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3.2 Lesen als Hören
ОглавлениеAuf das Phänomen „Lesen“ wird im Griechischen jedoch vielfach auch mit dem Lexem ἀκούωἀκούω (Grundbedeutung: hören) verwiesen.1 Als Terminus zur Rezeption von Geschriebenem wird das Verb zur Kennzeichnung der hörenden Rezeption eines vorgelesenen Textes2 oder einer RedeRede/eines Vortrages3 verwendet. Aber für zahlreiche Belegstellen kann die Rezeptionssituation (jemand liest jemandem vor) nicht a priori vorausgesetzt werden;4 genauso wenig kann daraus geschlossen werden, dass in der Antike grundsätzlich vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend gelesen wurde,5 wie zu zeigen sein wird. So lässt Platon den Phaidros in seinem Dialog mit Sokrates abfällig über einen Menschen sprechen, der sich für einen ArztArzt hielte, „weil er aus irgendeinem BuchBuch hörte/in einem Buch las6 (ἐκ βιβλίου ποθὲν ἀκούσας)“ (Plat.Platon Phaidr. 268c). Hier ist es nicht eindeutig zu entscheiden, ob an eine Vorlesesituation oder an individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre gedacht ist.7 Letzteres ist zumindest sehr gut vorstellbar angesichts der Quellenevidenz im Folgenden. Das gilt im Übrigen auch für die analoge Verwendung von audire im Lateinischen.8
Eine eindrückliche Belegstelle findet sich bei Herodot, an der eindeutig eine Szene individualisierten Lesens voraussetzt wird (Hdt.Herodot 1,48). Ob vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend oder nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend kann aus dem Text heraus nicht eindeutig entschieden werden:9 Im Kontext einer Probe der griechischen Orakel durch den Lyderkönig Kroisos erhält dieser die schriftlich fixierten Orakelsprüche in Form von RollenRolle (scroll) (ἀναπτύσσωἀναπτύσσω), die er einzeln inspiziert (ἐποράω), wobei ihm bis auf einen keiner der Sprüche gefällt. „Aber als er die Antwort aus Delphi hörte (ὡς τὸ ἐκ Δελφῶν ἤκουσε), verehrte er sie unverzüglich und akzeptierte sie“ (Hdt. 1,48,1). Analog wird ἀκούωἀκούω auch in Hdt. 1,125,1 als LeseterminusLese-terminus verwendet. An dieser Stelle ist aus dem Kontext eindeutig zu erschließen, dass die BuchstabenBuch-stabe zum LeserLeser sprechen (τὰ δὲ γράμματαγράμματα ἔλεγε; Hdt. 1,124,1).10 Eine ebenfalls eindeutige individuell-direkteLektüreindividuell-direkt LeseszeneLese-szene, im Rahmen derer ἀκούω als Leseterminus gebraucht wird, findet sich in Heliodors Aithiopika: Der Ich-ErzählerErzähler Theagenes liest den äthiopischen Text auf einem Band (ταινία; vgl. Hld.Heliodoros 4,8,1), das der ausgesetzten Chariklea beigegeben worden war (vgl. Hld. 4,7), und hört den Namen ihrer Mutter Persina: Ἐπάγην, ὦ Κνήμων, ὡς τοῦ Περσίννης ὀνόματος ἤκουσα (Hld. 4,8,2). Aus dem Kontext kann man erschließen, dass der Ich-Erzähler die StimmeStimme des Textes hört; als Lesetermini werden Lexeme (ἐπέρχομαι, εὑρίσκωεὑρίσκω) verwendet, die eher darauf hindeuten, dass nicht-vokalisierende Lektüre zu imaginieren ist: „Beim Begehen fand ich die Schrift Folgendes erzählend … (καὶ ἐπερχόμενος τοιάδε ηὕρισκον τὸ γράμμαγράμμα διηγούμενον … Hld. 4,8,1). Bei Isokrates (or. 12,252) findet sich die Aussage, dass viele die von ihm aufgeschriebenen Taten und Schlachten lesen und durchgehen wollten (πολλοὺς ποθεῖν ἀναγνῶναι καὶ διελθεῖν αὐτάς), nicht weil sie die Taten an sich hören wollen (ἀκοῦσαι πράξεις), sondern weil sie lernenLernen (μανθάνωμανθάνω) wollten, wie Isokrates diese bewertet bzw. darstellt.11 Die Kombination aus ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω und διέρχομαιδιέρχομαι zeigt, dass hier keine Vortragssituation, sondern eine Form individuell-direkter und intensiver Lektüre im Blick ist. Es ist daher m. E. auch wahrscheinlicher, dass ἀκούω hier nicht das tatsächliche Hören des mit der eigenen Stimme vorgelesenen Textes meint, sondern die kognitivekognitiv Verarbeitung des Gelesenen benennt.
