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3.5 Lesen als haptischer Umgang mit dem Medium

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Die im Folgenden zu besprechenden LeseterminiLese-terminus stehen im Wesentlichen in Zusammenhang mit der ursprünglichen Rollenform antiker BücherBuch und bilden die breit bezeugte ikonographischeLese-ikonographie Repräsentation von Lesenden in der Antike sprachlich ab. Zur Illustration sei diesbezüglich auf die instruktive Aufarbeitung des ikonographischen Quellenmaterials durch T. Birt hingewiesen.1

Das Verb ἀνελίσσωἀνελίσσω hat vermutlich weniger den punktuellen Akt des „Aufschlagens“ als stärker den beim Lesen eines Schriftstücks notwendigen Prozess im Blick, die SchriftrolleRolle (scroll) stetig zu entrollen und gleichzeitigen wieder aufzurollen – eine alltägliche kulturelle Praxis in der Antike, die von den Quellen eher selten als Vorgang an sich thematisiert wird. Diese eigentliche Verwendungsweise von ἀνελίσσω im Kontext von SchriftmedienLese-medium findet sich z. B. in einer Gerichtsszene in Philostrats Vita Apollonii, im Rahmen derer Tigellinus eine Schrift mit einer Anklage gegen Apollonios entrollt, dem Asebie gegen Nero vorgeworfen wird, aber auf wundersame Weise statt der Anklageschrift nur eine unbeschriebene RolleRolle (scroll) vorfindet (vgl. Philostr.Philostratos, Flavius v. Apoll. 4,44).2 Im übertragenen Sinne beschreibt das Verb unterschiedliche Facetten des Lesens und Umgangs mit Texten, wobei diese übertragene Verwendung des Verbs nicht als MetapherMetapher, sondern als MetonymieMetonymie zu kategorisieren ist, da eine Kontiguitätsbeziehung zwischen dem Prozess des Auseinanderrollens oder Ent- und gleichzeitigen Aufrollens und dem eigentlich Bezeichneten (lesen, interpretieren, auslegen) vorliegt. So wird ἀνελίσσω zuweilen in polemisch-abgrenzender Weise gebraucht, um z.B. die Lektüre eines anderen als reines Statussymbol zu entlarven (vgl. Lukian.Lukian von Samosata adv. ind. 27), oder um jemanden dadurch zu diskreditieren, dass seine Lektüre als bloßes „Durchblättern“ abgewertet wird, das allein noch nicht bildet (vgl. z.B. Iul.Iulianus, Flavius Claudius (Kaiser) or. 6,187d).

Im Werk von JosephusJosephus, Flavius ist das Lexem nicht zu finden, PhilonPhilon von Alexandria verwendet es nur einmal in Mos. 1,48. Dort schreibt er über Mose, dieser habe kontinuierlich die „Dogmata der PhilosophiePhilosophie ‚entrollt‘“ (… ἐπονεῖτο φιλοσοφίας ἀνελίττων ἀεὶ δόγματα …), d. h. er ist sie immer wieder durchgegangen, er hat sie studiert. Eindeutig als MetonymieMetonymie für das individuelle Lesen verwendet auch KaiserKaiser/Princeps Iulian das Verb in seiner satirischen Schrift Misopogon aus der zweiten Hälfte des 4. Jh., um die große Anzahl der BücherBuch hervorzuheben, die er schon gelesen habe: … ὡς ἐμαυτὸν πείθω, βιβλία ἀνελίξας οὐδενὸς ἀριθμὸν ἐλάττω (Iul.Iulianus, Flavius Claudius (Kaiser) mis. 347a; vgl. auch Iul. or. 6,203b). Auch wenn es nicht ganz sicher ist, ob Basilius von Caesarea die alttestamentlichenAT/HB/LXX Geschichten in RollenRolle (scroll)- oder KodexformKodex rezipiert hat, könnte ep. 2,3 (… τὴν περὶ τοῦ Ἰωσὴφ ἱστορίαν συνεχῶς ἀνελίσσει …) darauf hindeuten, dass ἀνελίσσωἀνελίσσω in der Spätantike als gleichsam usuelle Metonymie auf die Lektüre von Texten in KodizesKodex übertragen wurde.3 Eher in den Hintergrund tritt die Kontiguitätsbeziehung zwischen Entrollen und Lesen an Stellen, an denen ἀνελίσσω gleichsam in raummetaphorischem Sinne das Interpretieren bzw. Auslegen meint – das Öffnen (im Deutschen würde man die Raummetapher „Heben“ verwenden) eines Schatzes (θησαυρός), der in einem Text verborgen wurde, wie es der erzählte Sokrates bei XenophonXenophon im Hinblick auf eine kollektiv-indirekteRezeptionkollektiv-indirekt Rezeptionssituation ausdrückt (vgl. Xen. mem. 1,6,14,4 vgl. ferner Plat.Platon Phil. 15e; Prokl.Proklos theol. plat. 1, p. 16; parm. p. 1080,22 u. ö.).

