Читать книгу Occido - Jana Bacher - Страница 8
Action – Der Anruf
ОглавлениеEs dauerte seine Zeit, bis Peter es an diesem Tag schaffte aufzustehen und ihm war, als sei er dornröschengleich aus einem Jahrzehnte währenden Schlaf auferstanden. Im ersten Moment war er vollkommen orientierungslos, bis ihm einfiel, dass er die Nacht auf der Couch eines Kumpels verbracht hatte, mit dem er bis in die frühen Morgenstunden durch die Stadt gezogen war. Es war keine gute Nacht gewesen. Gegen fünf Uhr morgens hatte er sich mit Daria am Telefon gestritten, weil diese ihn angerufen und wüst beschimpft hatte. Sie hatte getrunken, denn im Normalfall war sie der freundlichste und umgänglichste Mensch der Welt - ein Zug, der leider immer dann schwand, wenn sie zu tief ins Glas schaute. Heute Morgen musste sie den Kater ihres Lebens haben, dem Lallen nach zu urteilen, das sich bissig in Peters Kopf verfangen hatte. Im Streit hatten sie einander schon einiges an den Kopf geworfen, doch selten war die Sache so ausgeartet wie vergangene Nacht. Fast war Peter froh, dass es sich lediglich um einen Telefonstreit gehandelt hatte, denn wäre Daria urplötzlich vor seiner Nase aufgetaucht und hätte ihn auf eine derlei aufgebrachte Art und Weise in die Enge getrieben, wäre es vermutlich noch schlimmer gekommen.
Daria war neunzehn und damit ein paar Jahre jünger als Peter, doch das hatte sie beide nie gestört: Bereits seit vier Jahren waren sie ein Paar, auch wenn es in den vergangenen Monaten vermehrt in ihrer Beziehung gekriselt hatte. Seit langem schon ahnte Peter, dass Daria etwas fehlte und sie ihn hinterging, um sich eben jenes Stück des Kuchens zu holen, das er ihr nicht bieten konnte. Ja, es war sein Fehler gewesen: Gegen ihre gestrige Abmachung hatte er sie versetzt und war mit ein paar seiner Kumpels statt mit ihr umhergezogen. Es waren in den meisten Fällen seine Fehler, die Zwist säten, aber entschuldigte das ihre Untreue?
Peter tastete nach seinem Handy, entschlossen, Daria anzurufen und die Sache von gestern zu bereinigen. Er hasste es, mit ihr zu streiten, es war so ziemlich das Unangenehmste, was er sich vorstellen konnte.
Der Freizeichenton piepste unglaublich laut in seinem Kopf, ehe Daria sich mit dünner Stimme meldete: „Ja?“
„Ich bin‘s.“ Sein Mund war plötzlich ungemein trocken. Er musste sich räuspern. „Wie geht’s dir, Daria?“
„Es ging schon mal besser.“ Ihre Stimme brach weg. Schweigen.
„Du hast mich gestern angerufen“, begann Peter vorsichtig, doch Daria hatte ihn bereits unterbrochen.
„Ja, ich weiß, tut mir leid. Es war alles nicht so gemeint, ich war einfach wütend auf dich, und ich war im Eighty’s, hab ein bisschen zu viel erwischt und so kam eines zum anderen – es tut mir leid.“
Peter nickte, bis ihm bewusst wurde, dass sie ihn nicht sehen konnte. „Ist okay.“ Er wollte die ganze Sache eigentlich schon abhaken, doch er musste es jetzt von ihr wissen, andernfalls würde ihn die Ungewissheit auffressen. „Daria, betrügst du mich?“
„Ich – nein!“, widersprach sie heftig. „Nein. Wie kommst du darauf?“
„Du hast gestern so komisch geredet, da dachte ich…“
„Nein, Peter, nein, sowas darfst du nicht denken! Ich war gestern einfach nicht ich selbst, das hast du ja mitbekommen. Ich habe das alles nur gesagt, um dir irgendwie heimzuzahlen, dass du mich versetzt hast. Es tut mir leid.“
„Okay.“ Er wusste, dass sie ihn belog und das war fast noch bitterer als die Tatsache, dass sie sich mit ihm allein nicht mehr zufrieden gab. „Sehen wir uns heute noch?“
„Ehrlich gesagt, es geht mir gar nicht gut und am Nachmittag habe ich noch eine Musikstunde.“
„Wie immer.“
Unangenehm knisterte das Schweigen in der Leitung. Keiner von beiden wusste mehr, was es noch zu sagen gab, und so verabschiedeten sie einander knapp mit dem Versprechen, sich morgen und in Zukunft mehr Zeit füreinander zu nehmen. Aber sie nahmen sich schon lange keine Zeit mehr füreinander, nicht richtig. Immer wusste Daria eine Musikprobe oder eine Ballettstunde dazwischenzuschieben, oder es handelte sich um den allerletzten Durchgang ihrer Theatergruppe vor dem großen Auftritt, zu dem Peter natürlich wieder herzlich eingeladen war.
