Читать книгу Occido - Jana Bacher - Страница 7

Action – Der Fremde im Bus

Оглавление

Am nächsten Tag hatte Charms einen wichtigen Termin mit einem seiner Universitätsdozenten. Zu seiner Schande musste er sich eingestehen, dass er diesen im Vakuum seines gestrigen Dahintreibens schlicht vergessen hatte, was ihn heute ungemein ärgerte, denn das bunte Nachtschwärmen bis in die frühen Morgenstunden war ihm wie ein losgelöster Dachziegel auf den Kopf gefallen.

Der Stadtverkehr war immerzu schrecklich und knappe drei Stunden Schlaf machten das Ganze noch viel unerträglicher; erst um fünf Uhr morgens hatte Charms sich endlich ins Bett begeben. Zu wenig Schlaf, um in aller Frische zu einem Termin zu erscheinen, der, wie er dumpf ahnte, seine jüngste Arbeit zum Thema haben würde. Es musste sich dabei um etwas Wichtiges handeln, wenn Professor Klein ihn in der vorlesungsfreien Zeit zu sich zitierte, ob nun im positiven oder negativen Sinne.

Mit pochenden Schläfen und geschwollenen Augen taumelte Charms durch den Bus der Linie 4, der ihn zur Uni bringen sollte, auf der Suche nach einem Sitzplatz, um sein schlafentzogenes Ego nach Bemühen zu schonen. Wie so oft war das Glück nicht auf seiner Seite und der letzte freie Platz wurde ihm kurzerhand von einer alten Dame im Fliederkostüm weggeschnappt, die einen geschniegelt aussehenden Pudel auf ihrem Schoß platzierte.

Seufzend fügte sich Charms seinem Schicksal und lehnte sich an eine der Haltestangen. Das Wetter hatte sich im Vergleich zu gestern nur minimal gebessert; immer noch stoben kampflustige Tröpfchen vom Himmel, die ihm auf dem Weg zum Bus das Haar angefeuchtet hatten. Gedankenverloren versuchte Charms, das nässende Etwas auf seinem Kopf zu ordnen. „Besser wird’s nicht“, bemerkte eine Stimme unmittelbar neben ihm, und Charms fuhr erschrocken aus seinen leer blubbernden Gedanken. Im Versuch seiner optischen Schadensbegrenzung hatte er von seiner Umgebung kaum Notiz genommen, und so war ihm der großschlanke blonde Kerl, der an derselben Haltestange klammerte, nicht aufgefallen. Dieser nickte ihm mit einem tiefen Grienen auf dem Gesicht zu. „Du hättest einen Schirm mitnehmen sollen.“

Charms blinzelte. „Ja, ich denke das nächste Mal dran.“

„Das hoffe ich.“ Der Tonfall, den der Blonde anschlug, verriet, dass er noch nicht fertig war mit was auch immer er zum Ausdruck bringen wollte. Charms konnte sich kaum vorstellen, dass der einzige Anstoß des Kerls ihn anzusprechen sein wirres Haar gewesen sein mochte, obwohl er im Gegensatz zu ihm in der Tat vorbildlich gekämmt war und in seinem Anzug und den polierten Schuhen einen geradezu übertrieben formsicheren Eindruck machte. Einzig der leicht verfärbte Bereich rund um sein linkes Auge trübte seine tadellose Erscheinung. Ein Zeichen sich aneinanderreihender schlafloser Nächte? Oder hatte er sich erst kürzlich ein Veilchen an einer Faust gestoßen? Wenn ihre Begegnung heute keine Ausnahme darstellte, sondern der Kerl dazu neigte, Wildfremde in Bussen von der Seite anzuquatschen, hätte zweites Charms keineswegs verwundert. Obwohl er nach gutem Willen den Blick aus dem Fenster gerichtet hielt, konnte Charms das penetrante Lächeln des Fremden an seiner Wange brennen spüren. Ungeduldig wandte er sich ihm zu. „Kann ich dir irgendwie helfen?“

Der Blonde schien sich keineswegs an Charms‘ schroffem Ton zu stören. „Ah, das bezweifle ich doch. War eine lange Nacht im Eighty’s, oder?“

Was sollte das? Charms verzog das Gesicht. „Kenne ich dich?“

„Tust du gewiss nicht“, gab der Blonde zurück und ein süffisantes Lächeln öffnete von neuem auf seinem aufgeräumten Gesicht. „Ich selbst habe dich lediglich wegen deines Bruders erkannt. Du siehst ihm ähnlich.“

Das hatte Charms schon öfter gehört, zumindest als Peter und er noch jünger gewesen waren. Außenstehende hatten sie lange Zeit aufreibend oft für Zwillinge gehalten, obwohl Peter zwei Jahre älter, allerdings einer jener Teenager gewesen war, die den Startschuss zum Wachstum überhört zu haben schienen und erst Jahre später mit immenser Geschwindigkeit in die Höhe geschossen waren. Seit er sich jedoch regelmäßig neue Löcher ins Gesicht und launenhafte Motive unter die Haut stechen ließ, war die zuvor so gern besungene Ähnlichkeit bald schon eines absurden optischen Dualismus gewichen. Es musste das erste Mal seit etwa sieben Jahren sein, dass Charms auf seine Ähnlichkeit mit Peter angesprochen wurde.