Das etymologischEtymologie verwandte Lexem ἀνειλέωἀνειλέω (entrollen), das u. a. in der LXXAT/HB/LXX in Ez 2,10Ez 2,10 vorkommt, muss hier nicht ausführlich besprochen werden, da es, vergleichbar mit ἀνελίσσωἀνελίσσω in Bezug auf SchriftmedienLese-medium, das der Lektüre vorausgehende Entrollen derselben bezeichnet.5 Ohne PräfixPräfix findet sich das Verb in einem bei Diogenes Laertios überlieferten Epigramm: „Sei nicht eilig, das ephesische BuchBuch des Heraklitos zum Stab zu rollen (μὴ ταχὺς Ἡρακλείτου ἐπ’ ὀμφαλὸν εἴλεε βίβλον τοὐφεσίου). Denn der Weg ist schwierig zu gehen“ (Diog. Laert.Diogenes Laertios 9,1,16). Das Epigramm verknüpft hier die LesemetonymieMetonymie „bis zum Stab rollen“ mit der MetapherMetapher des Lesens als ReiseReise, die als Unterkategorie der konzeptuellen Metapher BEWEGUNG IST LESENBEWEGUNG analysiert werden kann (s. u. 3.7), und warnt damit vor einer oberflächlichenAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtig individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre von Heraklit. Und zwar – wie im Folgenden deutlich wird – weil der Weg dunkel (ὀρφνὴ καὶ σκότος ἐστὶν ἀλάμπετον), also der Inhalt schwer verständlich ist und daher die Führung durch einen Eingeweihten notwendig erscheint (… μύστης εἰσαγάγῃ), man beim Lesen also angeleitet werden sollte.

Wegen der geringen Vergleichsbasis kann man über das bei Sextus Empiricus belegte, verwandte Lexem διατυλίσσωδιατυλίσσω (durchrollen) nicht viel mehr sagen, als dass er es in adversus mathematicos verwendet, um auszudrücken, dass Pyrrhon Homers Dichtung aus Interesse an poetischen Figuren und Charakteren durchgelesen hat (vgl. S. Emp.Sextus Empiricus adv. math. 1,281).

Nur bei Clemens Alexandrinus, soweit ich den Befund richtig überblicke, ist das Verb κυλί(νδ)ωκυλί(νδ)ω (rollen) als LesemetonymieMetonymie gebraucht (vgl. Clem. Al.Clemens von Alexandria 1,14,4). Dies korrespondiert mit der (selten bezeugten) Bezeichnung einer BuchrolleRolle (scroll) als κύλινδροςκύλινδρος (vgl. z.B. Diog. Laert.Diogenes Laertios 10,26).

Im Kontext von LesemedienLese-medium benennt das Verb ἀναπτύσσωἀναπτύσσω (auf- oder entfalten), das etwa auch als militärischer Fachterminus gebraucht wird6 oder das Aufschneiden von menschlichen oder tierischen Körpern oder Körperteilen bezeichnet7, den notwendigen Schritt, Schriftstücke (vermutlich v. a. gefaltete Papyrusblätter oder Holz- bzw WachstafelnTafel/Täfelchen, die z.B. auch für Briefe verwendet wurden8) vor der Lektüre zu öffnen9 oder einen CodexKodex aufzuschlagen.10 Es gibt keine sicheren Hinweise darauf, dass es im Hinblick auf die Rollenform gebraucht wurde.11 (Ohne Vorsilbe meint πτύσσω in jüdischenJudentum und christlichen Texten mit einem Lesemedium als Objekt das Zusammenfalten o. ä. des Schriftmediums.)12 Es finden sich auch Belegstellen, an denen das Verb nicht (nur) das Auffalten, sondern als MetonymieMetonymie auch das Lesen eines Textes selbst bezeichnet.

