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4.2 Das Lesen von scriptio continua im Spiegel antiker Quellen

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Dem Fazit Vatris, dass es für antike Leserinnen und LeserLeser keine physiologischen Einschränkungen beim nicht-vokalisierendenStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesen von scriptio continuaSchriftscriptio continua gegeben habe, stehen scheinbar Quellenstellen gegenüber, die immer wieder herangezogen werden, um die Hypothese zu belegen, dass antiken Leserinnen und Lesern das Lesen von scriptio continua Schwierigkeiten bereitet hätte.1 Sammelt man die Angaben aus den Ausführungen und Fußnoten zusammen, ergibt sich – ohne die Belege, die zeigen, dass durch die fehlenden WortzwischenräumeWort-zwischenraum gelegentlich Ambiguitäten und insbesondere Fehler beim Abschreiben entstehen2 – die folgende Liste: Dion. Hal.Dionysios von Halikarnassos comp. 25; Gell.Gellius, Aulus 13,31,5; Arist. Rhet. 3,5,6; Quint.Quintilian inst. or. 1,1,34; Petron.Petronius Arbiter, T. sat. 75,4 und Iren.Irenäus von Lyon adv. haer. 3,7,1. Diese Quellen lassen jene Schlussfolgerung aber keinesfalls zu, sondern sind allgemein im Kontext des Lesenlernens zu interpretieren und legen sogar gegenteilige Schlussfolgerungen nahe.

So handelt es sich bei Dion. Hal.Dionysios von Halikarnassos comp. 253 um eine bemerkenswerte Reflexion des eigenen Lesesozialisationsprozesses aus der zweiten Hälfte des 1. Jh. v. Chr., die zudem eine interessante Einsicht in die Selbstwahrnehmung der kognitivenkognitiv Prozesse beim Lesen bietet:

„Wenn wir die BuchstabenBuch-stabe [τὰ γράμματαγράμματα, i. e. Lesen und SchreibenSchreiben] beigebracht bekommen, lernenLernen wir zuerst sorgfältig ihre Namen, danach die Formen und die Bedeutungen [von ihnen],4 dann genauso die Silben und die Flexion in diesen und danach bereits die Wörter und das mit ihnen Zusammenhängende, ich meine sowohl Dehnungen [ἔκτασις] als auch Kontraktionen [συστολή], Akzentuationen und Quantitäten [προσῳδία] und diesen ähnliche Dinge. Wenn wir das Wissen über diese Dinge erlangt haben, dann beginnen wir zu schreiben und zu lesen [γράφειν τε καὶ ἀναγινώσκειν], zuerst zwar nach Silben und langsamLese-geschwindigkeit [κατὰ συλλαβὴν καὶ βραδέως]; wenn aber die rechte Zeit gekommen ist und sich die Formen der Wörter fest in unseren Geist (ἐν ταῖς ψυχαῖςψυχή ἡμῶν) implementiert haben, dann ist unser Umgang mit ihnen von Leichtigkeit gekennzeichnet, und wann immer uns irgendein BuchBuch in die Hand gegeben wird, gehen wir ohne Stolpern hindurch – mit Leichtigkeit und [unglaublicher] Schnelligkeit [ἀπταίστῳ διερχόμεθα ἕξει τε καὶ τάχει {ἀπίστῳ}].“5

