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3.7 Lesen als Bewegung

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LesenBewegung wird in der antiken Mittelmeerwelt sodann vielfach mit dem Konzept „BewegungBewegung“ konzeptualisiert, wobei das in der Forschung bekannte Konzept des Lesens als ReiseReise darunter zu subsumieren ist.1 Im Folgenden ist die weite Verbreitung des Konzepts, seine Spezifika und seine Implikationen für antike LesepraktikenLese-praxis anhand einiger wichtiger Verben und aussagekräftiger Quellen herauszuarbeiten. Vorab sei aber schon darauf hingewiesen, dass sich die These eines kausal-relationalen Verhältnisses der Bewegungsmetaphorik und dem Medium der RolleRolle (scroll)2 in den Quellen schwer nachweisen lässt. Diese These einer Korrelation ist außerdem v. a. deshalb zu hinterfragen, weil das Konzept (in der Spätantike) definitiv auch im Zusammenhang mit KodizesKodex verwendet wird3 und auch in der heutigen Beschreibungssprache des Lesens noch zu finden ist (überspringen, überfliegen usw.).

Ein gängiges Verb, das im Griechischen (vielfach auch für die Literatur der Alten KircheKircheAlte bezeugt) Lesen als BewegungBewegung konzeptualisiert, ist διέρχομαιδιέρχομαι (hindurchkommen, durchgehen/-laufen, bis ans Ende kommen).4 Dionysios von Halikarnassos beschreibt in seiner äußerst aufschlussreichen Reflexion des Leselernprozesses in der Antike das geübte Lesen oder VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt als stolperfreies Hindurchgehen durch einen Text mit Leichtigkeit und SchnelligkeitLese-geschwindigkeit (vgl. Dion. Hal.Dionysios von Halikarnassos comp. 25; diese Stelle wird unten unter 4.2 ausführlich zu besprechen sein). Eine sehr aufschlussreiche Stelle findet sich in einem bei Athenaios überlieferten Fragment des Komödiendichters Platon (Athen.Athenaios deipn. 1,8 [5b]), der eine Szene bei einem GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl darstellt, bei dem jemand in der Einsamkeit des Gemeinschaftsmahls ein BuchBuch für sich selbst durchgehen will (ἐγὼ δ᾽ ἐνθάδ᾽ ἐν τῇ ἐρημίᾳ τουτὶ διελθεῖν βούλομαι τὸ βιβλίονβιβλίον πρὸς ἐμαυτόν). Dann wird er aber von einer anderen Person gefragt, um was für ein Buch es sich handle und liest daraufhin aus „einem neuen Kochbuch von Philoxenus“ exemplarische Passagen vor. Die Szene impliziert eindeutig das Konzept nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierendr individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Lektüre (freilich reflektiert ironisch gebrochen; in einem Kontext, in dem diese Form von Lektüre eigentlich nicht möglich ist), da der Fragende sonst zumindest erkannt hätte, um was für eine Art Buch es sich handelt, und da außerdem das folgende Vorlesen von Ausschnitten (sequentiellKontinuitätsequentiell-selektivUmfangselektiv; vgl. Athen. deipn. 1,8 [5b /c]) aus dem Buch sonst redundant wäre.

PlutarchPlutarch berichtet, dass Pompeius nach dem Sieg über Mithridates VI. im 3. Mithridatischen Krieg dessen privateÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat Geheimdokumente in einer Festung am Lykos fand und diese „nicht ohne Vergnügen durchging (διῆλθεν οὐκ ἀηδῶς), da sie vieles enthielten, das den Charakter des KönigsKönig offenbarte“ (Plut. Pomp. 37). Unter den Schriftstücken waren u. a. Aufzeichnungen von seinen Träumen und erotische Korrespondenz mit Monime, auch Kopien von den BriefenBrief an sie. Pompeius hat diese Texte offenbar nicht nur aus dienstlichem Interesse gelesen, sondern sich damit auch unterhaltenUnterhaltung. Dass Plutarch mit dem Verb individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre zum Ausdruck bringt, zeigt sich eindeutig in der Biographie des jüngeren CatoCato der Ältere, Marcus Porcius, der vor seinem Selbstmord nach dem Essen allein in seinem Schlafgemach Platons Phaidon „schon zum Großteil durchgegangen war“ (διελθὼν τοῦ βιβλίου τὸ πλεῖστον καὶ ἀναβλέψας; Plut. Cato min. 68), als er bemerkte, dass sein Schwert nicht mehr an seinem Platz hing.5 An anderer Stelle begründet Plutarch die Abfassung seiner Schrift Non posse suaviter vivi secundum Epicurum in Frontstellung gegen eine Schrift von Kolotes damit, dass er zeigen wolle,