In VitProphPseudo-Epiphanius von Salamis 2,11 bezeichnet das Verb zugleich Lesen und VerstehenVerstehen der TafelnTafel/Täfelchen (πλάξ), das nur Mose vergönnt ist. In Ios.Josephus, Flavius vita 223 werden Öffnen und Lesen eines BriefesBrief mit diesem Verb zusammengefasst, der Akt des schnellenLese-geschwindigkeit Verstehens (συνίημι) aber noch einmal davon abgehoben. Der Kontext (Ios. vita 219–223) zeigt eindeutig, dass Josephus den Brief im Rahmen des Symposions ohne stimmlicheStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung gelesen haben muss, weil die verbliebenen engsten Freunde es nicht mitbekommen sollten. Ps.-Long.Pseudo-Longinos 7,1 adressiertAdressat mit dem Verb die genaue Prüfung von Stellen in der Dichtung und Prosa, die vorher mit dem Adjektiv ἐπισκεπτέος (zu betrachten) spezifiziert wird und die den Schein und den Prunk der vermeintlichen Erhabenheit finden (εὑρίσκωεὑρίσκω) lässt. Vgl. außerdem die Formulierung „die BücherBuch der alten Weltweisen entfaltend hindurchgehen (… καὶ τὰ βιβλία τῶν πάλαι παρ’ αὐτοῖς φιλοσοφησάντων ἀναπτύξας ἐπέλθῃς …)“ bei Ioh. Chrys.Chrysostomos, Johannes ad populum Antioch. hom. 19,1 (PG 49, p. 189,49f).

Daneben wird das Verb auch als lexikalisierte MetonymieMetonymie im Sinne von „erklären, explizieren, ausführen“, also analog zu „entfalten“ im Deutschen gebraucht.13

Bei DiodorDiodorus Siculus findet sich eine Belegstelle, an welcher der Befehl, ein Schriftstück zu öffnen (ἀνοίγωἀνοίγω), zugleich „lesen“ bedeutet (vgl. Diod. 14,55,1). Auch PlutarchPlutarch verwendet ἀνοίγω als Lese-MetonymieMetonymie, wenn er schreibt: „der Statthalter […] zeigte, nachdem er die TafelTafel/Täfelchen geöffnet [d. h. auch gelesen] hatte, die darin geschriebeneSchriftGeschriebenes Frage (τὴν δέλτον ἀνοίξας ἐπεδείκνυεν ἐρώτημα τοιοῦτον γεγραμμένονγράφω)“ (Plut. de def. or. 45 [mor. 434e]; Üb. OSIANDER/SCHWAB, leicht mod. JH). Die Stelle impliziert durch die Konnotation mit der visuellenvisuell Wahrnehmung (s. dazu 3.8) eindeutig individuell-direkteLektüreindividuell-direkt, nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierend Lektüre des auf der Tafel enthaltenen Textes.14 Bei Plutarch findet sich im Kontext der Neugier, die jemanden dazu treibt, Briefe von Freunden unerlaubt zu lesen, die Formulierung „ein Briefchen entbinden“: ἐπιστόλια παραλύουσιν οὗτοι φίλων (Plut. curios. 15 [mor. 522e]). Das Verb παραλύωπαραλύω, das sich wohl auf den Faden bezieht, mit dem das Briefchen zusammengeschnürt ist und das typischerweise gesiegelt wird,15 benennt hier metonymisch das Lesen des BriefesBrief.

Im Lateinischen findet sich das Verb revolvorevolvo (zurückrollen), das spezifisch den haptischen Umgang mit dem Rollenmedium benennt und als LesemetonymieMetonymie verwendet werden kann.