Neben den äußerst interessanten Einsichten in die antike Didaktik des SchriftspracherwerbsSchrift-spracherwerb, die hier nicht weiter thematisiert werden kann,6 zeigen diese Ausführungen von Dionysios von Halikarnassos, dass die Dekodierung einzelner Silben über die phonologischePhonologie Realisierung nur ein Schritt im Leselernprozess ist, auf die geübte LeserLeser nicht mehr angewiesen sind. Diese haben vielmehr die Wörter so umfassend internalisiert, dass sie sie problemlos in der scriptio continuaSchriftscriptio continua erkennen können, sodass ihr Leseprozess flüssig und schnellLese-geschwindigkeit ist.7 Zwar denkt Dionysios hier womöglich an das flüssige und schnelle vokalisierendeStimmeinsatzvokalisierend Lesen; sicher zu schlussfolgern ist dies jedoch nicht und ein Bezug auf schnelle inhaltsbezogene individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre ist ebenfalls möglich. Denn einerseits verwendet Dionysios das Verb an anderer Stelle eindeutig im Sinne von inhaltsbezogener individuell-direkter Lektüre, wenn er in seiner Schrift über ThukydidesThukydides formuliert: „Beispiele anzuführen, ist im Hinblick auf diejenigen unnötig, die durch die Historien selbst hindurchgegangen sind (τοῖς διεληλυθόσιν)“ (Dion. Hal.Dionysios von Halikarnassos Thuk. 8). Andererseits ist das Motiv des Stolperns kongruent zum LeseterminusLese-terminus διέρχομαιδιέρχομαι, der, wie oben gezeigt, eben auch metaphorischMetapher individuell-direkte Lektüre konzeptualisieren oder sich metonymischMetonymie auf die AugenbewegungAugen-bewegung beziehen kann und nicht zwingend metaphorisch auf den Gang des Vorleseprozesses bezogen ist. Das Stolpern meinte dann weniger eine Pause im flüssigen VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt als eine Unterbrechung der sakkadischen Augenbewegung durch eine längere Fixations- oder Regressionsdauer, die Dionysios reflektiert, aber freilich nicht mit der modernen Metasprache der LeseforschungLese-forschung beschreibt. Deutlich wird aus seinen Ausführungen in jedem Fall, dass die WorterkennungWort-erkennung unabhängig von der Frage, ob er an das vokalisierende oder nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesen denkt, visuellvisuell und nicht über den Umweg der phonologischen Realisation über das OhrOhr abläuft; also das vokalisierende Lesen keineswegs die Voraussetzung darstellt, um einen Text in scriptio continua zu dekodieren.

Auch die satirische Szene in den Noctes Atticae (Gell.Gellius, Aulus 13,31), in der ein „aufgeblasener Mensch“ (Gell. 13,31,1), der in einem Buchladen sitzt, der Hochstapelei überführt wird, thematisiert nicht die angeblichen Schwierigkeiten, die antike LeserLeser mit der scriptio continuaSchriftscriptio continua hatten, sondern die Schwierigkeiten eines Menschen, der nahezu Analphabet ist (aber etwas anderes vorgibt), einen ihm unbekannten Text vorzulesen. Die schlechte LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität) des Hochstaplers wird dadurch hervorgehoben, dass er noch schlechter lese als ein Junge, der neu in die SchuleUnterricht gekommen ist (vgl. Gell. 13,31,9). Darüber hinaus ist überhaupt nicht klar, ob der AutorAutor/Verfasser dieser fiktiven Szene seinen Lesern einen lateinischen Text ohne WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift) vor AugenAugen stellen wollte. Schließlich ist es sehr wahrscheinlich, für das 2. Jh. einen Text der Satiren Varros (1. Jh. v. Chr.) anzunehmen, der noch Worttrennungen aufwies (siehe zu Worttrennungen in lateinischen Hss.Handschrift/Manuskript unten mehr),8 wo Gellius doch das Alter und die Zuverlässigkeit der Hss. besonders betont: accipit a me librum veterem fidei spectatae, luculente scriptum (Gell. 13,31,6). Der Zusatz luculente scriptum (klar, prächtig geschriebenSchriftGeschriebenes) hebt sodann die gute LesbarkeitLesbarkeit der Schrift hervor.9 Damit kontrastiert Gellius erneut die schlechte Lesefähigkeit des Hochstaplers, der noch nicht einmal ein Prachtexemplar lesen kann. Das Lesen von scriptio continua thematisiert diese Quelle in jedem Fall nicht.

„Denn nach rechts vorauszuschauen (prospicere in dextrum), was alle anraten, und im Voraus das Folgende zu überschauen (providere), ist nicht mit dem Verstand allein zu leisten, sondern auch eine Sache der praktischen Erfahrung; denn man muß ja schon auf das Folgende blicken, während man das Vorhergehende ausspricht und, was das Schwierigste ist, seinen Geist gleichzeitig auf zweierlei konzentrieren: die Betätigung der StimmeStimme und die der AugenAugen.“ (Quint.Quintilian inst. or. 1,1,34; Üb. RAHN).