„dass man […] die Schriften derer, die man widerlegt, nicht bloß beiläufig durchgeht (τὰ γράμματαγράμματα μὴ παρέργως διελθεῖν) und da oder dort Äußerungen herausreißen oder Aussprüche, die nicht in ihren Schriften stehen, angreifen darf, um den Unerfahrenen Sand in die Augen zu streuen“ (Plut.Plutarch non posse suav. 1 [mor. 1086d]; Üb. angelehnt an OSIANDER/SCHWAB).

PlutarchPlutarch unterstellt Kolotes hier mit polemischem Impetus eine oberflächlicheAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtig und selektiveUmfangselektiv Lektüre der von ihm zitierten Schriften. Dies bringt er mit der MetapherMetapher des beiläufigen Durchgehens zum Ausdruck. Im folgenden Dialog6 sagt Aristodem, er sei kürzlich zufällig durch die Briefe Epikurs über den Tod des Hegesianax hindurchgegangen (ἔναγχος γὰρ κατὰ τύχην τὰς ἐπιστολὰςἐπιστολή διῆλθον αὐτοῦ) – d. h. er hat sie individuell-direktLektüreindividuell-direkt gelesen – und bereichert mit seinen Lesefrüchten die Diskussion (Plut. non posse suav. 20 [mor. 1101b]).

Nicht das Lesen eines schriftlich in einem Medium fixierten Textes, sondern ein rein mentaler Prozess ist gemeint, wenn der PhilosophPhilosophie Athenodorus Augustus als Rat gibt, er solle, wenn er zürne, nichts sprechen und tun, als bis er die vierundzwanzig BuchstabenBuch-stabe für sich durchgegangen sei (τέτταρα γράμματαγράμματα διελθεῖν πρὸς ἑαυτόν)“ (Plut.Plutarch mor. 207c). Der Kontext impliziert das Fehlen hörbarerLautstärkehörbar stimmlicherStimme Realisation.

Vergleichbar zur Verwendung von διέρχομαιδιέρχομαι finden sich auch die Verb διαπορεύωδιαπορεύω,7 διέξειμιδιέξειμι (durchgehen, hindurchziehen) und ἔπειμιἔπειμι (durchgehen, durchwandern)8 als LesemetaphernMetapher in den Quellen. Isokrates bietet in seinem Panathenaikos (Isokr.Isokrates or. 12,231) eine eindrucksvolle Beschreibung des Vorgehens bei der Ausarbeitung seiner RedenRede, in der ferner auch zum Ausdruck kommt, wie sich unterschiedliche Gemütszustände auf die Darstellungs- und Rezeptionsweise auswirken. Und zwar diktiert er eine Rede einem SklavenSklave, nachdem er durch diese mit Freude durchgegangen sei (ὃν ὀλίγῳ μὲν πρότερον μεθ᾽ ἡδονῆς διῆλθον). Vermutlich bezieht sich letzteres auf die Lektüre (und Überarbeitung) einer Vorfassung, die er womöglich auf TafelnTafel/Täfelchen schriftlich vorkonzipiert hat. Beim diktierten Text handelt es sich um eine vermutlich auf Papyrusrolle ausgearbeitete Fassung der Rede, die er einige Tage später erneut liest und durchgeht (τριῶν γὰρ ἢ τεττάρων ἡμερῶν διαλειφθεισῶν ἀναγιγνώσκων αὐτὰ9 καὶ διεξιών). Mit diesem zeitlichen Abstand fällt ihm einiges Negatives in der Darstellungsweise auf, was in ihm den Impuls auslöst, das ManuskriptHandschrift/Manuskript zu zerstören, woran ihn nur die viele Arbeit hindert, die er in die Ausarbeitung hineingesteckt hat (vgl. Isokr. or. 12,232). Die Verben ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω und διέξειμιLektüreindividuell-direkt meinen hier denselben individuell-direkten Lesevorgang, wobei durch letzteres Verb eine gewisse evaluative und womöglich auf KorrekturenKorrektur (s. auch Evaluation) und Überarbeitung ausgerichtete Rezeptionshaltung zum Ausdruck gebracht wird. Dies wird im Folgenden dadurch bestätigt, dass Isokrates in or. 12,246 den oberflächlichenAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtig Lesern (τοῖς μὲν ῥᾳθύμως ἀναγιγνώσκουσινἀναγιγνώσκω) einer Rede die sorgfältig Hindurchgehenden (τοῖς δ᾽ ἀκριβῶς διεξιοῦσιν) gegenüberstellt. Und zwar sind dies solche, die nach „ihrem eigenen Ermessen, gerade so viel davon lesen und durchgehen (διέρχομαι), wie sie jeweils selber wollen“ (Isokr. 12,136; Üb. ROTH, leicht modifiziert JH), d.h. die den Text abschnittsweise durchgehen und mit zeitlicher Unterbrechung (z.B. zum Nachdenken) nur Portionen lesen. Dies ist wegen der von Beginn an von Isokrates angedachten besonderen Länge und planvoll gestalteten Gesamtkonzeption der Rede notwendig.10 Diese drei Stellen zeigen im Übrigen, dass die von einigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vertretene These, die publizierten Reden von Isokrates seien für die RezitationRezitation vor PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum) bestimmt, kritisch zu diskutieren wäre.11