Revolvo steht etymologischEtymologie und semantisch den griechischen Verben ἀνελίσσωἀνελίσσω und ἀνειλέωἀνειλέω näher, die ebenfalls den Vorgang des Rollens im Blick haben, als dem Verb ἀναπτύσσωἀναπτύσσω (auffalten). In der Vulgata wird auch das Verb ἀναπτύσσω in Bezug auf das Öffnen von SchriftmedienLese-medium in Lk 4,17Lk 4,17 mit revolvorevolvo übersetzt, obwohl mit expandoexpando auch ein analoges Lexem zur Verfügung gestanden hätte. Vgl. z.B. 2Kön 19,142Kön 19,14; aber vor allem Ez 2,10Ez 2,10, wo eindeutig nicht das „Auslegen“, sondern das physische „Ausbreiten“/„Auseinanderrollen“ gemeint ist. Hier übersetzt die LXXAT/HB/LXX das hebräische Verb פרשׂ mit ἀνειλέω, die Vulgata mit expandoexpando. Diese Unterschiede rühren möglicherweise daher, dass HieronymusHieronymus hier iuxta Hebraeos übersetzt hat.16 Plinius verwendet revolvo ganz eindeutig metonymischMetonymie für die individuelle Lektüre von Büchern, wobei er bei der Wiedergabe einer Vision von C. Fannius die Vollständigkeit im Sinne von „ganz durchlesen“/„bis zum Ende durchlesen“ betont: mox imaginatus est venisse Neronem, in toro resedisse, prompsisse primum librum, quem de sceleribus eius ediderat, eumque ad extremum revolvisse, idem in secundo ac tertio fecisse, tunc abisse. (Plin. ep.Plinius der Jüngere 5,5,5) Die Metonymie ist insofern eindeutig, als Plinius librum … ad extremum revolvisse eindeutig als Lesen (… qui fuisse illi legendi) kennzeichnet. Eine sehr enge Parallele findet sich bei Seneca d. Ä., bei dem das vollständigeUmfangvollständig Durchlesen durch das physische Ende der BuchrolleRolle (scroll) gekennzeichnet ist. So findet sich in seinen Suasorien die Formulierung librum … usque ad umbiliciumumbilicus revolvere (ein BuchBuch bis zum Stab zurückrollen; Sen. Rhet.Seneca, Lucius Annaeus (d. Ä.) suas. 6,27).17 Möglicherweise spricht dieser Beleg in Kombination mit dem PräfixPräfix re- außerdem dafür, dass Buchrollen üblicherweise im ausgelesenen Zustand gelagert und erst bei erneuter Lektüre „vom Stab weg“ bis zum Anfang gerollt wurden, um dann wieder zum Ende zurückgerollt zu werden. Dies würde im Übrigen damit korrespondieren, dass TitelangabenTitel häufig als subscriptiosubscriptio in den Hss.Handschrift/Manuskript angebracht wurden.18

In einer RedeRede von L. Valerius in der Römischen Geschichte von LiviusLivius, Titus steht das Verb metonymischMetonymie für das Zitieren aus Catos Werk OrigenesOrigenes: tuas adversus te Origines revolvam (Liv. 34,5,8). Vgl. ferner die metonymische Verwendung bei Quint.Quintilian inst. or. 11,2,41. Allerdings kann von dem Vorkommen des Verbes nicht auf die Form des Mediums geschlossen werden (KodexKodex oder RolleRolle (scroll)), auf dem ein Text geschriebenSchriftGeschriebenes ist. Denn schon mit dem Aufkommen des Kodex wird das Verb dazu verwendet, den Kodex „aufzuschlagen“, wie in Martials Epigrammen deutlich wird. Vgl. Mart.Martial 6,64; 11,1. Das Verb wurde vermutlich als feststehender Terminus auf das neue Medium übertragen, ein Phänomen, das bei Medienwechseln häufig zu finden ist.19 Auch in der patristischenKirche-ngeschichte Literatur wird das Verb verwendet, um das Öffnen bzw. das Lesen eines Kodex zu bezeichnen. Vgl. exemplarisch Hier.Hieronymus com. in Psal. 4,8, der eine Textvariante in den Hss.Handschrift/Manuskript beschreibt: „‚Und ihres Öles‘, was in den meisten Kodizes zu finden ist (id quod in plurimis codicibus invenitur), habe ich, als ich das alte Psalterium der Hexapla des Origenes aufschlug (cum vetustum origenis hexaplum psalterium revolverem), das von seiner eigenen Hand verbessert war, weder im Hebräischen noch in den übrigen EditionenEdition und auch nicht bei den Siebzig Übersetzern gefunden“ (Üb. RISSE).20