In Plutarchs Schrift De facie in orbe lunae formuliert Lamprias gerichtet an einen der Gesprächsteilnehmer, Theon:
„Weil du aber nun den Aristarch schätzt und bewunderst, gibst du dem Krates kein Gehör, wenn er liest (οὐκ ἀκούειςἀκούω Κράτητος ἀναγινώσκοντοςἀναγιγνώσκω): ‚Vater Okeanos, welcher den Ursprung Allem gegeben [Hom.Homer Il. 14,246], Menschen und Göttern, der weit sich ausstreckt über die Erde,‘“ (Plut.Plutarch de fac. 25 [mor. 938d]; Üb. OSIANDER/SCHWAB).
Es handelt sich bei dieser Schrift um ein Gespräch, das aus der Perspektive von Plutarchs Großvater, Lamprias, geschildert wird und dessen erzählte Zeit in die zweite Hälfte des 1. Jh. n. Chr. fällt. Die Formulierung von Lamprias verweist auf die konkurrierende Homer-Interpretation des stoischen Grammatikers Krates von Pergamon und dem Alexandriner Aristarch im 2. Jh. v. Chr. Daraus wird unmittelbar ersichtlich, dass Krates hier nicht selbst liest, sondern Lamprias sich auf den Homertext von Krates bezieht. Denn die erste Hälfte des Zitats ist ein ZitatZitat aus der Ilias, die zweite Hälfte stellt eine Emendation im Ilias-Text von Krates dar, die bei Aristarch fehlt.12 Das Verb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω wird hier also im Sinne des modernen textkritischenTextkritik Lesebegriffes gebraucht,13 das Verb ἀκούωἀκούω bezieht sich darauf, dass Theon sich nicht mit der Interpretation bzw. dem Ilias-Text des Krates beschäftigt, also dessen Ilias-Text bzw. dessen Schriften nicht liest.
Exemplarisch sei auch noch auf OrigenesOrigenes verwiesen, der ἀκούωἀκούω in seiner Apologie gegen Celsus im Sinne von „lesen“/„rezipieren“ verwendet:
„Dennoch wünschte ich mir, dass jeder, der die dreiste Behauptung des Celsus gehört hat (ἀκούσαντα δεινολογοῦντος Κέλσου), ‚die Schrift über ChristusChristus mit dem TitelTitel ‚Streitgespräch zwischen Papiskos und Jason‘ verdiene nicht Gelächter, sondern Abscheu,‘ diese kleine Schrift zur Hand nimmt und die Geduld und Ausdauer aufbringt, ihren Inhalten Aufmerksamkeit zu schenken (λαβεῖν εἰς χεῖρας τὸ συγγραμμάτιονσυγγράμματα καὶ ὑπομεῖναι καὶ ἀνασχέσθαι ἀκοῦσαι τῶν ἐν αὐτῷ), um mit ihr Celsus zu verurteilen, weil er nichts in dem BuchBuch findet, was ‚Abscheu‘ verdient“ (Orig.Origenes Cels. 4,52; Üb. BARTHOLD).
