennen, als sie ihre Klarheit zurückerlangte.
In diesem Moment beruhigte sich meine Mutter wieder, stand von der Toilette auf und fragte mich, was denn gewesen sei. Anscheinend sah sie den Schrecken in meinem Gesicht.
Ich stand da und wusste nicht wirklich, was passiert war. Mir war nicht klar, was ich ihr darauf antworten sollte. Ich heulte und versuchte, das Geschehene irgendwie in Worte zu fassen. Der Versuch, ihr alles zu erklären, scheiterte. Meine Mutter wiegelte ab und erklärte, dass ich mir das alles nur ausgedacht hätte.
Ich bemerkte schnell, dass all meine Erklärungsversuche für sie keinen Sinn machten, obwohl wir noch mitten in der Situation steckten.
Sie stritt alles ab und wirkte leicht gereizt. Ich wusste nicht weiter und entschied, dass ich meinen Bruder suchen wollte. Auf die Schnelle fiel mir nur der Abenteuerspielplatz ein. Ich rannte die Treppe herunter und lief über die Straße zum Spielplatz, der keine zwei Minuten von unserem Zuhause entfernt war. Das Gelände war nicht gerade klein und ich hatte wenig Hoffnung, ihn zu finden. Alte Holzhütten und ein großes Gelände erleichterten mir die Suche nicht gerade.
Ich rannte in das kleine Häuschen für die Betreuer des Spielplatzes, in dem sie ihr Büro hatten.
Einer der Anwesenden erklärte mir, dass er ihn bei seinem besten Freund vermutete.
Ich wusste, wo dieser wohnte und wurde fündig.
Hektisch und völlig aufgelöst erklärte ich ihm, was passiert war. Auf dem Weg zu unserer Mutter versuchte ich, ihm das Erlebte unter Tränen zu erklären. Ich sah meinem Bruder an, dass alles, was ich ihm erzählte, ihn nicht überraschte. Seine beruhigende Art ließ auch mich ruhiger werden. Zu Hause angekommen, war alles wie immer. Unsere Mutter saß im Wohnzimmer, als wäre nie etwas passiert.
Mein Bruder sah, wie sie sich verhielt und fragte sie nur, ob es ihr gutginge, was sie bejahte. Zurück in unserem Kinderzimmer erklärte er mir, dass ich ihn wieder sofort holen müsse, wenn so etwas noch einmal passieren sollte. Er erklärte mir, dass auch er das schon gesehen hätte und es umso wichtiger sei, dass er darüber Bescheid wüsste. Wir verbrachten den Rest des Tages miteinander und ich wich ihm nicht von der Seite. Ein paar Jahre später erzählte er mir, dass er damals in einer ähnlichen Situation war, dass unsere Mutter auch ihm wirre Sachen erzählte, was auf spastische Anfälle zurückzuführen war.
Ich kann mich nur an diesen einen Anfall erinnern, dafür aber recht deutlich.