Eine weitere aufschlussreiche Stelle findet sich in Eusebs KirchengeschichteKirche-ngeschichte, der mit dem folgenden Satz ein längeres ZitatZitat (Ios.Josephus, Flavius bell. Iud. 5,12,3f [512–519]) einleitet.

„Hole das fünfte Buch der Geschichte des JosephusJosephus, Flavius und nimm es wiederum zur Hand (μετὰ χεῖρας αὖθις ἀναλαβώνἀναλαμβάνω), dann gehe die damaligen traurigen Ereignisse durch (δίελθε τὴν τραγῳδίαν)“ (Eus.Eusebios von Caesarea h. e. 3,6,1).

Auch wenn es sich hier um eine ZitateinleitungZitat-einleitung/-markierung handelt und der LeserLeser der KirchengeschichteKirche-ngeschichte das ZitatZitat im Folgenden aus dem ihm vorliegenden Text lesen kann, spiegelt sich in der Formulierung eine spezifische individuell-direkteLektüreindividuell-direkt LesepraxisLese-praxis wieder, bei der (schon einmal gelesene) BücherBuch zu spezifischen Fragen in die Hand genommen und selektivUmfangselektiv konsultiert werden. Da Euseb hier seine Leser mit imperativischen Formulierungen anspricht, kann man schlussfolgern, dass auch sein eigenes Werk für die individuell-direkte Lektüre konzipiert war.

DiodorDiodorus Siculus nutzt das Verb διέξειμι an oben schon besprochener Stelle (Diod. 1,3,8; s. o. S. 124) zur Beschreibung individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Lektüre von historiographischen Texten. Das Verb findet sich sodann als LeseterminusLese-terminus beim antiochenischen Astrologen Vettius ValensVettius Valens, der im 2. Jh. n. Chr. in seiner neunbändigen Schrift Anthologiae, im neunten Buch folgendermaßen über die anvisierte Rezeption reflektiert:

„All of the preceding methods are effective and easily understandable to those who study them (χρηματιστικαὶ καὶ εὐκατάληπτοι τοῖς ἐντυγχάνουσίν) […]. I have set a table rich in learning and I have invited guests to the banquet (πλουσίαν οὖν μαθημάτων τράπεζαν αρασκευασάμενος συνεστιάτορας ἐπὶ τὸ σύνδειπνον ἀνακέκληκα.). Let those who wish to feast act with the physical assistance of the body, which helps them to use the nourishment not in a greedy or insatiable way, but only in so far as the victuals can provide reasonable pleasure. (What is consumed beyond the bounds of nature usually causes harm.) Now if any of the guests should wish to continue living unharmed, let him eat one or two courses, and he will be happy. […] if anyone spends some time on one or two of the preceding methods, he will find his goal to be easily grasped, and he will spend his time in pleasure and delight and will enjoy great repute. If, however, anyone is slow to understand what he reads, yet wishes in one day to run through two or three books, he will not discover the truth (εἰ δέ τις εἴη μὲν εἰς τὸ ἀναγινώσκειν δυσνόητος, θέλοι δὲ εἰς μίαν ἡμέραν δύο καὶ τρεῖς βίβλους διεξιέναι, τὴν μὲν ἀλήθειαν οὐκ ἐξιχνεύσει). Instead, he will be like a storm-fed river, rolling its burden along, worthless and profitless to the onlookers, and sinking back quickly to its useless state. Nor does a racehorse running in a desert place, outside of a stadium or a battle, win any prizes“ (Vett. Val.Vettius Valens 9,9; Üb. M. RILEY; Herv. JH).

