Читать книгу Occido - Jana Bacher - Страница 4
Action – Im Eighty‘s
ОглавлениеPlatsch. Platsch. Platsch.
Der Regen zersplitterte in winzige Tropfen und sprudelte die Regenrinnen hinab, um von der Erde gierig aufgesogen zu werden.
Charms hockte am Küchenfenster, hatte die Arme über dem Fensterbrett verschränkt, das Kinn darauf gestützt und den Blick auf das trübsinnige Bild hinter der beschlagenen Scheibe gerichtet. Hin und wieder drang das monotone Geplapper des Fernsehers zu ihm durch, doch überwiegend hing er seinen Gedanken nach, die Regentropfen um Regentropfen sinnentleerender zu werden schienen. Perfekte Prokrastination – eigentlich sollte er sich mit der Studienlektüre über Strafrecht auseinandersetzen, die aufgeschlagen vor ihm bei Tisch lag. Die Prüfung im September würde entsprechend umfangreich werden, doch aus irgendeinem Grund schien sein Kopf heute in den Streik getreten zu sein.
Seufzend weckte er sich aus seiner handgeschaffenen Trance, beschloss, das Wetter Wetter und das Lernen Lernen sein zu lassen und sich stattdessen mit einem Glas Orangensaft und einem gekühlten Schinken-Käse-Sandwich vor den Fernseher zu knallen, der ohnehin bereits seit Stunden um Aufmerksamkeit buhlte. Soeben wurde über einen Handballspieler berichtet, der offenbar unter Doping-Verdacht stand. Nichts Weltbewegendes und somit genau das Richtige für seinen abdriftenden Verstand.
Charms hatte sein Sandwich gut zur Hälfte gegessen, als sein Handy, das er am Fensterbrett zurückgelassen hatte, lautstark auf sich aufmerksam machte. Ächzend erhob er sich aus seiner entspannten Haltung, um dem ohrenzwickenden Geräusch ein Ende zu bereiten. Kostjas Name flimmerte über das Display. Kostja war einer seiner Studienkollegen, und hatte scheinbar gähnende Langeweile, denn er erkundigte sich, ob Charms nicht Lust hätte, das Eighty’s zu besuchen, eine der wenigen annehmbaren Bars im Univiertel; andere Mitglieder ihrer Lerngruppe hätten auch zugesagt.
Charms erster Blick ging auf die kleine Wanduhr über der Tür, die ihm halb elf Uhr abends zeigte. Der zweite ging aus dem Fenster in den strömenden Regen. Das Univiertel lag gut fünf Gehminuten entfernt. Kurzerhand sagte er zu, ehe er sich zu sehr an dem Regen stoßen konnte. Immerhin hatte er den restlichen Abend nichts weiter zu tun, außer sich in abnorm langweiligen Schriftsätzen zu verlieren, denen sein Kopf stur den Eintritt verweigerte.
Mit einem Schirm gegen die triefende Nässe ausgestattet, machte er sich auf den Weg. Unterwegs kamen ihm nur wenige entgegen, die sich bei dem Wetter vor die Tür getraut hatten. Der Regen schien den Dreck von Siggs im Glanz des nie erlöschenden Lichterchaos aus Straßenlernen, Leuchtreklamen und Autoscheinwerfer regelrecht hinfort zu spülen.
Kostja erwartete ihn bereits vor dem Eingang zum Eighty’s, eine wenig geschmackvolle dunkelgrüne Sportjacke über die Schultern geworfen und unaufhörlich in sein Handy plappernd, das er ans Ohr gedrückt hielt. Als Charms dazu trat, beendet Kostja prompt das Gespräch.
„Die sind alle schon drin“, informierte er ohne Umschweife. „Nina hat eben angerufen, du weißt schon. Die aus dem Kurs vom Sozialrecht. Lass uns reingehen, es ist echt mies hier draußen.“
Die Stimmung im Blitzlicht des Clubs war gut, aber beduselt. Die Musik tönte ohrenbetäubend aus den Boxen und die Luft atmete sich abgestanden und viel zu warm. Kostja deutete Charms, ihm zu folgen, denn scheinbar hatte er unter den im Flimmerlicht untergehenden Gästen bekannte Gesichter ausfindig gemacht. Charms dackelte guten Willens hinterher und wünschte sich jetzt schon zurück vor seinen Fernseher, in die besonnene Stille seiner vier Wände, als sich jäh ein Paar zierlicher, nackter Arme um seinen Hals kettete.