Wenig später fordert OrigenesOrigenes den LeserLeser (… τὸν ἐντυγχάνοντα14 τῇ ἀπολογίᾳ ταύτῃ πρὸς τὴν Κέλσου …) unter Verwendung eines Derivats von ἀκούωἀκούω auf, er möge „unserer Schrift Aufmerksamkeit schenken“ (καὶ ἐπακοῦσαι τῶν συγγραμμάτωνσυγγράμματα ἡμῶν; Orig. Cels. 4,53).Aufmerksamkeitvertieft
Einen außergewöhnlichen Einblick in die antike Selbstwahrnehmung der kognitivenkognitiv Verarbeitung von Gelesenem, der die oben stehenden Quellenzeugnisse einzuordnen hilft, gewährt uns der AutorAutor/Verfasser der Schrift Περὶ ὕψους („Über das Erhabene“), die vermutlich ins 1. Jh. n. Chr. zu datieren ist.15 Im Kontext der Diskussion um die Qualität von Literatur (Ps.-Long.Pseudo-Longinos 7,1–3) verwendet er ἀκούωἀκούω als LeseterminusLese-terminus, und zwar für die Benennung von MehrfachlektüreLektüreMehrfach- (Ps.-Long.Longinos 7,3). Bei der beschriebenen Lektüre handelt es sich um eine prüfende, die mit dem Adjektiv visuellervisuell Wahrnehmung ἐπισκεπτέος sowie mit den Verben ἀναπτύσσωἀναπτύσσω und εὑρίσκωεὑρίσκω im Kontext (Ps.-Long 7,1) näher spezifiziert wird.16 Aufschlussreich ist nun, dass der an dieser Stelle vorgestellte LeserLeser nicht mit dem OhrOhr hört, sondern vielmehr die ψυχήψυχή explizit als Subjekt des Hörens gekennzeichnet wird (Ps.-Long. 7,2; impliziert auch in 7,3). Das Gelesene wird mit der διάνοιαδιάνοια weiterverarbeitet,17 wobei Literatur minderer Qualität dieser „nicht mehr zum Betrachten (ἀναθεωρέω) zurücklässt als den bloßen Wortlaut“ (Ps.-Long. 7,3; Üb. angelehnt an SCHÖNBERGER), qualitätsvolle Literatur demgegenüber zu ausgiebiger Reflexion (οὗ πολλὴ μὲν ἡ ἀναθεώρησις; Ps.-Long. 7,3) und damit auch zu erneuter analysierender und reflektierender Lektüre anregt, die durchaus auch mit Unterbrechungen für die kognitiven Weiterverarbeitungsprozesse zu denken ist.18
Das bisher Gesagte lässt vermuten, ἀκούωἀκούω werde in Lesezusammenhängen häufig nur noch usuell gebraucht.19 Diese Schlussfolgerung lässt sich weiter erhärten: Ein eindrückliches Indiz für einen solchen usuellen Gebrauch findet sich bei Diog. Laert.Diogenes Laertios 2,5,18, der mit einem verbum dicendiverba dicendi (im Sinne von „schriftlich mitteilen“) auf Plat.Platon Tht. 149a verweist: „Sokrates war der Sohn des Steinmetzes Sophroniskos und von der Hebamme Phaenarete, wie auch Platon [in Form der Dialogfigur Sokrates!] im Theaitetos sagt (ὡς καὶ Πλάτων ἐν Θεαιτήτῳ φησίν).“ Es ist hier völlig eindeutig, dass Platon eben nicht selber gesprochen hat, sondern Sokrates hat sprechen lassen.20 Auch wenn Demetrios von PhaleronDemetrios von Phaleron schreibt, ThukydidesThukydides erlaube durch die Form der KompositionKomposition weder sich noch dem RezipientenRezipient eine Pause (καὶ ἐκ τοῦ μόγις ἀναπαῦσαι αὐτόν τε καὶ τὸν ἀκούοντα; Demetr. eloc. 2,45), könnte hier gut der individuelle LeserLeser im Blick sein – ein Urteil, das auch der Übersetzter W. R. Roberts gefällt hat, der das PartizipPartizip mit reader wiedergibt.21 Galen zitiert in seiner 2005 wiederentdeckten Schrift „Über die Unverdrossenheit“ Euripides und leitet das ZitatZitat für seinen Leser folgendermaßen ein: „Was Euripides irgendwo dem Theseus in den Mund legt, ist vor allem wahr, wie du erkennen wirst, wenn Du die Worte hörst (ἀκούσας δὲ τῶν ἐπῶν εἴσει)… [Es folgt das Zitat: Eur.Euripides fr. 964 Nauck]“ (Gal.Galenos alyp. 52; Üb. angelehnt an BRODERSEN).