Vettius ValensVettius Valens führt hier zunächst aus, dass seine Methoden (ἀγωγή) für die LeserLeser prinzipiell kognitivkognitiv gut zu verarbeiten (εὐκατάληπτος) sind. Mit einer eindrucksvollen Kombination aus verschiedenen Essens- und Bewegungsmetaphern erläutert er dann die Bedingungen für das VerstehenVerstehen. (Auch wenn die LesemetaphernMetapher des Essens und Trinkens erst unter 3.9 besprochen werden, ist diese Stelle wegen der Metaphernkombination schon hier anzuführen.) Seine Darlegungen gleichen einem reichen „Tisch des LernensLernen“ und seine Leser sind Gäste, die sich beim MahlGemeinschaftsmahl (d. h. bei ihrem Rezeptionsprozess) daran bedienen können. In Analogie zu allgemeinen Ansichten antiker Diätetik spezifiziert er, dass beim Lesen maßzuhalten ist, damit die Speise für den Körper ohne Schaden verdaut, also das Gelesene gut kognitiv verarbeitet werden kann. Die hier verwendete Metaphorik spiegelt eindeutig eine individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüresituation, bei welcher der Leser sich selbstbestimmt für seine LeseweiseLese-weise entscheidet. Insbesondere legt Vettius Valens den Lesern mit der Metaphorik des Essens eine intensive selektivUmfangselektiv-diskontinuierlicheKontinuitätdiskontinuierlichAufmerksamkeitvertieft Form der MehrfachlektüreLektüreMehrfach- nahe. Diese Form der anvisierten Rezeption führt er sodann explizit aus: Derjenige, der einige Zeit investiert und sich eine oder zwei Methoden aus dem Vorhergehenden herausgreift, wird Freude und großen Nutzen davon haben. Mit Hilfe der Bewegungsmetaphorik bringt er sodann zum Ausdruck, wie seine BücherBuch nicht zu lesen seien – und zwar insbesondere von solchen, die langsamLese-geschwindigkeit bei der kognitiven Verarbeitung beim Lesen sind (εἰς τὸ ἀναγινώσκειν δυσνόητος). Insbesondere solche Leser sollen nicht versuchen, in einem Tag durch zwei oder drei BücherBuch durchzugehen (διέξειμι). Die weitere Ausarbeitung der Bewegungsmetaphorik in den folgenden Sätzen zeigt, dass mit διέξειμι hier durchaus an ein relativ schnelles, oberflächlichesAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtig Lesen gedacht ist. Diese Konnotation der Bewegungsmetaphorik war oben schon bei PlutarchPlutarch (Plut. non posse suav. 1 [mor. 1086d], s. o. S. 188) zu sehenSehen und wird uns im Folgenden insbesondere bei Seneca (Sen. ep.Seneca, Lucius Annaeus (d. J.) 2,2-6) wieder begegnen.

Lesen wird in den Quellen sodann mit dem Verb ἐγκύπτωἐγκύπτω (wörtlich: „hineinbeugen“; den Kopf vorbeugen, vornüberbeugen, sich bücken) beschrieben. Als LeseterminusLese-terminus gebraucht, steht hier das Einnehmen der HaltungHaltung des Lesenden pars pro toto für den Gesamtprozess des Lesens. Deutlich wird dies z.B. bei Sextus Empiricus, der im Kontext von Ausführungen über die Farbwahrnehmung der AugenAugen die Wahrnehmung von Geschriebenem, nachdem man in die Sonne geschaut hat, als Beispiel heranzieht: „Ferner, wenn wir uns über ein BuchBuch beugen (ἐγκύψαντες βιβλίῳ), nachdem wir lange in die Sonne geschaut haben, scheint es so, als seien die BuchstabenBuch-stabe golden und tanzten herum.“ (S. Emp.Sextus Empiricus P. H. 1,45). Es ist nun interessant, dass das Verb vor dem 1. Jh. n. Chr. weder im Kontext von LeseszenenLese-szene noch als LeseterminusLese-terminus im engeren Sinne gebraucht wird und die Belege bis auf einige Ausnahmen überwiegend christlich sind.12 Inwiefern eine Interdependenz zur KodexformKodex besteht, lässt sich nur schwer sagen. In vielen Quellen, in denen ἐγκύπτω metonymischMetonymie für Lesen steht, ist es konnotiert mit einem intensiven Lesemodus bzw. einem Studienlesemodus. Die Semantik des Verbes kann zugleich die Haltung, den Grad der Aufmerksamkeit und die Intensität der LektüreAufmerksamkeitvertieft zum Ausdruck bringen. Ein gutes Äquivalent im Deutschen ist das Motiv des „In-ein-Buch-vertieftAufmerksamkeitvertieft-Seins“, da es die vertikal nach unten gerichtete Dimension der Semantik von ἐγκύπτω13 treffend zum Ausdruck bringt.