Auch für diese Stelle bei Quintilian gilt, dass er und seine anvisierten AdressatenAdressat im 1. Jh. n. Chr. überhaupt keine lateinischen Texte in scriptio continuaSchriftscriptio continua vor sich liegenHaltungliegen hatten, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach Texte, die WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift) durch Mittelpunkte aufwiesen. Der materielleMaterialität Befund zeigt, dass es sich um einen methodischen Fehlschluss handelt, die scriptio continua der spätantiken und mittelalterlichen lateinischen Hss.Handschrift/Manuskript in die Zeit vor dem 2. Jh. zurückzuprojizieren.10 Sodann fokussiert Quintilian hier nicht auf das Lesen als Gesamtphänomen, sondern, wie der Makrokontext (Rhetorikausbildung), aber auch der Mikrokontext in inst. 1,1 (Grundlagen für die Rhetorikausbildung) eindeutig zeigt, auf die Schwierigkeiten, die mit der spezifischen Situation des VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt vor anderen verbunden ist. Quintilians Curriculum des Lesenlernens steht ganz im Dienst der Ausbildung eines guten Redners. Die AugenAugen müssen beim Vorlesen nach rechts vorausschauen (prospicere in dextrum) und den kommenden Text vorausschauend wahrnehmen (providere), damit die mündliche Realisation des Textes zusammenhängend, flüssig und damit (für die ZuhörerHörer) verständlich wird (vgl. Quint.Quintilian inst. or. 1,1,31). Das, was Quintilian hier beschreibt, umfasst m. E. nicht nur das Phänomen beim vokalisierendenStimmeinsatzvokalisierend Lesen, das man in der LeseforschungLese-forschung als eye-voice span bezeichnet,11 sondern könnte sehr gut auch den sog. parafoveal previewparafoveal preview (s. o.) und LesestrategienLese-strategie implizieren, die kurze PausenLese-pausen/-unterbrechung nutzen, um im Text vorauszublicken und den Text dann erst stimmlich zu realisieren. Das Bewusstsein für diese Phänomen beim vokalisierenden Lesen findet sich auch in griechischen Quellen; kann also auch für das Lesen von scriptio continua vorausgesetzt werden. „Du liest einige [scil. BücherBuch] recht flüssig, während du deine Augen vor deiner StimmeStimme hältst“ (ἀναγιγνώσκεις ἔνια πάνυ ἐπιτρέχων, φθάνοντος τοῦ ὀφθαλμοῦ τὸ στόμα; Lukian.Lukian von Samosata adv. ind. 2). Auch dass Kydippe beim Lesen des Schwurs „Ja, bei Artemis, ich werde Akontios heiraten“, den letzterer auf einen Apfel geritzt hatte, das letzte Wort, das sich auf eine Hochzeit bezieht, nicht mehr stimmlich realisiert, es aber vorher erkannt haben muss (ἡμίφωνον καταλέλοιπε λέξιν τὴν ἐπ’ ἐσχάτῳ κειμένην ἅτε διαμνημονεύουσαν γάμον),12 erklärt sich durch den parafovealen Vorausblick.

Insbesondere Quintilians Ausführungen verdeutlichen: Qualitätsvolles Vortragslesen, dem vorbereitende individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre vorausgeht,13 impliziert die Fähigkeit, im Leseprozess eine größere Menge Text nur mit den AugenAugen wahrnehmen zu können, da man ihn sonst nicht sinngemäß und flüssig vorlesen kann – und das gilt unabhängig von der Frage nach Wortzwischenräumen. Die höheren kognitivenkognitiv und physiologischen Anforderungen, die das qualitätsvolle VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt an die Leserinnen und LeserLeser stellt, spiegelt sich in den Ergebnissen empirischer Untersuchungen in der kognitionspsychologischen LeseforschungLese-forschung zumindest für Leserinnen und Leser der zeitgenössischen SchriftsystemeSchrift-system (s. o.). Insgesamt führen die kognitiv und physiologisch höheren Anforderungen des qualitätsvollen Vorlesens die These ad absurdum, dass man scriptio continuaSchriftscriptio continua nur vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend lesen konnte; bzw. die dahinterliegende Annahme, dass die Silben in der scriptio continua mit der StimmeStimme phonologischPhonologie realisiert werden mussten, damit die scriptio continua dekodiert werden konnte. Sowohl im Lateinischen als auch im Griechischen ist das Auge der Stimme voraus; die Verarbeitung des GeschriebenenSchriftGeschriebenes beim Vorlesen läuft also vor der lautlichen Realisierung. Dies gilt dann genauso für Formen der individuell-direkten Lektüre und hier unabhängig davon, ob der Text mit der Lesestimme oder der inner reading voiceStimmeinnere (inner reading voice) realisiert wird.