Als stärkste Evidenz für einen usuellen Gebrauch von ἀκούωἀκούω als LeseterminusLese-terminus ist auf die bei den antiken Schriftstellern verbreitete Praxis zu verweisen, ihre Quellen mit der Phrase ἤκουσα xy(Gen.) λέγοντος anzugeben bzw. ZitateZitat einzuleiten.22 Dabei sei am Rande auf das analoge Phänomen verwiesen, dass das Substantiv ἀκοή nicht nur das OhrOhr, sondern auch abstrakt die Information oder TraditionTradition bezeichnen kann.23 D. M. Schenkeveld hat eindrücklich gezeigt, dass die Wiedergabe einer LesefruchtLese-frucht mit „gehört haben, dass xy gesagt hat …“ ausgedrückt wird, während im Lateinischen die Phrase legere apud xy aliquid gängig ist.24 Für die auch im Griechischen erwartbare Phrase „in xy gelesen haben, dass …“, die mit dem Verb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω gebildet wird, sei der Befund hingegen weitgehend, jedoch nicht gänzlich negativ.25 Seine Liste von Ausnahmen kann allerdings noch ergänzt werden:
Diod.Diodorus Siculus 14,47,2: „darin [in einem SchreibenSchreiben von Dionysios, Tyrann von Syrakus] war zu lesen, … (ἧς ἀναγνωσθείσης ἔν …)“; Plut.Plutarch symp. 3,7,2 [mor. 656a]; Plut. symp. 8,4,3 [mor. 724a]: „Und doch habe ich, wie ich mich zu erinnernErinnerung glaube, neulich in der attischen Geschichte gelesen [ἐν τοῖς Ἀττικοῖς ἀνεγνωκὼς], daß …“ (Üb. OSIANDER/SCHWAB); Plut. Alex. 4: … ἀνέγνωμεν ἐν ὑπομνήμασιν Ἀριστοξενείοις; Plut. Adv. col. 14 (mor. 1115d): ἡμεῖς γὰρ ἐν πᾶσιν ἀναγινώσκομεν …; Iust.Iunianus Iustinus Mart.Justin der Märtyrer dial. 11,2: Νυνὶ δὲ ἀνέγνων γάρ, ὦ Τρύφων, ὅτι … (ZitatmarkierungZitat-einleitung/-markierung); 11,3: Ἢ σὺ ταῦτα οὐκ ἀνέγνως ἅ φησιν Ἠσαίας … (Zitatmarkierung); 10,3: Ἢ οὐκ ἀνέγνως ὅτι … (Zitatmarkierung); TestDan 5,6: ἀνέγνων γὰρ ἐν βίβλῳ Ἑνώχ τοῦ δικαίου ὅτι …; TestNaph 4,1: … ἀνέγνων ἐν γραφῇ ἁγίᾳ Ἑνὼχ ὅτι …; TestAss 7,5: ἀνέγνων γὰρ ἐν ταῖς πλαξὶ τῶν οὐρανῶν ὅτι …; Gebet des Joseph Fr. B: ‘Ἀνέγνων γὰρ ἐν ταῖς πλαξὶ τοῦ οὐρανοῦ … (Eus.Eusebios von Caesarea pr. ev. 6,11,64); siehe zu diesem Text weiterführend (SIEGERT, 2016, hier 291–293.); Porph.Porphyrios vit. Plot.Plotin 15: … ἀνέγνω ὑπὲρ Ἀλκιβιάδου τοῦ ἐν τῷ «Συμποσίῳ» τοῦ Πλάτωνος …; Basil.Basilius der Große Caes.Caesar ep. 150,2: ἀνέγνων γάρ που ἐν Ψαλμοῖς, ὅτι …; Iul.Iulianus, Flavius Claudius (Kaiser) Afr. D 18: ἀνέγνων ἐν τοῖς Νεπτουνιανοῦ ‚Φυσικοῖς‘ ὅτι …; vgl. im NT auch Mt 19,4Mt 19,4; 21,16Mt 21,16; vgl. ferner auch die Formulierung τὴν δὲ Ἀφροδίτην ἀνέγνωμεν mit anschließender Paraphrase von Hom.Homer Il. 3,424f bei Clem. Al.Clemens von Alexandria prot. 2,35,2 sowie die häufige Kennzeichnung von Zitaten mit in seinem Werk mit ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω (z.B. aus der Ilias in Clem. Al. paid. 2,121,5 und eines Platonzitats in Clem. Al. paid. 2,89,2); zur Kennzeichnung von Zitaten oder Paraphrasen mit ἀναγιγνώσκω vgl. z. B. auch Orig.Origenes Cels. 1,26; 1,59; 4,28f; 4,72; 5,38; comm. in Ioh. 1,21,130; 1,29,203; 1,35,257 u. ö.