Aufschlussreich ist eine Episode (Ach. Tat.Achilleus Tatios 1,6,6) im RomanRoman Leukippe und Kleitophon von Achilleus Tatios: Der liebestrunkene Kleitphon nimmt, während er im Haus herumläuft, ein BuchBuch in die Hand, beugt sich darüber und liest (βιβλίονβιβλίον ἅμα κρατῶν, καὶ ἐγκεκυφὼς ἀνεγίνωσκον); aber immer, wenn er an der Tür von Leukippe vorbeigeht, späht er zu ihr hinüber, indem er nur die AugenAugen hebt (τὸν δὲ ὀφθαλμόν … ὑπείλιττον κάτωθεν). Dies impliziert, dass Kleitophon heimlich zu ihr hinüberspät, also der Leseprozess aus der Außenperspektive allein an seiner HaltungHaltung erkannbar sein muss. Damit ist deutlich, dass Kleitophon auf der Ebene der erzählten Welt des Romans nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend liest, da die Konstellation sonst wenig Sinn machen würde: Beim Heben der Augen wäre es Kleitophon ja nicht möglich gewesen, den Text weiter lautlich zu realisieren, und ein abruptes Abbrechen der Vokalisation hätte Leukippes Aufmerksamkeit auf Kleitphon gezogen. Der in sein Buch/seine SchriftrolleRolle (scroll) vertiefteAufmerksamkeitvertieft Kleitophon ist unverdächtig und unauffällig.

In der Forschungsliteratur findet sich die These, dass die hier bei Achilleus Tatios erzählte Rezeptionshaltung durchaus selbstreferenziellselbstreferenziell verstanden werden kann,14 Romane also zur individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre gedacht waren, die Frage nach der sozialen Stellung der intendierten und tatsächlichen Leserschaft antiker Romane ist hingegen umstritten.15

Analog zu ἐγκύπτωἐγκύπτω kann im Lateinischen das wurzelverwandte16 Verb incumboincumbo verwendet werden, wie eine Stelle bei TertullianTertullianus, Quintus Septimius Florens zeigt, an der er im Kontext der Thematisierung der geistlichen Dimension einer keuschen Lebensführung das Lesen der Heiligen Schrift thematisiert: „Wenn er [scil. der Mensch] sich in die Schrift hineinbeugt, ist er ganz in jener“ (si scripturisscriptura incumbit, totus illic est, Tert. exhort. cast. 10,2). Es ist aufschlussreich, dass Tertullian hier allgemein vom Menschen redet, der in die Schrift vertieftAufmerksamkeitvertieft ist. Damit setzt er eine generelle (allerdings nicht näher zu quantifizierende) Praxis der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre der Schrift voraus.

Die konzeptuelle MetapherMetapher BEWEGUNG IST LESENBEWEGUNG kommt aber z.B. auch in folgenden Formulierungen zum Ausdruck: „Einige junge Leute, die erst seit kurzem regelmäßig zu den alten Worten [scil. Schriften der alten PhilosophenPhilosophie] gehen, tadelten Epikur …“ (Νεανίσκοι τινὲς οὐ πάλαι τοῖς παλαιοῖς λόγοις προσπεφοιτηκότες ἐσπάραττον τὸν Ἐπίκουρον … Plut.Plutarch symp. 3,6,1 [mor. 653b]);17 „damit die LeserLeser mitgenommen werden (συμπεριφέρεσθαισυμπεριφέρεσθαι)“ (Polyb.Polybios 3,34,3). Äquivalent finden sich in den Quellen auch Formulierungen, die zeigen, dass das Konzept auch aus der Autorenperspektive verwendet werden konnte. So formuliert z.B. JosephusJosephus, Flavius leserlenkendLeserlenkung im Hinblick auf die KompositionKomposition seines BuchesBuch, er werde das „was aber vor meiner Zeit geschah, auf kurzem Wege durcheilen (ἐπιτρέχω)“ (Ios. bell. Iud. 1 prooem. 6 [18]).