R. Cribiore schlussfolgert mit Bezug auf die genannten Quellen differenzierter, dass scriptio continuaSchriftscriptio continua besonders für Anfängerinnen und Anfänger des Lesens eine besondere Herausforderung dargestellt hätte.14 Der diskutierte Quellenbefund reicht aber m. E. für eine solche Schlussfolgerung, dass das Lesenlernen in einem SchriftsystemSchrift-system mit scriptio continua schwerer sei als in einem Schriftsystem, das WortzwischenräumeWort-zwischenraum aufweist (hier gelten die methodischen Vorbehalte, die sich aus den Ausführungen unter 4.1 ergeben), insgesamt nicht aus; die Quellen lassen m. E. höchstens die Schlussfolgerung zu, dass Unterschiede zwischen der antiken und modernen Didaktik des SchriftspracherwerbsSchrift-spracherwerb bestehen. Allerdings weisen die in den Quellen durchscheinenden Leselernmethoden (insb. Dion. Hal.Dionysios von Halikarnassos comp. 25 [s. o.]: erst BuchstabenBuch-stabe, dann Silben, dann Wörter) äußerst interessante Analogien zum Prinzip der „Silbenanalytischen Methode“ auf. Dieser Ansatz, der in der modernen Didaktik des Schriftspracherwerbs dezidiert linguistisch fundiert ist, versteht sich als Reaktion auf die Defizite der gängigen analytisch-synthetischen Ansätze, die entsprechend der Phonem-Graphem-Korrespondenz-Regeln den Leselernprozess zu strukturieren versuchen (Methoden, die mit Fibel und Anlauttabellen arbeiten).15 Außerdem korrespondiert er mit den oben schon skizzierten kognitionspsychologischen Einsichten zur Schriftsprachenverarbeitung.

Als zusätzliche Evidenz verweist er auf PapyriPapyrus aus Schulkontexten, auf denen WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift) oder Trennungen nach Silben zu finden sind.16 Die von Cribiore angeführten Papyrusbeispiele mit Worttrennern oder mit Trennungen von Silben können allerdings auch nicht als Beleg für die These herhalten, dass das Lesen von scriptio continuaSchriftscriptio continua eine größere Herausforderung für Lerner dargestellt hätte als ein hypothetisches altgriechisches SchriftsystemSchrift-system mit scriptio discontinuaSchriftscriptio discontinua. Vielmehr lassen sich die Übungen präzise in das aus den Quellen herausscheinende Curriculum einordnen.17 Zum anderen weist die überwältigende Mehrzahl der Papyri, die Cribiore als Schulmaterial aufführt, Texte in scriptio continua auf.18

Auch die Aussagekraft der weiteren, angeführten Quellen, die als Evidenz für vermeintliche Schwierigkeiten des Lesens von scriptio continuaSchriftscriptio continua, angeführt werden, hält einer genaueren Überprüfung ebenfalls nicht stand.