In diesen Befund passt auch die gängige Praxis antiker AutorenAutor/Verfasser, verba dicendiverba dicendi (also z.B. Formen von λέγωλέγω bzw. φημί im Griechischen bzw. dico im Lateinischen) zu verwenden, um in ihren Texten Querverweise im Sinne von „wie ich geschriebenSchriftGeschriebenes habe/schreibenSchreiben werde“ o. ä. einzufügen26 oder Querverweise auf andere Werke bzw. ZitateZitat mit verba dicendi zu markieren.
Vgl. exempl. Strab.Strabon 1,2,3 mit Verweis auf Erathostenes’ Geographika: „Er sagt (ἔφη), dass die Poeten …“; Quint.Quintilian inst. or. 2,21,5 mit Verweis auf Cic.Cicero, Marcus Tullius de orat.: „Auch Cicero nennt an einer Stelle als Stoff der RhetorikRhetorik die Gegenstände (Cicero quodam loco … vocat), die sich ihr darbieten …“ (Üb. RAHN); in Plut.Plutarch symp. 1,9,4 [mor. 627d], verweist Theon auf die ps.-aristot. Schrift Problemata Physica, in der Aristoteles sagte, nach dem Seebad werde man in der Sonne schneller trocken als nach einem Flussbad (Ἀριστοτέλης γὰρ ἐν ταὐτῷ βιβλίῳ φησὶ …), worauf der Ich-ErzählerErzähler versucht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, wovon Homer sagt: ’ἀλλ᾽ ᾤμην σε μᾶλλον Ὁμήρῳ τἀναντία λέγοντι πιστεύσειν. Als Beleg folgen im Text zwei ZitateZitat aus der Odyssee; Plutarch zitiert Hermippos von Smyrna (3. Jh. v. Chr.), der sagt (d. h. schreibt), er habe in anonymen Memoiren gelesen, Demosthenes sei ein Schüler von Platon gewesen und habe von diesem Hilfe bei seinen rhetorischen Studien erhalten ( Ἕρμιππος δέ φησιν ἀδεσπότοις ὑπομνήμασιν ἐντυχεῖν ἐν οἷς ἐγέγραπτο τὸν Δημοσθένην συνεσχολακέναι Πλάτωνι καί πλεῖστον εἰς τοὺς λόγους ὠφελῆσθαι …).27 Arrian beginnt seine Geschichte über Alexander mit dem passivischen λέγεται (Wie gesagt/berichtet wird … [Arr.Arrian an. 1,1]), nachdem er im Vorwort seine schriftlichen Quellen erläutert hat. Unzählige Belegstellen könnten aus den Deipnosophistai von Athenaios angeführt werden. Besonders aufschlussreich im Hinblick auf die Fragestellung dieser Studie sind vor allem diejenigen Stellen, an denen der AutorAutor/Verfasser, der etwas „sagt“, eindeutig nicht mit den sprechenden Personen auf der Ebene der erzählten Welt übereinstimmt. Athen.Athenaios deipn. 16,62 (650a): καὶ Εὐριπίδης ἐν Κύκλωπί φησι … (es folgt ein Zitat aus Eur.Euripides Cycl. 394, auf der Ebene des Satyrspiels spricht Odysseus); Athen. deipn. 