Das metaphorischeMetapher Konzept BEWEGUNG IST LESENBEWEGUNG findet sich auch in lateinischen Quellen und ist z.B. impliziert in einer Aussage der praefatio des vierten Buches von LiviusLivius, Titus’ Geschichtswerk, dass er nicht daran zweifle, „daß den meisten Lesern (legentium) die ersten Anfänge […] weniger Freude machen wird, da sie es eilig haben (festinantibus), zu unserer Neuzeit zu kommen“ (Liv. 4 praef.; Üb. PAUSCH). Diese Aussage ist deshalb interessant, da der AutorAutor/Verfasser hier im Hinblick auf eine individuell-direkteLektüreindividuell-direkt LesesituationLese-situation antizipiert, dass seine LeserLeser den Text nicht gleichbleibend sequentiellKontinuitätsequentiell entlang des Textes lesen, wobei allerdings nicht sicher zu entscheiden ist, „ob mit festinare hier eine in höherer GeschwindigkeitLese-geschwindigkeit erfolgende, aber vollständigeUmfangvollständig Lektüre oder eine selektiveUmfangselektiv Form der Rezeption, in der auch Teile vom Leser ausgelassen werden können, gemeint ist.“18 Eindeutiger mit selektiven Zugriffen verknüpft ist das Konzept BEWEGUNG IST LESEN dagegen bei Martial, der mehrfach „die Verben transiretransire und praetirepraetire [verwendet], um damit zu beschreiben, wie Leser ein oder mehrere Gedichte nicht beachten bzw. ‚übergehen‘.“19 Diese beiden Verben müssten im Hinblick auf das Konzept BEWEGUNG IST LESEN weiterführend untersucht werden. Dies kann im Rahmen dieser Studie jedoch nicht geleistet werden.

Weil er eine detaillierte Einsicht in LesepraktikenLese-praxis in der Antike bietet, ist jedoch im Folgenden noch der ausführliche Rat Senecas zur Lektüretätigkeit und -auswahl zu besprechen, den er LuciliusLucilius in einem seiner Briefe gibt:

„2 Gib aber darauf acht, daß Deine Lektüre vieler AutorenAutor/Verfasser und aller möglichen Werke nicht eine gewisse Oberflächlichkeit und Unbeständigkeit mit sich bringt (ne ista lectiolectio auctorum multorum et omnis generis voluminumvolumen habeat aliquid vagum et instabile)! Man muß sich an bestimmte große Geister halten und an ihnen wachsen, wenn man etwas gewinnen will, das tief im Herzen Wurzel schlägt. Nirgends ist, wer überall ist. So ergeht es Leuten, die ihr Leben auf ReisenReise verbringen: Sie sind viel zu Gast, aber niemands Freund. Und dasselbe muß unweigerlich denen widerfahren, die sich nicht vertrauensvoll an einem der Großen orientieren, sondern durch alles hastig und schnellLese-geschwindigkeit hindurcheilen (sed omnia cursim et properantes transmittunttransmitto). 3 Eine Speise (cibus) ist nutzlos und schlägt nicht an, die man, kaum daß man sie zu sich genommen hat, wieder von sich gibt. Nichts verhindert so sehr die Genesung, als häufiger Wechsel der Heilmittel. Keine Wunde vernarbt, an der man Medikamente ausprobiert. Keine Pflanze gedeiht, die man häufig versetzt – kurz: Nichts ist so nützlich, daß es schon bei flüchtiger Berührung nützen könnte (ut in transitu prosit). Nur Verwirrung kommt aus einer Überzahl von Büchern (distringit librorum multitudo.). Da Du nicht alles zu lesen vermagst, was Du hast, genügt es, soviel zu haben, wie du lesen kannst (itaque cum legerelego non possis, quantum habueris, satis est habere, quantum legas). 4 ‚Aber‘, wendest Du ein, ‚ich möchte bald dieses BuchBuch auseinanderrollen (evolvoevolvo), bald jenes!‘ Es verrät einen übersättigten Magen, wenn man von vielem nur kostet (fastidientis stomachi est multa degustaredegusto). Sobald es viele verschiedene Speisen sind, machen sie nur Beschwerden und sind nicht nahrhaft. Lies also stets anerkannte Autoren, und wenn es Dich einmal lockt, Dich anderen zuzuwenden, dann kehre zur früheren Lektüre zurück (ad priores redi). Verschaffe Dir täglich ein wenig von dem, was Dir in der ArmutArmut oder beim Sterben helfen kann, desgleichen bei den übrigen Übeln. Und wenn Du durch vieles hindurchgerannt bist, greife Dir einen Satz heraus (o. exzerpiere einen Satz), den Du an diesem Tag weichkochst (et cum multa percurrenspercurro, unum excerpe, quod illo die concoquas). 5 Ich halte es selbst ebenso: Aus recht vielem, das ich lese, suche ich mir etwas zu eigen zu machen (ex pluribus, quae legi, aliquid adprehendo). Heute ist’s der folgende Satz, den ich zufällig bei Epikur gefunden habe – ich gehe (transeotranseo) nämlich gern auch einmal ins gegnerische Lager, nicht als Überläufer, sondern als Kundschafter. ‚Ehrenwert‘, sagt Epikur, ‚ist heitere Armut.‘ (6) Doch es ist gar keine Armut, wenn sie heiter ist: Nicht, wer zu wenig hat, sondern wer zu viel begehrt, ist arm“ (Sen. ep.Seneca, Lucius Annaeus (d. J.) 2,2-6; Üb. FINK, mod. JH).

