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12. Kapitel

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Es war am Heiligen Abend 1987, dass Onkel Otto kam - er hatte gesagt, er wolle mit Ralf und Helene - und den Kindern natürlich - den Abend verbringen, denn wer wisse, ob Ralf ein Jahr später noch da sei. Entgegen aller Voraussagen der Ärzte lebte Ralf immer noch, und in sehr bescheidenem Maße genoss er es, zu Hause zu sein. Jeden Morgen war Helene mit den beiden Kindern gekommen, und jeden Abend, bevor sie sie ins Bett brachte. Hatte sie Zeit zwischendurch, kam sie zu ihm ans Bett, und sie unterhielten sich. Meist drehte es sich um ihr Studium, denn er wollte wissen, wann sie mit der Promotion abgeschlossen sein dürfte, und was sie dann tun würde. Lange Abende sprachen sie auch über das Thema ihrer Promotionsarbeit. Sie wollte den Einfluss psychologischer Gutachten bei der Urteilsfindung prüfen, und das gab es eine ganze Menge nachzuforschen.

Die Kinder waren im Bett, Helene hatte ihnen ein Abendlied gesungen und eine Geschichte erzählt. Es war eine Weihnachtsgeschichte gewesen, die die Kinder, vielleicht auch Heinrich, nicht verstanden hatten. Aber, so sagte sie sich, würde er sich später erinnern, wenn er die Geschichte noch einmal hören würde. Nun saß sie mit Onkel Otto in Ralfs Zimmer. Mit stark belegter Stimme und großer Anstrengung sagte Ralf:

"Mein Kind, Otto und ich müssen dir etwas sagen."

Helene war kein Kind mehr, aber Ralf hatte immer "mein Kind" gesagt. Das war eine sich wiederholende Liebeserklärung, so empfand es Helene. Ihr Verhältnis zu ihrem Stiefvater war immer gut gewesen, was nicht an der manchmal eigenwilligen Helene, sondern vor allem am bescheidenen Stiefvater lag. Ralf hatte nie Forderungen gestellt, sondern bestenfalls Ratschläge gegeben. Er hatte auch nie Verbote ausgesprochen, sondern bestenfalls Empfehlungen. Und so war sie auch als Kind und als Jugendliche frei gewesen - vielleicht nicht immer zu ihrem Besten, wie sie sich eingestand. Ralf sah alt aus, wie ein Mann von 80 Jahren. Dabei war er noch keine 60 Jahre alt. Das war die Krankheit, sagte sie sich, die ihn zerfraß. Wenn sie von Ralf auf Onkel Otto schaute, sah sie den Unterschied besonders deutlich. Onkel Otto war knapp über 50 Jahre alt, und er sah eigentlich noch sehr jugendlich aus, meinte Helene.

Ralf atmete langsam, ganz bewusst. Es war, als würde er Kräfte sammeln.

"Mein Kind, ich will dir etwas über deine Mutter und über uns sagen."

Helene war hellwach. Ralf hatte nur wenig über ihre Mutter gesprochen, obgleich sie wusste, dass die kurze Ehe sehr gut gewesen war. Sie wusste, dass sie selbst ein uneheliches Kind war, "Vater unbekannt", so stand es geschrieben. Ralf hatte den unbekannten Vater ersetzt. Einen besseren Vater hätte sie sich nicht wünschen können, das hatte sie sich sehr oft gesagt, und sie hatte ihn geliebt.

"Eine Bitte, mein Kind. Höre zu und lass mich ausreden. Versprochen?"

Natürlich versprach sie das, und Ralf wusste, dass Helene das Versprechen auch halten werde. Helene war eben so stark, was sie oft genug bewiesen hatte, meinte er.

"Otto ist dein Vater", kam es aus Ralf. Er schaute Helene mit leicht fiebrigen Augen an und holte wieder tief Luft. Das Reden fiel ihm nicht leicht, aber er wollte etwas loswerden.

Helene schaute Ralf an. Es war, als seien die Beiden allein, als gäbe es keinen Onkel Otto.

"Wir, Otto und ich, wollten deine Mutter heiraten. Wir waren Konkurrenten und Freunde - ja, so etwas gibt es."

Ralf musste eine Pause einlegen. Er schloss die Augen für eine Weile, ehe er fortfuhr: "Es sah so aus, als würde Otto deine Mutter gewinnen. Sie waren ein Liebespaar. Dann kam Otto ins Gefängnis, und deine Mutter war im dritten Monat der Schwangerschaft, als sie ihn holten - du warst unterwegs."