Catull verwendet das Verb pervolvopervolvo (herumwälzen, -rollen) als LeseterminusLese-terminus und prophezeit, die Zmyrna des CinnaCinna, Gaius Helvius, die nach neun Jahren erschienen ist, werde sehr weit verbreitet werden, und man werde sie „durch Jahrhunderte herumwälzen (diu saecula pervolvent)“; die Annalen des Volusius hingegen würden „oft Makrelen als reichlich bemessenes Einpackpapier dienen“ (Cat. 95; Üb. HOLZBERG), womit Catull sicher nicht nur metaphorischMetapher die prophezeite Nicht-Rezeption eines anderen Werkes zum Ausdruck bringt. Möglicherweise meint Catull hier, dass die Zmyrna nicht nur eine lange Zeit von mehreren Generationen rezipiert, sondern auch iterativLektüreMehrfach-Frequenziterativ gelesen wird – ob individuell oder kollektiv kann nicht erschlossen werden. Deutlicher wird diese Bedeutungsnuance bei dem abgeleiteten verbum intensivum/iterativum pervoluto, das die mehrfache, intensive BeschäftigungAufmerksamkeitvertieft mit Texten ausdrücken kann,21 wobei der Kontext einer Belegstelle bei CiceroCicero, Marcus Tullius eindeutig individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre impliziert.22

Als weitere Lexeme für die Beschreibung des haptischen Umgangs mit dem Medium RolleRolle (scroll) finden sich im Lateinischen noch die Verben evolvoevolvo (auseinanderrollen), vertoverto (drehen, wenden), explicioexplicio (entfalten) und contrectocontrecto (betasten, befühlen). Auch für diese Lexeme lässt sich nachweisen, dass sie als LesemetonymienMetonymie verwendet worden sind.

Wenn CiceroCicero, Marcus Tullius an Atticus schreibt, „an diesem Punkt [scil. des BriefesBrief] angekommen, rolle ich die RolleRolle (scroll) mit deinen Briefen auseinander“ (Cic. Att. 9,10,4), und anschließend aus diesen Briefen zitiert, steht das Auseinanderrollen metonymischMetonymie für eine erneute Lektüre dieser Briefe.23 Cicero verwendet das Verb auch in der LeseszeneLese-szene, mit der er sein Werk Topica beginnen lässt: Gaius Trebatius, dem das Werk gewidmet ist, und er sind gemeinsam auf seinem tusculanischen Landgut und „in der BibliothekBibliothek rollte jeder von uns separat, für sein eigenes StudiumStudium, BücherBuch, die er wollte, auseinander (et in bibliotheca separatim uterque nostrum ad suum studium libellos, quos vellet, evolveret)“ (Cic. top. 1,1). Diese Szene ist insofern aufschlussreich, als hier die Möglichkeit einer kollektiv-direkteLektürekollektiv-direktn Studienlektüre belegt ist, bei der die beiden Anwesenden je für sich in unterschiedlichen Büchern, mutmaßlich nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend lesen. Sowohl die Betonung der separaten Lektüre (separatim) als auch die verwendete Lesemetonymie könnten darauf hindeuten, dass beide ohne VokalisierungStimmeinsatznicht-vokalisierend gelesen haben. Quintilian führt gegen solche an, die eine falsche Auffassung vom Wesen der RhetorikRhetorik hätten, dass sie sich mit dem Wenigen begnügt hätten, das „schon andere vor ihnen voll Unverstand aus Platons ‚Gorgias‘ herausgepickt hatten, ohne diesen selbst ganz oder andere Schriften Platons auseinandergerollt zu haben (neque hoc totum neque alia eius volumina evolvuntevolvo)“ (Quint.Quintilian inst. 2,15,34; Üb. angelehnt an RAHN); d. h., ohne die Schriften selbst gelesen zu haben, hätten die hier Kritisierten aus zweiter Hand Platons Rhetorikverständnis referiert oder zitiert. Auch an der berühmten Stelle in den Confessiones von Augustin (conf. 6,3) wird das Verb als Lesemetonymie verwendet (s. o. 1.2).24

Das Verb vertoverto (drehen, wenden) findet sich bei HorazHoraz als metonymischeMetonymie Beschreibung der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre der Klassiker aus der griechischen Literatur: „Die griechischen Vorbilder dreht sie mit der Hand bei Nacht, dreht sie bei Tag.“25 Das Verb explicioexplicio findet sich z.B. bei CiceroCicero, Marcus Tullius als Lesemetonymie. So formuliert er in seiner RedeRede für Sextus Roscius, ein gewisser Capito „solle nur kommen [und] jene RolleRolle (scroll) entfalten (explicet suum volumenvolumen), von der ich beweisen kann, dass Erucius sie für ihn zusammengeschrieben hat“ (Cic. S. Rosc. 35). Der Kontext impliziert, dass an ein VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt dieses Textes vor GerichtGericht gedacht ist.26 Das Verb contrectocontrecto wird bei Ammianus Marcellinus (res gestae 28,4) eindeutig synonym zu legolego – spezifiziert als Lesen mit sorgfäliger Aufmerksamkeit (curatiore studio) – verwendet.