Dieser BriefBrief gehört wohl zu den bildreichsten Reflexionen antiker LesepraxisLese-praxis, in denen verschiedene Bildfelder (u. a. BewegungBewegung/ReiseReise, Kontakt/Berührung, Krieg) interagieren, wobei aber die Bewegungs- und Speisemetaphorik dominieren. Die Quelle belegt idealtypisch zwei verschiedene Konzepte individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Lektüre. Zum einen singulärenFrequenzsingulär, schnelle und oberflächlicheAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtigLese-geschwindigkeit Lektüre vieler BücherBuch, die hier vor allem durch Bewegungsmetaphern (vagum et instabile; sed omnia cursim et properantes transmittunttransmitto [Sen. ep.Seneca, Lucius Annaeus (d. J.) 2,2]; et cum multa percurrens [Sen. ep. 2,4]) konzeptualisiert ist. Insbesondere das Verb percurropercurro (durchlaufen, durcheilen) scheint eine gängige LesemetapherMetapher im Lateinischen zu sein und ein eher oberflächliches, „überfliegendes“ Lesen zu bezeichnen.20 Eine solche Lektürepraxis bewertet Seneca kritisch und begründet dies unter anderem speisemetaphorisch: Verschiedene Speisen, von denen man nur kostet, sind nicht nahrhaft (Sen. ep. 2,4). Damit bringt Seneca eine Erfahrung der Begrenztheit kognitiverkognitiv Verarbeitbarkeit von Gelesenem bei einer solchen oberflächlichen Form von Lektüre zum Ausdruck. Entsprechend ist auch sein Rat zu früheren Lektüren zurückzukehren (redeoredeo), also wiederholt zu lesen bzw. einzelne LesefrüchteLese-frucht für sich selbst festzuhalten, möglicherweise durch ein schriftliches ExzerptExzerpt, und sich anzueignen, also das intensiv zu Verarbeitende zu selektieren, wofür die Lektüre vermutlich auch unterbrochenLese-pausen/-unterbrechungAufmerksamkeitvertieft werden muss.21 Interessant ist ferner noch, dass Seneca die Auswahl seiner Lektüren ebenfalls durch eine innovative Bewegungsmetapher zum Ausdruck bringt: das Hinübergehen (transeotranseo) ins feindliche Lager (Sen. ep. 2,5). In einem anderen Buch verwendet er für die von ihm kritisierte LeseweiseLese-weise das Verb erroerro, um das ziellose Umherirren in den Büchern vieler AutorenAutor/Verfasser zum Ausdruck zu bringen (Sen. tranq. 9,4).