Aristot.Aristoteles rhet. 3,5,6 [1407b12] wurde bereits oben bei der Besprechung des Lexems εὐανάγνωστοςεὐανάγνωστος besprochen (s. o. insb. Anm. 57, 58, S. 120 f): Ob ein Text εὐανάγνωστος (gut lesbarLesbarkeit) ist, steht bei Aristoteles nicht mit dem SchriftsystemSchrift-system in Zusammenhang; ihm geht es hier rein um syntaktische und lexikalische Aspekte. Die Charakterisierung des SklavenSklave des Trimalchio, der ein BuchBuch ab oculoLesenab oculo liest (Petron.Petronius Arbiter, T. sat. 75,4), kann die Beweislast nicht tragen, die ihr damit aufgebürdet wird, dass hier auf einen vermeintlichen Lesesklaven rekurriert werde, der die Kunst des „Vom-Blatt-Lesens“ beherrschte.19 Eine solche Interpretation setzt in zirkulärer Weise voraus, dass Lesen in der Antike kognitivkognitiv besonders herausfordernd gewesen wäre und dass die LiteralitätLiteralität/Illiteralität insgesamt nur schwach ausgeprägt war. Aus der Stelle selbst geht nicht hervor, ob die Lesetechnik, die mit ab oculo angedeutet wird, so herausragend war, wie üblicherweise unterstellt wird. Der satirische Kontext bei PetroniusPetronius Arbiter, T., der „dem LeserLeser die Halbbildung des Trimalchio vor Augen“20 führen möchte, und die anderen Charakterzüge, mit denen Trimalchio seinen Sklaven beschreibt, lassen doch eher Zweifel an dieser Interpretation aufkommen: Dass der SklaveSklave z.B. die recht einfache Rechenoperation beherrscht, durch zehn teilen zu können (decem partes dicit) – aber etwa nicht durch sieben –, spricht gerade nicht für eine besonders hohe kognitive Begabung, die für das Lesen ab oculo als notwendig vorauszusetzen wäre. Es handelt sich also bei der Fähigkeit ab oculo legere um eine Fähigkeit, die im schulischen Elementarunterricht gelehrt wird, wie auch H. Krasser betont.21 Bestätigt wird diese Interpretation durch einen expliziten Verweis auf diese LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität) in den Hermeneumata PseudodositheanaHermeneumata Pseudodositheana, anonyme, vermutlich irgendwann in der Kaiserzeit entstandene,22 bilinguale Handreichungen für den Schulunterricht, die neben Glossaren und kurzen Übungstexten sozialgeschichtlichSozialgeschichte in vielerlei Hinsicht aufschlussreiche Schilderungen des Tagesablaufs eines Schülers aus dessen Perspektive enthalten. In einem dieser sog. Colloquia, dem Colloquium Stephania, findet sich die Formulierung: „Dann [lese ich] ἀπὸ τοῦ ὀφθαλμοῦ/ab oculo, schnellLese-geschwindigkeit (ταχέως/citatim), einen unbekannten Text und einen, der wenig gelesen wird“ (Colloqiua Stephania 17d, ed. DICKEY). Aus dem Kontext geht dabei hervor, dass die Schüler dies im UnterrichtUnterricht jeweils individuell (καθ’ ἕνα/per singulos) und mit binnendifferenziertem Schwierigkeitsgrad (καθ’ ἑνὸς ἑκάστου δυνάμεις καὶ προκοπήν/iuxta unius cuiusque vires et profectum) zur gleichen Zeit tun (vgl. Colloqiua Stephania 18a/b, ed. DICKEY). Zusammen mit dem Verweis auf die GeschwindigkeitLese-geschwindigkeit in 17d impliziert dies, dass hier sogar nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierend individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre im Blick ist.

Ferner adressiertAdressat auch Ptol.Ptolemaeus, Claudius krit. 10,11–16 nicht das Lesen von scriptio continuaSchriftscriptio continua; ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις wird hier vielmehr als phonologischerPhonologie Fachterminus verwendet (s. o. 3.1.4).23 Irenäus diskutiert in haer. 3,7,1f Ambivalenzen in den Paulusbriefen, die durch missliche syntaktische Konstruktionen (v. a. Hyperbata) entstehen und bei der lectiolectio zu theologischTheologie problematischen Verstehensmöglichkeiten führen können, wenn derjenige, der vorliest, nicht aufpasst und nicht genügend Atempausen macht (Si ergo non adtendat aliquis lectioni nec per interualla aspirationis manifestet in quo dicitur …). Dies hat zwar indirekt mit der scriptio continua – präziser: mit fehlender Interpunktion zur Markierung der syntaktischen Struktur – zu tun, sagt aber nichts über höhere kognitivekognitiv Fähigkeiten aus, die vermeintlich notwendig wären, um scriptio continua zu lesen. Die zitierteZitat Stelle deutet vielmehr darauf hin, dass derjenige, der vorliest, die Atempausen nutzen soll, um sich einen Überblick über das Folgende zu verschaffen, um dieses richtig vorzulesen.