„Hey, Charms, lange nicht gesehen!“, rief Daria mit strahlender Miene aus; sie trug ein schwarzes, trägerloses Paillettenkleid, das sich hart von ihrem dunkelroten Haar abhob. Obwohl ihr anzusehen war, dass sie bereits einiges an Alkohol intus hatte, tat dies ihrer Schönheit keinen Abbruch. Sie sah wie immer umwerfend aus.
„Hey“, gab Charms mit tüchtigem Lächeln zurück. „Alles gut bei dir, Daria? Wo ist Peter?“
Er versuchte, seine Gedanken von dem Stich wegzulenken, mit dem der Name seines älteren Bruders ihm zwischen die Rippen fuhr.
Beiläufig winkte Daria ab. „Ach, nicht da. Läuft gerade nicht so toll mit uns.“ Auf Zehenspitzen spähte sie über seine Schulter, sodass Charms selbst verwundert herumfuhr. Daria lachte. „Nicht doch, nicht doch. Ich wollte mich nur vergewissern, ob du in Begleitung bist.“
„Ich bin mit ein paar Leuten von der Uni da.“
Doch etwas anderes, das Charms im sprunghaften Lichtertanz nicht ausmachen konnte, schien Darias Interesse geweckt zu haben, denn mit zwei kurzen Wangenküsschen verabschiedete sie sich übereilt von ihm und war schneller in dem nächtlichen Treiben verschwunden, als Charms schalten konnte. Ihr eiliges Verschwinden rührte seinen Magen auf.
Rasch hielt er Ausschau nach Kostja und dem Rest der Uni-Truppe, und wurde nahe der Bar fündig, wo sie gemeinschaftlich zur Musik wippten. Obwohl er sich sicher war, einige von ihnen noch nie gesehen zu haben, nickten ihm alle freundlich zu. Kostja drückte ihm einen Drink in die Hand und Charms entschlüsselte es rasch als Cola Rum.
„Du in einem Club, Charms?“, brüllte Robert, einer von Charms‘ Kommilitonen, der angesichts der überdrehten Geräuschkulisse zu laut und eindeutig zu spuckend sprach. „Wie kommt man zu der Ehre?“
„Ferien“, gab Charms zurück. „Strafrecht war heute reine Zeitverschwendung.“
„Sowas kann auch nur von dir kommen.“ Versöhnlich klatschte Robert ihm auf die Schulter und ließ seine halbvolle Flasche Bier gegen Charms‘Cola Rum krachen. „Schön, dass du dich von deinem Strebertum zumindest in den Ferienwochen lösen und mit uns einen trinken gehen konntest!“
Pflichtbewusst bediente sich Charms seines Drinks und ließ den Blick ziellos über die Kulisse gleiten, um sich aus etwaigen weiteren Gesprächen ausklinken zu können. So schnell wie er Daria mit ihrer dunkelroten Mähne vorhin verloren hatte, hatte er sie auch schon wieder gefunden: Sie unterhielt sich auf sehr anschauliche Weise scheinbar blendend mit einem riesenhaften Typen, den Charms nicht kannte, der aber eindeutig nicht sein Bruder Peter war. Trotzdem hatte der Unbekannte beide Hände rechts und links an Darias Hüfte gelegt und versuchte, sie näher an sich heranzuziehen. Sie zierte sich halbherzig und kicherte dabei unablässig vor sich hin. Charms beobachtete einen schnellen, unübersichtlichen Wortwechsel zwischen den beiden, dann hatte Daria auch schon die Arme um den Stiernacken gelegt, wie sie es nur Minute zuvor bei Charms getan hatte.
Peter. Es war Peter, der ihm durch den Kopf hätte gehen sollen. Zeig Missbilligung. Wende dich ab. Das ist deine Aufgabe. Reiß dich zusammen!
Ehe er sich selbst davon abhalten konnte, drückte Charms sein Glas wortlos Kostja in die Hand und drängte sich durch die tanzenden, lachenden, streitenden, zu laut schwadronierenden Leiber Richtung Daria und ihrer fragwürdigen Bekanntschaft. Als diese auf sämtliche akustische Zeichen seinerseits nicht reagierte, packte Charms sie schließlich an der Schulter und wirbelte sie zu sich herum. Daria sah erschrocken aus.
„Was soll denn das werden?“, fuhr er sie an.
„Charms…“
„Nichts, Charms! Was soll das?“
Sie starrte ihn an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, ihr wurde jedoch von einem heftigen: „Cut! Schluss, Schluss, Schluss!“ das Wort abgeschnitten.