12,16 (518f) sogar mit exakter Angabe der RolleRolle (scroll) des Werkes, aus dem zitiert wird: … ὥς φησι Πτολεμαῖος ἐν ὀγδόῳ ῾Υπομνημάτων … (es folgt ein Spruch des mauretanischen KönigsKönig Massanassa). Bei Cicero findet sich hingegen der Beleg, dass durchaus zwischen Autor und Sprecher auf der Ebene der erzählten Welt unterschieden werden konnte. Vgl. die Phrase ut ait apud Xenophontem Socrates (Cic. nat. 2,18) zur Angabe eines Zitats aus Xen.Xenophon mem. 1,4,8. In lateinischen Texten verbreitet ist die ZitatmarkierungZitat-einleitung/-markierung ut ait + Autorname. Vgl. exemplarisch Plin. ep.Plinius der Jüngere 4,7,6; 4,18,1 (weitere Stellen bei Plinius verzeichnet SCHWERDTNER, 2015, 36, Anm. 41.); Cic. Att. 1,20,3; 2,7,4; 7,1,6; 9,17,4; 10,8,7; nat. 3,27.41; div. 1,24.74; 2,57.128; rep. 1,49 u. ö. Tert.Tertullianus, Quintus Septimius Florens Apol. 48,1. Vgl. außerdem Strab. 2,1,5; Plut. de stoic. rep. 10 (mor. 1036f–1037b); Plut. adv. Col. 30 [mor. 124d]; Plut. Art. 13,3; u. ö.; Diog. Laert.Diogenes Laertios 2,5,18 (s. o.); 3,1,66; Mak. apokr. 3,3,1; 3,18,1 u. ö. Pomponius Mela verweist rückblickend auf das bereits Geschriebene mit dem PartizipPartizip Perfekt Passiv dictum est … (Mel.Mela, Pomponius de chorogr. 1,25). Zitationsformeln mit verba dicendiverba dicendi finden sich ferner auch in hebräischen Texten.28
Einen eindrücklichen Beleg für die dadurch erzeugte Fiktion eines Dialogs mit seinen Lesern, der Teil einer durchdachten Leserlenkungsstrategie ist, findet sich z.B. beim Werk von PolybiosPolybios.29 Aufschlussreich ist es ferner, wenn Clemens von Alexandria seinen LeserLeser im Singular(!) auffordert, den folgenden Bericht über den Apostel Johannes zu hören: ἄκουσον μῦθον οὐ μῦθον, ἀλλὰ ὄντα λόγον περὶ Ἰωάννου τοῦ ἀποστόλου … (Clem. Al.Clemens von Alexandria Quis div. salv. 42). Euseb als empirischer Leser dieser Schrift von Clemens fordert seine Leser wiederum dazu auf, diese Schrift zur Hand zu nehmen und den Bericht zu lesen, den er dann jedoch zitiert: λαβὼν δὲ ἀνάγνωθι ὧδέ πως ἔχουσαν καὶ αὐτοῦ τὴν γραφήν … (Eus.Eusebios von Caesarea h. e. 3,23,5).
Auch in antiken BriefenBrief findet sich (zumeist am Anfang) das Verb ἀκούωἀκούω, um auf das Schriftstück zu verweisen, auf das man antwortet.30 In vielen Fällen ist eindeutig, dass ἀκούω sich auf Gelesenes bezieht31 (gleiches gilt für das lateinische audioaudio),32 nur selten ist es nicht eindeutig entscheidbar, ob auf etwas Schriftliches Bezug genommen wird; ein Bezug auf eine mündlich konzeptualisierteMündlichkeit konzeptuell Kommunikation ohne Schriftbezug ist bei der Verwendung von ἀκούω am Briefanfang zwar möglich (z.B. bei Bericht durch einen BriefbotenBrief-bote) allerdings wegen des brieflichen Kommunikationskontextes nur durch kontextuelle Marker festzustellen.33 Denn die Belege fügen sich ein in das Bild, dass briefliche Kommunikation in der Antike mehrheitlich als durch ein SchriftmediumLese-medium vermitteltes Gespräch konzeptualisiert ist, also die Anwesenheit der Kommunikationspartner suggeriert und treffend mit der Kategorie der „imaginierten MündlichkeitMündlichkeit“34 charakterisiert werden kann.
