Читать книгу Occido - Jana Bacher - Страница 11

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„Sehr gut, Charms!“ Joe reckte den Daumen in die Luft. „Heute warst du voll da! Warum nicht gleich so?“

Charms freute sich über das scheinbar ehrlich gemeinte Lob. „Also war’s heute okay?“

„Hervorragend, wirklich sehr gut. Die anderen bringen dich jetzt zum Set zurück. Ruh dich den restlichen Tag aus, du drehst erst morgen wieder. “

Damit stapfte Joe davon. Das Team verließ gemeinschaftlich das Universitätsgebäude und belud seinen Bus mit allfälligem Kram, ehe sie sich wieder auf den Rückweg machten.

Dort beschloss Charms, sich in eine ruhige Ecke zu verziehen und die Szene für morgen durchzugehen, obwohl die Szene der gestrigen Nacht immer noch an ihm nagte. Joe war zufrieden mit ihm gewesen und er wollte, dass das auch auf die kommenden Klappen zutraf.

Heute Morgen hatte eine Angestellte des Teams ihm die nächste Szene gedruckt und vor die Tür seines Wohnwagens gelegt. Sie wurden ihnen tagesweise ausgeliefert und fielen stets knapp aus, um zu gewährleisten, dass ihre Reaktionen ungebunden blieben. Stirnrunzelnd betrachtete Charms den Rahmen seiner nächsten Szene. Offenbar würde er sie erstmals mit Peter drehen.

Szene 4

Setting: Wohnung von Charms sowie dazugehöriges Treppenhaus

Zeit: 15 Uhr

Auftritt: Charms, Studienkommilitonen, Peter

Ausgangssituation: Charms kehrt von einem Treffen mit Studienkommilitonen heim und trifft dort auf Peter.

Ende. Sehr viel umfangreicher gestalteten sich ihre Vorgaben nicht. Der weitere Verlauf des Drehbuchs lag im Dunkeln und würde sich vermutlich wenig spannend gestalten. Wenn der Film erst einmal abgedreht war, würde Charms sich eines hübschen Sümmchens bereichern können und sich dann gemeinsam mit Daria um die Zukunft kümmern. Er fragte sich, wie es ihr ging, hoffte, dass sie wohlauf war; der Korrekturverlauf der Eighty’s-Szene hatte ihre Wege frühmorgens gegabelt, seither hatte er sie nicht mehr gesprochen. Aber das war in Ordnung so. Was sie beide sich zu Beginn des Drehs geleistet hatten, war inakzeptabel gewesen. Charms wusste, dass es zur Zeit des Drehs unmöglich war, zu seinen Gefühlen für Daria zu stehen: Im Streifen war sie die Freundin seines Bruders, die diesen mit ihrer Untreue seiner fehlerhaften Sequenzen strafte. Dass Peters und Darias Beziehung kurz vor Drehbeginn auseinander gegangen war, war ein offenes Geheimnis, das Joe mit Schweigen totzutreten versuchte. Auch, dass Peter trotz der geforderten Phase der Kontaktlosigkeit mit seinem Bruder diesen vor wenigen Wochen aufgesucht und ihn gebeten hatte, Acht auf Daria zu geben, wurde bis dato wortlos hingenommen.

„Ich weiß, du bist nicht dafür, den Plan über den Haufen zu schmeißen“, hatte Peter eingeleitet, während er interessenlos das mit Studienlektüren überfüllte Regal in Charms‘ Wohnzimmer besehen hatte. „Sieh von Zeit zu Zeit nach ihr. Meinst du, das kriegst du hin?“

Charms hatte es hingekriegt, oh, ja, und zwar so gut, dass sich aus seiner plötzlichen Fürsorge und Darias Unverständnis über Peters Entscheidung zur Trennung etwas vollkommen Neues entwickelt hatte, das sie alle nicht hatte vorhersehen können. So viel dazu, dass dieser Dr. von Klein behauptete, er kümmere sich zu wenig um sein Privatleben. Obwohl – er wusste ja nicht, dass Daria mehr war als ein flüchtiger Nebencharakter in Charms‘ Leben. Er, Charms, besetzte die Hauptrolle und würde somit zum glanzvollen Mittelpunkt der Produktion werden. Nicht mehr lange und es würde ihnen allen besser denn je gehen. Ihm und Daria.