Wieder schwieg Ralf. Helene schaute Ralf an, nicht Onkel Otto.

"Als Otto zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde, bat mich deine Mutter, sie zu heiraten, denn sie wollte für das Kind einen Vater. Otto, den ich im Gefängnis besuchte, war damit einverstanden." Nach einer kleinen Pause sagte Ralf weiter:

"Das Verfahren gegen Otto wegen Randale, schwerer Körperverletzung und Mitgliedschaft in einer radikalen Gruppe wurde später wieder aufgenommen, Otto wurde dann freigesprochen. Aber weder deine Mutter noch Otto wollten oder konnten die Geschichte zurückdrehen. Otto verschwand, und er tauchte wieder auf, als du fünf oder sechs Jahre alt warst."

Otto räusperte sich. Er wischte sich mit seinen Händen über das Gesicht. Jetzt erst schaute Helene auf ihren Onkel Otto, auf den Mann, der ihr ganzes Leben lang Onkel Otto gewesen war.

"Warum erfahre ich das alles erst jetzt?", fragte Helene leise.

"Weil es uns nicht leicht fiel, darüber zu reden", gestand Otto. "Auch jetzt fällt es uns nicht leicht. Es war Ralf, der darauf bestand, jetzt über unser - unser Verhältnis zu reden, denn er hatte deiner Mutter versprochen, es dir zu sagen, bevor er uns verlässt."

Otto war sehr ernst, dann grinste er. Es war das Grinsen, das Helene kannte.

"Helene, unser Verhältnis war nicht schlecht, vielleicht ein wenig distanziert, und daran möchte ich auch nichts ändern. Ich mische mich nicht in dein Leben ein, aber ich werde da sein, wenn es nötig ist. Du hast dein Leben, deine Kinder und deinen Mann, der nie da ist, und dabei soll es bleiben, soweit es unser Verhältnis zueinander betrifft. Du studierst, eines Tages bist du fertig, und du wirst deinen Weg gehen. Aber wir sehen uns - und wie ich bereits sagte: du brauchst mich oder meine Hilfe, dann bin ich da." Otto nickte Ralf zu, eher er sich wieder an Helene wandte: "Ich werde auch in Zukunft immer wieder mal vorbeikommen, denn ich freue mich jedes Mal auf Euch, auf dich, der du eine prima Freundin für mich bist, und auf Ralf, der mein bester Freund ist. Weißt du: Als mich meine eigene Familie verstieß, als niemand etwas von mir wissen wollte, war Ralf da. Er war einfach da. Er war es, der mir die Sorge um deine Mutter nahm, er war es, der dein Vater wurde, er war es, der mir auch beruflich weiterhalf. Er war immer da - und so etwas gibt es nur einmal."

Onkel Otto wandte sich ab. Dann nahm er Ralfs dünne Hand, nahm sie und drückte sie sanft.

Otto ließ Ralfs Hand nicht los, wandte sich aber an Helene, als er sagte: "Ich habe keinem Menschen gesagt, dass ich dein Vater bin, obgleich ich einen Vaterschaftstest habe machen lassen - nicht aus Respektlosigkeit deiner Mutter gegenüber, sondern um zu gegebener Zeit eine Rechtsposition für dich zu haben."

Helene verstand das sehr gut. Otto sagte weiter: "Ich bin ja nicht allein in dieser Welt. Ich habe zwei ältere Schwestern, die haben Kinder und Kindeskinder. Sollte ich mal nicht mehr sein, so bist du als mein leibliches Kind die Erbin. Dennoch brauchen wir nicht herumzuposaunen, dass du meine Tochter bist. Das behalten wir für uns." Otto nickte Ralf kurz zu, dann sagte er weiter: "Ich habe sehr spät angefangen, mir etwas aufzubauen, wobei mir Ralf immer zur Seite stand. Inzwischen geht es mir finanziell recht gut, und es sieht so aus, als würde ich - wie sage ich es am besten - als würde ich weiterwachsen. Ich baue auf, für mich, für dich, für deine Kinder. Und das war nur möglich, weil Ralf da war."

Onkel Otto stand auf und ging hinaus. Er wollte seine Tränen nicht zeigen.

Die Wolf

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