„Ich sehe ihm gar nicht mehr so ähnlich“, sagte Charms und fragte sich zeitgleich, warum er dem Unbekannten nicht schlicht den Vogel zeigte und sich einen neuen Platz suchte. „Allzu viel zu tun habe ich auch nicht mit ihm.“

Der Blonde nickte. „Ich weiß.“

„Bist du ein Kumpel von ihm?“, fragte Charms misstrauisch. Auch wenn ihr Verhältnis seit Jahren ein beschlagenes war, konnte er sich nur schwer vorstellen, dass Peter jemanden von der Sorte seines Gegenübers zu seinem Freundeskreis zählen würde. Er wusste, welchen Umgang sein Bruder pflegte und dieser Kerl mit seinem tadellos gekämmten Blondhaar, den förmlichen Klamotten, der Markentasche und dem egozentrischen Auftreten passte so gar nicht in dieses Konzept.

Zumindest schien der Unbekannte in dieser Hinsicht seiner Meinung zu sein, denn er stieß ein ungläubiges, lautes Lachen aus. „Nicht direkt, aber ich kenne Peter sehr, sehr gut. Aus dem Jugendheim, vom Polizeirevier, von verschiedenen Veranstaltungen …Du verstehst?“

Charms verstand gar nichts. Natürlich, er wusste, dass sein Bruder kein unbeschriebenes Blatt war. Er wusste auch, dass Peter die Zeit von seinem zwölften Lebensjahr bis zur Volljährigkeit mehr in einem Jugendheim für Schwererziehbare denn zu Hause verbrachte hatte. Wie sollte er es auch nicht wissen, schließlich war Peter sein Bruder, so selten er ihn in den vergangenen Jahren auch zu Gesicht bekommen haben mochte. Nichtsdestotrotz war Charms sich in diesem Moment ganz und gar uneins, was er von dem merkwürdigen Unbekannten halten sollte, was dieser überhaupt versuchte, ihm mitzuteilen. Dass Peter geradezu prädestiniert dafür war, seinen Lebensabend hinter Gittern zu verbringen oder auf der Straße zu hausen? Das hätte er sich sparen können, dessen war Charms sich spätestens zu Peters zwanzigstem Geburtstag gewiss gewesen, als dieser gemeinsam mit Freunden ein Ferienhaus nahe ihres Elternhauses in die Luft gesprengt hatte und dafür in eine unsaubere Schlacht vor Gericht gezogen war, aus der er sich schließlich mit der Ausrede hatte winden können, dass er zum Tatzeitpunkt aufgrund eines komatösen Alkoholspiegels als unzurechnungsfähig einzustufen war. Kurzum, er kam mit einem Bußgeld, hundert Sozialstunden und der Empfehlung um ein Besserungsgespräch davon, die er selbstverständlich in den Wind schlug.

Verunsichert starrte Charms den Blonden an. „Er ist etwas schwierig“, brachte er schließlich zur halbherzigen Verteidigung seines Bruders vor, denn auch, wenn die Worte des Unbekannten in keiner Weise vorwurfsvoll gesprochen sein mochten, so hatte er dennoch das Gefühl, Peter in Schutz nehmen zu müssen.

Abermals lachte der Blonde auf. „Geschickte Analyse, Herr Anwalt, gedenken Sie das bei all Ihren zukünftigen Fällen vor Gericht so darzubringen? Vielleicht fallen die Urteile für Ihre Mandanten dann ja milder aus.“

Doch Charms blieb keine Zeit, dem Blonden eine passende Antwort zu geben, als ihm erschrocken bewusst wurde, dass er seine Haltestellte erreicht hatte und der Bus bereits Anstalten machte, die Türen für die Weiterfahrt zu schließen.

Ohne ein weiteres Wort sprang Charms aus dem Bus, der keine Sekunde später davon brauste. Weg war der seltsam geartete Fremdling, und aufrichtiger Weise musste Charms zugeben, dass er darüber nicht unbedingt beleidigt war. Er hatte Wichtigeres zu tun als sich mit Peters dubiosem Bekanntenkreis herumzuschlagen, woher auch immer dieser so viel über ihn wusste.

Mit angezogenen Schultern gegen den wütenden Sprühregen gewappnet stapfte Charms quer über den grünenden Campus Richtung Hauptgebäude der Siggs Universität.

Occido

Подняться наверх