Nirgendwo in den Quellen lässt sich also fassen, dass antike LeserLeser Probleme mit in scriptio continuaSchriftscriptio continua geschriebenen Texten gehabt hätten, wohl lässt sich demgegenüber festhalten, dass zu kleine BuchstabenBuch-stabe ein Ärgernis für die visuellevisuell Wahrnehmung des Textes darstellten.24 Zudem sei darauf verwiesen, dass in der antiken PhilosophiePhilosophie die grundlegenden Unterschieden der Perzeption und kognitivenkognitiv Verarbeitung beim Lesen auf der einen und dem Hören auf der anderen Seite durchaus reflektiert wurden25 – die Aufnahme von Gelesenem ist also im antiken Denken nicht einfach auf auditiveauditiv Verarbeitung reduziert worden. Dies spiegelt auch eine Stelle bei Laktanz wider; und zwar verweist dieser im Kontext seiner Reflexion über das Verhältnis von LernenLernen und Zeit auf die perzeptuellen Vorteile des Lesens gegenüber dem Hören sowie der Begrenztheit des GedächtnissesGedächtnis.

„Diese allgemeine Bildung ist zu erwerben auf der Basis von LesepraxisLese-praxis (discendae istae communes litterae propter usum legendi); denn bei einer so großen Vielfalt der Gegenstände kann sie weder dadurch erworben werden, dass man alles hört (nec disci audiendo possunt omnia), noch dadurch, dass man es im GedächtnisGedächtnis behält“ (Lact.Lactantius inst. 3,25,9).26

Die Argumentation von Laktanz würde keinen Sinn ergeben, wenn die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre (von Texten in scriptio continuaSchriftscriptio continua)27 nur bzw. primär auf den auditiven Kanal angewiesen gewesen wäre. Vielmehr lässt Laktanz durchblicken, dass er den auditivenauditiv Kanal für Bildungszwecke nicht zuverlässig genug hält.

Gegen eine besondere kognitivekognitiv Schwierigkeit, die mit dem Lesen von scriptio continuaSchriftscriptio continua in der Antike verbunden gewesen sein sollte, spricht auch die Tatsache, dass es sowohl im griechisch-28 als auch im lateinisch-sprachigen Bereich eine Entwicklung von der scriptio discontinuaSchriftscriptio discontinua zur scriptio continua gab. Aufschlussreich ist vor allem die sehr späte Aufgabe von WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift) im Lateinischen. Darauf aufmerksam gemacht hat schon R. P. Oliver 1951;29 ausführlich ist die lateinische Worttrennung in den 1970er Jahren von E. O. Wingo untersucht worden:

„The practice of word-division was standard in Etruscan and it was probably from this source that it entered into Latin, where it is found in the very earliest inscriptionsInschriften such as the lapis niger [CIL I2.1] and the fibula Praenestina30 [CIL I2.3].31 The word-divider is regularly found on all good inscriptions,32 in papyri,33 on wax tablets, and even in graffiti from the earliest Republican times through the Golden Age and well into the Second Century.”34

Aus den zahlreichen Quellenbeispielen, die Oliver und Wingo aufführen, ist der PapyrusPapyrus PSI 7 743 aus dem 1./2. Jh. besonders hervorzuheben, der einen griechischen Text in lateinischer Transkription mit Worttrennern bietet. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine griechische InschriftInschriften mit Worttrennern in Kom Ombo in Ägypten: SB 5 8905 (88 n. Chr.). Es liegt nahe, eine Projektion der lateinischen Konvention zu vermuten, da die Weihinschrift durch eine Römerin gestiftet worden ist. Als Beispiele für den neuen Stil ohne WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift), der sich ab dem 2./3. Jh. in den Hss.Handschrift/Manuskript findet, führen sie P.Ryl. Gr. 3 473, eine griechisch-lateinische Bilingue (Fragment von den Historiae von SallustSallust), und P. Mich. 7 429 (die Kopie eines grammatischen Traktats) an. Scriptio continua findet sich darüber hinaus auch in den lateinischen Papyri aus Dura Europos. Beispielhaft verwiesen sei auf P.Dura 54, eine kalendarische Liste (225–235 n. Chr.), und P.Dura 60, ein BriefBrief, der auf den Beginn des 3. Jh. datiert wird. Die scriptio continuaSchriftscriptio continua wird in P.Dura 60 allerdings an den Stellen durch einen WortzwischenraumWort-zwischenraum (mit oder ohne Mittelpunkt) unterbrochenLese-pausen/-unterbrechung, an denen Abkürzungen verwendet werden.35 Dieses Phänomen ist auch noch in weiteren Papyri aus Dura Europos erkennbar.36 Es spricht für die These, die Vatri für das klassische Griechisch formuliert hat (s. o.), dass WorterkennungWort-erkennung in der scriptio continua durch signifikante Buchstabenkombinationen (in diesem Fall eben auch im Lateinischen) am Wortbeginn und -ende geleitet wird, was bei der Verwendung von Abkürzungen jedoch nicht möglich ist.