Wenig später hatte Charms soeben beschlossen, den Schlafmangel der letzten Nacht aufzuholen, als es an seiner Tür klopfte und keine Sekunde später Daria einher stürmte. In Charms Kopf schlugen die Alarmglocken los: Die Akteure des Filmes statteten einander in den Pausen keine Besuche ab. Dafür hatte Joe Sorge getragen, um einer Verfälschung der Dokumentation vorzubeugen. Seine Figuren hatten sich in diesen drei Wochen zu treffen, wenn das Drehbuch es vorsah. Wieso nur schien er der Einzige zu sein, der diese Regelung für einleuchtend befand und sich an sie zu halten gedachte?

Daria sah unglaublich gehetzt aus, das dichte Haar flog ihr ums Gesicht und sie schnappte keuchend nach Luft, als ob sie soeben gerannt wäre, und das ließ Charms in seinem Pflichtbewusstsein innehalten.

„Du bist da“, stellte sie fest. Dann fiel ihr Blick auf die Unterlagen neben Charms‘ Bett. „Ist das der Rahmen für die nächste Szene?“

Er nickte, und für wenige Sekunden starrte Daria ihn an, um Fassung ringend, ehe ihr bewusst zu werden schien, dass die Tür zum Wohnwagen nach wie vor offen stand. Rasch stieß sie diese zu und nahm kopfschüttelnd an der Kante seines Bettes Platz.

„Was ist denn?“, fragte Charms alarmiert und rückte näher an Daria heran. „Fühlst du dich nicht wohl?“

„Ich pack meine nächste Szene nicht“, begann Daria ohne Umschweife, und Charms sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. Es war nicht rechtens war, was gerade geschah: Sie sollten einander in den Pausen nicht von ihren Szenen erzählen. Es musste alles echt sein. Man sprach sich im Leben nicht ab, wie eine jede Situation stattzufinden hatte. Joe würde im Viereck springen wenn er wüsste, dass sich Daria in diesem Augenblick bei Charms aufhielt und sich mit ihm über ihre nächste Szene austauschte.

„Ich will mir dieses Zeug nicht mehr durchlesen. Ich will das alles nicht mehr! Ich will es beenden, Charms!“, sagte sie und ihn erfasste ein Schreck.

„Warum?“

Warum? Charms, ist dir eigentlich klar, was die hier mit uns machen?“

Charms hob die Schultern. „Wir drehen einen Film.“

„Wir drehen keinen einfachen Film. Was hier gedreht wird ist ein Reality Movie, kein einfacher Film!“

Sie hatte Recht. Es war kein einfacher Film, sondern ein Reality Movie. Und es war eine große Ehre, für einen solchen Film auserkoren zu werden, zumal dieser eine recht einfache Möglichkeit zum schnellen Geld versprach. Wieso nur konnte sie diese einzigartige Chance nicht sehen? Wieso konnte Peter sie nicht sehen?

„Daria, alles was wir tun müssen ist, uns selbst für drei Wochen porträtieren zu lassen…“

Doch noch während er sprach, wusste er schon, dass sie ihm nicht mehr zuhörte. Stattdessen langte sie nach seinen Händen, drückte sie mit den ihren und suchte mit tränenglitzernden Augen seinen Blick, flehentlich, zerrissen.