Zuletzt und überleitend zum nächsten Punkt sei noch auf eine besondere Form der Bildlichkeit der BewegungBewegung hingewiesen und zwar auf solche Fälle, wo sich nicht – wie in den meisten bisher besprochenen Quellen – der LeserLeser durch den Text bewegt, sondern explizit die AugenbewegungAugen-bewegung thematisiert wird. Besonders aufschlussreich im Hinblick auf die vorliegende Studie ist in dieser Hinsicht ein Redebeitrag von Aristobulos in Plutarchs Dialog über den Verstand von Land- und Wassertieren:

„Wir können oft Schriften mit den AugenAugen durchlaufen, und es können RedenRede in das OhrOhr fallen, ohne daß wir etwas davon auffassen und behalten, weil wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas Anderes gerichtet haben (καὶ γὰρ γράμματαγράμματα πολλάκις ἐπιπορευομένους τῇ ὄψει καὶ λόγοι προσπίπτοντες τῇ ἀκοῇ διαλανθάνουσιν ἡμᾶς καὶ διαφεύγουσι πρὸς ἑτέροις τὸν νοῦν ἔχοντας). So wie aber diese zum Gegenstand zurückkehrt, gehen wir denkend alles Vorbeigelassene noch einmal durch. Daher heißt es auch: ‚Der Verstand sieht, der Verstand hört; alles andere ist taub und blind (νοῦς ὁρῇ καὶ νοῦς ἀκούει, τἄλλα κωφὰ καὶ τυφλά),‘ [Epicharmos, PCG 1 214]. Denn der Eindruck auf Augen und Ohren bringt, wenn nicht das Denken dabei ist, keine Empfindung hervor“ (Plut.Plutarch soll. an. 3 [mor. 961a]; Üb. OSIANDER/SCHWAB)

Autobulos siniert hier eindrucksvoll über den Zusammenhang zwischen Lesen und kognitiverkognitiv Verarbeitung. Seine Ausführungen beruhen allem Anschein nach nicht nur auf der Selbstwahrnehmung seiner eigenen LesepraxisLese-praxis, sondern spiegeln ein in der Antike weiter verbreitetes Bewusstsein wider. Zur Beschreibung des Lesens verwendet er das Motiv „BuchstabenBuch-stabe mit den AugenAugen durchmarschieren/-reisen“ (ἐπιπορεύομαιἐπιπορεύομαι τῇ ὄψει), womit eindeutig ein (unbewusster) individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Leseprozess gemeint ist. Und zwar verweist er damit spezifisch auf die physiologischen Prozesse des Lesens, die darauf angewiesen sind, dass auch der Verstand auf das Gelesene gerichtet wird. Denn wenn die Aufmerksamkeit des LesersLeser auf etwas anderes gerichtet ist, kann der Leser den Inhalt des Textes kognitiv nicht weiterverarbeiten, was etwa auch Augustinus reflektiert.22 Allerdings scheint der zweite Satz „So wir aber …“ auf eine Erfahrung hinzudeuten, dass auch bei einem Leseprozess, bei dem der Leser gedanklich abschweift, unterbewusst doch etwas wahrgenommen werden kann, das einem im Nachhinein durch Zurücklenkung der Aufmerksamkeit auf den Gegenstand, bewusst gemacht werden kann. Dass hier außerdem zwischen dem Auge als primärem RezeptionsorganRezeption für das Lesen und dem OhrOhr als primärem Rezeptionsorgan für die RedeRede unterschieden wird, deutet in diesem Kontext außerdem eher darauf hin, dass er nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierends Lesen voraussetzt.23 Im ZitatZitat von Epicharmos zeigt sich zudem ein Bewusstsein für das „innere Auge“ und das „innere Ohr“ als Beschreibungskategorien für die kognitiven Verarbeitungsprozess beim Lesen, die schon an anderer Stelle angesprochen wurden.

Bei HorazHoraz (sat. 2,5,51–55) findet sich eine eindrucksvolle Szene, in der es um das Lesen eines Testamentes geht. In einem Dialog mit Teiresias rät Odysseus diesem, er möge, wenn jemand ihm sein Testament zu lesen geben wolle, es dankend zurückweisen. Dabei möge er sich jedoch bemühen, unbemerkt einen Seitenblick auf die zweite Zeile der ersten Seite (der tabulae) zu werfen (ut limis rapias, quid prima secundo ceracera velit versu; Hor. sat. 2,5,53f), in der die Erben namentlich erwähnt werden. Mit schnellem AugeAugen solle man dabei rennen (veloci percurrepercurro oculo), um zu schauen, ob er allein oder mit anderen erbt (Hor. sat. 2,5,54f). Hier ist eindeutig eine beiläufige individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre im Blick, die schnellLese-geschwindigkeit und unbemerkt ablaufen muss und eindeutig rein visuellvisuell konzeptualisiert ist. Die weite Verbreitung der Wahrnehmung des Lesens als visuelles Phänomen wird nun im Folgenden zu thematisieren sein.

Lesen in Antike und frühem Christentum

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