Die Unterschiede in den Konventionen des Schriftsystems vor dem 2. Jh. werden in der frühen Kaiserzeit auch in literarischen Quellen reflektiert. So ist es für SuetonSuetonius Tranquillus, Gaius (Aug.Augustinus von Hippo 87,3) eine Besonderheit, dass Augustus in seinen handschriftlichen Texten die Wörter nicht trennt (non dividit verba).37 Seneca wiederum nimmt Überlegungen zum Stil einer bedächtigen philosophischenPhilosophie RedeRede (weder zu langsamLese-geschwindigkeit noch zu schnell; vgl. auch Sen. ep.Seneca, Lucius Annaeus (d. J.) 40,8.13f) zum Anlass, eine Analogie zum SchreibenSchreiben bei Römern und Griechen zu ziehen:

„Freilich, den Redestrom des Quintus Haterius […] möchte ich einem vernünftigen Menschen als völlig unpassend nicht wünschen: Nie zögerte er, nie hielt er ein; nur einmal hob er an, nur einmal schloß er. Mancherlei paßt, glaube ich, mehr oder weniger zu bestimmten Völkern. Bei Griechen mag man diese Schrankenlosigkeit [licentia] hinnehmen; wir Römer haben uns sogar beim SchreibenSchreiben angewöhnt zu interpungieren. Selbst unser großer CiceroCicero, Marcus Tullius, mit dem die römische Beredsamkeit einen gewaltigen Sprung nach vorn tat, ging schrittweise (gradarius) vor. Die lateinische Sprache ist bedächtiger, wägt ab und stellt sich der Nachprüfung“ (Sen. ep.Seneca, Lucius Annaeus (d. J.) 40,10f; Üb. FINK; modifiziert JH).

Aus der Perspektive des skizzierten materiellenMaterialität Befundes meint Seneca hier die Wortinterpunktion – also Punkte in den Wortzwischenräumen der lateinischen Texte und keine syntaktische oder rhetorische Interpunktion.38 Erst das Verschwinden der Wortinterpunktion im 2. Jh. schuf die Voraussetzung dafür, dass Punkte SinnpausenLese-pausen/-unterbrechung o. ä. bezeichnen konnten oder zur syntaktischen Abgrenzung verwendet wurden.39

Bemerkenswert an Senecas Analogie ist also, dass er das griechische SchriftsystemSchrift-system nicht etwa mit Schwierigkeiten bei der Entzifferung der scriptio continuaSchriftscriptio continua, sondern mit SchnelligkeitLese-geschwindigkeit in Verbindung bringt und die Worttrenner im Lateinischen als Gegenteil von licentia, also als eine Art Zügel betrachtet, in dem sich nicht nur die Bedächtigkeit der RedeRede, sondern der Sprache und damit auch des Lesens von lateinischen Texten widerspiegelt. In jedem Fall ist es geboten, hier die Perspektive Senecas auf die Fremdsprache und deren LeserLeser in Rechnung zu stellen; also womöglich die Tendenz, dass er vorgelesenes Griechisch als rasanter wahrnimmt als vorgelesenes Latein. Angesichts dieser Perspektive in der frühen Kaiserzeit ist die Einführung der scriptio continua umso erstaunlicher.