„Warum sollte irgendwen da draußen interessieren, wie unser Leben aussieht? Hast du dir darüber mal Gedanken gemacht? Sind wir so viel interessanter als andere Leute? Man kann sich nach Belieben das Leben anderer im Fernsehen reinziehen, wenn man die Zeit und die Muse dazu hat. Das nennt man Reality TV! Warum sollte jemand dafür bezahlen, uns auf der Leinwand beim albernen Feiern in dämlichen Clubs zuzusehen?“

Charms erhob sich. „Worauf willst du hinaus?“

„Charms, lass uns von hier abhauen! Lass uns einfach unsere Sachen packen und gehen, ich konnte doch gestern auch weg vom Set!“ Sie sprang nun ebenfalls auf die Beine, griff wieder nach seinem Arm. „Dieser ewige Kontrollwahn – man könnte meinen, wir wären Gefangene! Und ich will keine Gefangene sein, denn das bedeutet, dass sie mit einem machen können, was sie wollen. Ich will weg von hier. Und ich bitte dich, mit mir zu kommen, Charms.“

Weil er sich nicht anders zu helfen wusste, weil er keine Ahnung hatte, wie er ihre Dämonen sonst zum Schweigen bringen konnte, zog er sie in seine Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Daria hob den Kopf. Ihr Make-up war wieder verschmiert und in ihren Wimpern glänzten Tränen.

Es war ein Unglück, dass in eben jenem Moment die Tür zu Charms mutmaßlichen Rückzugsort knallend aufgestoßen wurde und ein aufs Blut gereizter Joe vor ihnen stand, rot im Gesicht mit schweißüberströmter Stirn.

„Was zur Hölle soll das werden?“, brüllte er und Daria drückte sich noch fester in Charms‘ Arme, wie wenn sie befürchtete, Joe könne sie jeden Augenblick von ihm reißen. „Daria, Scheiße noch mal, wir suchen dich überall, du musst vor die Kamera! Und warum siehst du so verheult aus? Himmel, Mädchen, wir können das ganze Make-up erneuern und unser Zeitplan verschiebt sich wieder! Als wenn Charms‘ Patzer von gestern nicht gereicht hätte…Was rennst du überhaupt zu ihm und heulst rum? Ihr sollt euch keine gegenseitigen Privatbesuche abstatten!“

Er sollte etwas sagen, er sollte einschreiten, doch eine unsichtbare Sperre hielt ihn auf. Joe war immer schon leicht reizbar und aufbrausend gewesen, doch niemals auf eine so übergriffige Art, wie es der Beginn des Drehs mit sich gebracht hatte. Es musste am Stress liegen. Gewiss forderten die Reality Movie Studios ein gutes Endprodukt, das rechtzeitig abgegeben wurde.

„Geh, Daria“, sagte Charms darum leise und konnte die Enttäuschung, die sich in ihrem Gesicht breit machte, kaum ertragen. „Du bist dran. Wir sprechen uns später.“

„Das glaube ich kaum!“, fuhr ihm Joe heftig dazwischen. „Und jetzt raus hier, Daria!“

Er wartete gar nicht erst ab, ob sie seiner Bitte Folge leistete, sondern packte Daria am Arm und geleitete sie grob zur Tür von Charms‘ Wohnwagen hinaus, ehe er diese scheppernd hinter ihnen zuschlug. Charms verharrte noch einige wenige Augenblicke in eben der gleichen Haltung, in der Joe sie seiner Umarmung entrissen hatte, ehe sein Gehirn ratternd begann, das, was sich soeben abgespielt hatte, von neuem durchzuspielen. Haltlos tastete er nach der Szene, die der morgige Tag mit sich bringen sollte, las sich die minimalistische Beschreibung wieder und wieder durch, doch sein Kopf wollte keine Ruhe geben. Als sich die Gedanken allmählich ins Unerträgliche steigerten, warf er den Bogen Papier schließlich zur Seite und flüchtete aus dem Wohnwagen. Er musste sich bewegen, musste den Kopf irgendwie von dem Gedankenchaos, das darin tobte, freilaufen.

Occido

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