CiceroCicero, Marcus Tullius bezeichnet die privateÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat Briefkommunikation in einem Kontext (Cic. Phil. 2,7), in dem er M. Crassus vorwirft, er habe gegen die Konvention einen Privatbrief von ihm öffentlichÖffentlichkeitöffentlich vorgelesen (recitorecito), ein „Gespräch unter Freunden in Abwesenheit (amicorum conloquia absentium)“, das durch die öffentliche RezitationRezitation zerstört worden sei. An anderer Stelle formuliert er: „Aber weil ich meine, Dich reden zu hören, wenn ich Deine Briefe lese (legolego), und mit Dir zu sprechen, wenn ich Dir schreibe, deshalb habe ich so unbändige Freude gerade an Deinen längsten BriefenBrief und werde selbst häufig ein wenig zu langstielig beim SchreibenSchreiben“ (Cic. ad Brut. 1,1,45; Üb. KASTEN); Basilius von Caesarea schreibt in seinem Brief an den PhilosophenPhilosophie Eustathius (Basil.Basilius der Große ep. 1,1) angesichts des verhinderten Wiedersehens, er sei durch seinen Brief „überhaupt wundervoll erquickt und getröstet worden (θαυμαστῶς πως ἀνεκαλέσω καὶ παρεμυθήσω τοῖς γράμμασι).“ Ps.-Liban. ep. char. 2 beschreibt einen Brief als schriftliche UnterhaltungUnterhaltung: Ἐιστιλῆ μὲν οὖν ἐστιν ὁμιλία τις ἐγγράμματος ἀπόντος πρὸς ἀπόντα γινομένη … ἐρεῖ δέ τις ἐν αὐτῇ ὥσπερ παρών τις πρὸς παρόντα. In dokumentarischen Briefen findet sich die Wendung γράφεις μοι λέγων, vgl. P.Mil.Vogl. 1 24,6; O.Did.Didymos Chalkenteros 323,2. K. Thraede spricht daher von der „Illusion des Beisammenseins“ und bezeichnet das briefliche Anwesenheitstopos in Anknüpfung an SymmachusSymmachus (ep. 1,84), AmbrosiusAmbrosius von Mailand (ep. 46,1; 47,4; 66,1) und HieronymusHieronymus (ep. 3,1) als imago praesentiae.35 Ein weiteres relevantes Indiz für diese Konzeptualisierung der schriftbasierten brieflichen Kommunikation besteht in der Verwendung des Verbes σιγάω (stillLautstärkestill bleiben, schweigen) im Sinne von nicht-schreiben. Vgl. z.B. die Einleitungsphrase im Brief von Libanios an Akakios, mit der er begründet, warum er so lange nicht geantwortet hat: Πολὺν ἐσίγησα χρόνον ὑπ’ αἰσχύνης, ὅτι … (Lib.Libanios epist. 1514,1).
Es sei zuletzt auch an dieser Stelle noch einmal betont, dass aus dem Vorkommen des Lexems ἀκούωἀκούω nicht geschlussfolgert werden darf, dass Privatbriefe in der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Rezeption vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend gelesen wurden.36 Unter den gleichen methodischen Voraussetzungen, könnte man ja sonst aus modernen Briefwechseln, die ebenfalls als Gespräch unter Abwesenden konzipiert sind und in denen konventionell verba dicendiverba dicendi sowie verba audiendiverba audiendi im Sinne von „schreibenSchreiben“ und „lesen“ verwendet werden,37 ableiten, dass Briefe noch im 19./20. Jh. vokalisierend gelesen worden wären. Es bleibt festzuhalten, dass die Verben ἀκούω und audioaudio in der brieflichenBrief Kommunikation der Antike und an zahlreichen der oben diskutierten Stellen in der Literatur vor allem im Sinne von „zur Kenntnis nehmen“ verwendet werden, also nicht das physische Hören, sondern die kognitivekognitiv Verarbeitung im Blick ist.38 Ohne kontextuelle Markierungen darf also beim Vorkommen des Verbes im Kontext der Rezeption von Texten nicht auf die mediale Form bzw. Art der sinnlichen Wahrnehmung rückgeschlossen werden.