Daraus folgt also: Wenn das Lesen von scriptio continuaSchriftscriptio continua mit besonderen kognitivenkognitiv Schwierigkeiten verbunden gewesen wäre, widerspräche die recht späte Aufgabe von WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift) im Lateinischen im 2. Jh. auf eklatante Weise dem Ökonomieprinzip, das sich an zahlreichen anderen kulturellen Entwicklungen im römischen Reich zeigt (z.B. in der Landwirtschaft, im Militär usw.).40 Eine Erklärung der Einführung der scriptio continua in das lateinische SchriftsystemSchrift-system sieht P. R. Oliver darin, dass man sich hier an der griechischen BuchkulturBuch-kultur orientiert hat41 – die Übernahme hatte also vorwiegend ästhetischeästhetischer Genuss/Vergnügen und kulturelle Gründe und kann als Phänomen des Zeitgeschmacks verstanden werden.42

Es kommt hinzu, dass bei Augustinus (wie in der Einleitung ausgeführt), das nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesen von lateinischen Texten in scriptio continuaSchriftscriptio continua explizit belegt ist. Zudem reflektiert Augustinus die kognitionspsychologischen Vorgänge beim Lesen in seiner Schrift de Dialectica.

„Jedes Wort tönt. Wenn es nämlich geschriebenSchriftGeschriebenes steht, ist es nicht ein Wort, sondern das Zeichen eines Wortes (cum enim est in scripto, non verbum sed verbi signum est); denn nachdem die BuchstabenBuch-stabe vom Lesenden angeschaut worden sind, begegnet dem Geist das, was sich im Laut äussern soll (quippe inspectis a legente litteris occurrit animo, quid voce prorumpat). Was zeigen nämlich die geschriebenen Buchstaben anderes als sich selbst den AugenAugen und ausser sich selbst dem Geist die Laute (quid enim aliud litterae scriptae quam se ipsas oculis et praeter se voces animo ostendunt, et paulo ante diximus signum esse quod se ipsum sensui et praeter se aliquid animo ostendit.)? Was wir lesen, sind daher nicht Worte, sondern die Zeichen der Worte (quae legimus igitur non verba sunt sed signa verborum). Aber wie wir, obschon der Buchstabe selbst das kleinste Element von artikuliertem Laut ist, dennoch diese Vokabeln im übertragenen Sinn brauchen, indem wir auch von ‚Buchstaben‘ sprechen, wenn wir ihn geschrieben sehenSehen – obschon dieser ganz und gar stumm ist und nicht als ein Lautelement, sondern als Zeichen eines Lautelements erscheint – so wir auch ein geschriebenes Wort ‚Wort‘ genannt, obschon es als das Zeichen eines Wortes, das heisst, als das Zeichen eines bedeutenden Lautes, nicht als Wort, in Erscheinung tritt. Deshalb, wie ich zu sagen begonnen habe, tönt jedes Wort“ (Aug.Augustinus von Hippo de dial. 5,7, Üb. RUEF, 1981, hier 22).

Es ist hier nicht möglich, die dichten semiotischen Ausführungen Augustins ausführlich zu analysieren.43 Die entscheidende Einsicht, die sich aus dieser Stelle gewinnen lässt, ist, dass das geschriebeneSchriftGeschriebenes Wort, das nur Zeichen eines Wortes ist, gerade nicht tönt. Lesen wird hier von Augustin eindeutig visuellvisuell konzeptualisiert (inspicioinspicio), womit er in der Antike nicht allein ist (s. o. 3.8). Der LeserLeser sieht nur die geschriebenen BuchstabenBuch-stabe, hört sie also nicht, und sie, die geschriebenen Buchstaben, zeigen dem Geist die Laute. Die Artikulation der Laute (mit der inneren LesestimmeStimmeinnere (inner reading voice) oder stimmlich ausartikuliert) ist dann ein zweiter Schritt nach der kognitivenkognitiv Verarbeitung des Gelesenen. Dies impliziert eindeutig die Fähigkeit der kognitiven WorterkennungWort-erkennung beim nicht-vokalisierendenStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesen von Texten, die in scriptio continuaSchriftscriptio continua geschrieben sind.

Lesen in Antike und frühem Christentum

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