Auch das Motiv „ein BuchBuch in die Hand nehmen“ bzw. „in der Hand halten“ kann umschreiben, dass jemand etwas liest.27 Ps.-Aristoteles verwendet das Syntagma λαμβάνωλαμβάνω τὸ βιβλίονβιβλίον eindeutig synonym zu ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω (vgl Ps.-Aristot.Pseudo-Aristoteles probl. 18,1 [916b1–5]). PolybiosPolybios gibt seinen Lesern zu bedenken, um das zuvor über L. Aemilius Paullus Gesagte (Polyb. 31,22,1–7) zu bekräftigen, dass sein Werk insbesondere auch von Römern in die Hand genommen (… μάλιστα Ῥωμαίους ἀναληψομένους εἰς τὰς χεῖρας τὰ βυβλία ταῦτα … Polyb. 31,22,8), also gelesen werden würde. An anderer Stelle warnt Polybios potentielle LeserLeser von Fabius’ Annalen davor, sie sollten sich nicht von dessen Namen blenden lassen. Dabei bezeichnet er sie zunächst mit dem PartizipPartizip von ἐντυγχάνωἐντυγχάνω und dann metonymischMetonymie als diejenigen, die seine Bücher aufnähmen (… τῶν ἀναλαμβανόντων ἐκείνου τὰς βύβλους, Polyb. 3,9,3), also in die Hand nähmen. Analog könnte auch das Verb ἀναλαμβάνωἀναλαμβάνω in 1ClemClemens von Rom 47,11Clem 47,1 f als Lesemetonymie verstanden werden. Das Verb λαμβάνω impliziert auch bei Diod.Diodorus Siculus 1,70,4 lesen:28 ἕωθεν μὲν γὰρ ἐγερθέντα λαβεῖν αὐτὸν ἔδει πρῶτον τὰς πανταχόθεν ἀπεσταλμένας ἐπιστολάςἐπιστολή. Dass der ägyptische KönigKönig am Morgen, direkt nach dem Aufstehen, Briefe nimmt (und liest), zielt darauf ab, ihn als besonders arbeitsam darzustellen, wobei die Stelle am einfachsten dahingehend zu verstehen ist, dass er die Briefe individuell-direktLektüreindividuell-direkt rezipiert. PlutarchPlutarch schreibt über den älteren CatoCato der Ältere, Marcus Porcius, dass dieser erst in späten Jahren mit dem Lesen von griechischen Büchern begonnen hätte: ἄλλως δὲ παιδείας Ἑλληνικῆς ὀψιμαθὴς γενέσθαι λέγεται, καὶ πόρρω παντάπασιν ἡλικίας ἐληλακὼς Ἑλληνικὰ βιβλία λαβὼν εἰς χεῖρας … (Plut. Cato mai. 2).29 KaiserKaiser/Princeps Iulian hält Platons Bücher auf der ReiseReise bei der Rast im Schatten einer Pflanze in den Händen, liest sie also individuell-direkt in der NaturNatur (vgl. Iul.Iulianus, Flavius Claudius (Kaiser) ep. 83). Plinius bedauert in einem BriefBrief an Ursus, dass er seit langem kein Buch mehr in die Hand genommen (olim non librum in manus … Plin. ep.Plinius der Jüngere 8,9,1), also gelesen habe, wobei der Kontext des gesamten Briefes eindeutig zeigt, dass er auf die studierendeStudium Lektüre zu UnterhaltungszweckenUnterhaltung verweist. Erucius schreibt von den RedenRede des Pompeius Saturninus, die sowohl beim ersten Hören Eindruck machten, aber auch wenn man sie wieder vornähme (… placent, si retractentur, Plin. ep. 1,16,2). Dass retracto (im Kontext von schriftlichen Medien eigentlich das Wiedervornehmen und schriftliche Überarbeiten, das freilich die wiederholte Lektüre impliziert)30 hier die individuell-direkte Lektüre der (vermutlich publizierten) Redemanuskripte meint, kann durch andere Stellen gestützt werden:

„Du wirst dieselbe Empfindung haben wie ich, wenn Du seine RedenRede zur Hand nimmst (cum orationes eius in manus sumpseris), die Du ohne weiteres jedem beliebigen Klassiker, in denen er sein Vorbild sieht, an die Seite stellen wirst“ (Plin. ep.Plinius der Jüngere 1,16,3, Üb. KASTEN).31

Ähnlich verwendet übrigens Quintilian (inst. or. 10,1,20) das Verb resumo, wenn er dazu auffordert, dass ein durchgelesenes BuchBuch (perlectus liberliber) erneut vorzunehmen, also zu lesen sei.

CiceroCicero, Marcus Tullius schreibt in einem BriefBrief an Atticus, er habe die Verfassung Pellenes in der Hand (Πελληναίων in manibus tenebam)32 und einen großen Haufen von Dicaearchs Büchern vor seinen Füßen aufgeschichtet (vgl. Cic. Att. 2,2,2). Diese selbstporträtierende und literarisch inszenierte LeseszeneLese-szene impliziert eindeutig das Konzept individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Lektüre der genannten Schriften und suggeriert den (zumindest für die römische OberschichtElite der Kaiserzeit und für antike Maßstäbe weitgehend zutreffenden) „Eindruck nahezu unbegrenzter Bücherressourcen“33. Lukian berichtet von einem Besuch bei dem Platonischen PhilosophenPhilosophie Nigrinus, den er vor einem Tisch mit geometrischen Figuren und umgeben von Büsten weiser Männer mit einem BuchBuch in der Hand, also lesend vorfindet: καὶ παρελθὼν εἴσω καταλαμβάνω τὸν μὲν ἐν χερσὶ βιβλίονβιβλίον ἔχοντα (Lukian.Lukian von Samosata Nigr. 2). Sowohl diese Formulierung als auch die Tatsache, dass Lukian trotz der sehr detaillierten Beschreibung der Leseszene keine Angaben über eine vermeintliche stimmlicheStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung des Gelesenen macht, lässt darauf schließen, dass Nigrinus nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend gelesen hat. Diese Szene hat eine gewisse Ähnlichkeit zum eingangs zitierten locus classicus bei Augustinus (conf. 6,3), nur dass Nigrinus nicht wie AmbrosiusAmbrosius von Mailand (stillLautstärkestill) weiterliest, sondern ein Gespräch mit Lukian anfängt. Lukian verwendet das Motiv des „Buch-in-der-Hand-Haltens“ an anderer Stelle ähnlich wie ἀνελίσσωἀνελίσσω (s. o.), um die Lektüre des „ungebildeten Büchernarrens“ zu diskreditieren.34 TacitusTacitus berichtet, dass er von älteren Leuten gehört habe, diese hätten

„öfters zwischen den Händen Pisos eine Sammlung von BriefenBrief gesehen, die er selbst nicht habe bekannt werden lassen (inter manus Pisonis libellum quem ipse non vulgaverit); aber seine Freunde hätten wiederholt behauptet, ein Brief des Tiberius mit Aufträgen gegen Germanicus sei darin enthalten“ (Tac.Tacitus ann. 3,16,1; Üb. angelehnt an HELLER).

Die Formulierung inter manus impliziert, dass Piso bei der individuellen Lektüre der Briefe beobachtet worden ist; die Negation von vulgovulgo (nicht zum Gemeingut machen) deutet an, dass er dabei seine StimmeStimme zumindest für die Zusehenden nicht wahrnehmbar eingesetzt hat. Dass die Freunde wissen, dass ein BriefBrief des Tiberius in der Sammlung enthalten gewesen ist, kann darauf zurückzuführen sein, dass Piso dieses Wissen mit ihnen geteilt hat oder möglicherweise die Texte sogar zusammen mit ihnen gelesen hat. Letzteres würde aber zwingend bedeuten, dass vulgovulgo an dieser Stelle tatsächlich im Sinne von einer Veröffentlichung für eine breite politische ÖffentlichkeitÖffentlichkeit stünde.35 Dies kann hier jedoch nicht weiter verfolgt werden.

Besonders deutlich auch im Hinblick auf die Aneignung von Texten bezüglich der Produktion neuer Texte wird die metonymischeMetonymie Verwendung dieses Motivs z.B. in der praefatio der Attischen Nächte von Aulus GelliusGellius, Aulus,36 der bei seiner Reflexion der Anordnung seiner Stoffe die lesende Rezeption vom Hören abgrenzt und seine ExzerptpraxisExzerpt erläutert:

„Wenn ich nun also gerade ein griechisches oder lateinisches BuchBuch las (… ut liberum quemque in manus ceperam seu Graecum seu Latinum) oder irgendetwas Wissenswertes hörte (uel quid memoratu dignum audieram), so zeichnete ich mir nach Gutdünken alles nur mögliche ohne Ordnung und Unterschied auf und speicherte mir zur Unterstützung des GedächtnissesGedächtnis eine Art Wissensvorrat (litterarum penus) in der Absicht ab, damit, wenn ich irgend einmal einen Gegenstand oder ein Wort brauchen sollte, was meinem Gedächtnis nicht gleich gegenwärtig und die Bücher, aus denen ich schöpfte, nicht gleich zur Hand sein sollten, ich doch das Nötige sofort auffinden und hervorholen könnte.“ (Gell.Gellius, Aulus praef. 2; Üb. WEISS [leicht modifiziert JH]).

Die Liste mit Belegstellen ließe sich weiter fortsetzen.37 Zuletzt sei noch eine Stelle aus Plautus’ Pseudolus angeführt, die sehr eindrücklich den haptischen Umgang mit einem Schriftstück illustriert und verschiedene Rezeptionsmodi impliziert. Im PrologProlog stellt der SklaveSklave Pseudolus seinem Herren Calidorus die folgende Frage, weil er wahrnimmt, dass Calidorus etwas bekümmert:

quid est quod tu exanimatus iam hos multos dies

gestas tabellas tecum, eas lacrumis lavis,

neque tui participem consili quemquam facis?

„Warum denn trägst die letzten Tage so verstört

den BriefBrief du bei dir stets und badst in Tränen ihn,

gönnst Anteil niemandem an dem, was dich bewegt?“ (Plaut.Plautus Pseud. 9–11; Üb. KLOTZ)

Das Verb gesto (tragen) fungiert in Verbindung mit der hyperbolischen MetapherMetapher des „Badens in Tränen“ (V. 10) als Umschreibung einer individuell-direkteLektüreindividuell-direktn LeseszeneLese-szene, die Pseudolus beobachten konnte: Sein Herr hat einen BriefBrief (auf WachstafelnTafel/Täfelchen) in der Hand und liest ihn mehrfach mit Tränen in den Augen, wobei er seinen Kopf gebeugt über das Schriftstück hält. Die Negation bezüglich des Verbes participo in V. 11, aber auch die Tatsache, dass Pseudolus der Inhalt trotz des Leseaktes vor seinen Augen noch unbekannt ist (vgl. Plaut.Plautus Pseud. 13–19), impliziert eindeutig, dass Calidorus den Brief ohne stimmlicheStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung gelesen hat. Im Folgenden (Plaut. Pseud. 20) gibt Calidorus den Brief dann an seinen SklavenSklave. Bevor dieser ihn vokalisierendLautstärkelaut vorliest (Plaut. Pseud. 41), macht er sich zunächst über das schlechte und unleserliche SchriftbildSchrift-bild lustig (Plaut. Pseud. 22–30) und diskutiert mit seinem Herrn (Plaut. Pseud. 31–39). Die Wortbeiträge von Pseudolus in dieser Diskussion zeigen, dass er zumindest Teile des Briefinhalts vor dem Verlesen schon rein visuellvisuell wahrgenommen hat (vgl. Plaut. Pseud. 35f). Die vokalisierendeStimmeinsatzvokalisierend Lektüre liegt nicht in der Notwendigkeit begründet, dass die stimmliche Realisierung für das VerstehenVerstehen des Textes notwendig gewesen wäre, sondern hat die dramaturgische Funktion, das PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum) vom Inhalt des Briefes nach dem Spannungsaufbau in den vorhergehenden Versen in Kenntnis zu setzen.

Lesen in Antike und frühem Christentum

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