Gedankenverloren betrachtete Peter das Foto, das auf dem Hintergrund seines alten Nokia i32 angezeigt wurde. Es war von mieser Qualität, wie alles was er besaß, und es war ein verdammt altes Foto, das ihn und Daria Arm in Arm auf der Sitzbank eines Biergartens zeigte, das vor wenigen Monaten dichtgemacht hatte. Sie war damals glücklich gewesen. Damals hatte er sie noch glücklich machen können.
Auf der Innenseite seiner Wange kauend sah Peter sich um und erblickte das weiße Pulver, das von gestern übrig geblieben war. In einem durchsichtigen kleinen Säckchen auf dem gläsern verschmierten Wohnzimmertisch schien es ihm kokett zuzuwinken.
Er zuckte zusammen, als jäh sein Handy losbimmelte, und hoffte, dass es Daria war, die ihm noch ein tröstendes Wort hinterhersagen wollte, doch wurde seine Hoffnung schnell zunichte gemacht, als er den Anruf entgegennahm.
„Was willst du?“
Es war er. Wie oft schon hatte Peter seine Handynummer gewechselt und wie oft war es ihm gelungen, ihn trotzdem aufzuspüren? Schlagartig wurde Peter klar, dass er zitterte, wenn er auch nicht genau zu unterscheiden wusste, ob aus Zorn oder Angst ob der unheimlichen Beharrlichkeit, die er an den Tag legte. Dass es ihm abermals gelungen war, ihn aufzuspüren.
„Oh, ich will mich nur ein wenig mit dir unterhalten, Peter“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Mir kommt es Ewigkeiten vor seit ich dich zuletzt gesprochen habe. Wie fühlen wir uns denn?“
„Ich lege jetzt auf.“
Ein aufreizend sanftes Lachen krabbelte durch das Netz tief in Peters Ohr. „Sei nicht so bockig, Peter, ich möchte mich nur nach deinem Wohlergehen erkundigen. Wenn ich die letzte Nacht so Revue passieren lasse, könnte ich mir vorstellen, dass du heute ein kleines bisschen neben dir stehst, habe ich Recht?“
Er war in seiner Nähe gewesen. Oder er hatte jemanden ausgeschickt, um ihm nachzustellen. Und jetzt versuchte er, ihn zu irritieren, über billige Psychospielchen noch mehr Informationen aus ihm heraus zu kitzeln. Den Gefallen würde Peter ihm nicht tun, dazu war er schon viel zu oft auf ihn hereingefallen.
„Du kannst die Nummer gleich wieder aus deinem Adressbuch löschen“, sagte Peter, bemüht gelassen, während sein Herz zu platzen drohte. „Die ist mit dem heutigen Tag Geschichte. Mach’s gut.“
„Ich habe deinen Bruder getroffen.“
Peter erstarrte. Er hatte Charms getroffen. Der Mistkerl schreckte doch vor nichts zurück und er wusste genau, dass er ihn jetzt an der Angel hatte, dass Peter mit jener letzten Offenbarung nichts anderes übrig blieb, als auf seine Spielchen einzusteigen, so wenig er das auch wollte. Um Kontenance ringend, schloss Peter die Augen, froh, dass er ihn in diesem Moment nicht sehen konnte. Zumindest hoffte er, dass er es nicht konnte.
„Wo?“
„Während einer Busfahrt mit der Linie 4. Wir hatten ein nettes Gespräch miteinander, ehe er bei der Uni ausstieg. Er sieht dir ähnlich. Ich glaube, er ist dir auch ansonsten ähnlicher als er glaubt.“
Sekundenschnell quollen heißbrennende Zorngefühle in Peter empor wie billiger Prosecco aus einer übereifrig entkorkten Flasche. „Halt dich gefälligst von ihm fern, kapiert?“
„Rührend, deine brüderliche Fürsorge, Peter, und doch überrascht sie mich ein wenig, wie ich zugeben muss. Immerhin musstest du von zu Hause fort, während der Kleine sich in Mamas Nest gemütlich ausbreiten konnte. Sie hat ihn verzärtelt und ihm jeden Wunsch von den Augen abgelesen, doch dich hat sie von sich gestoßen, nicht wahr? Du bist nicht so selbstlos, ihnen zu verzeihen, Peter, weswegen also diese plötzliche Sorge um ihn?“
Doch Peter hatte aufgelegt. Er wollte sich das nicht länger anhören, konnte das Brodeln in seinem Inneren nicht länger unter Kontrolle halten. Wohin musste er noch, ehe er endlich seine Ruhe vor ihm haben würde - ans Ende der Welt?
Von einer gigantischen Welle der Frustration ergriffen, schleuderte er sein Handy gegen die Wand, wo es krachend zerschellte. Jetzt konnte der Mistkerl so oft er wollte versuchen, ihn zu erreichen, er würde es nicht mehr schaffen. Doch das änderte nichts daran, dass er zu allem Überfluss nun Charms auf seinem Radar hatte, seinen ach-so-perfekten Bruder, den aufstrebenden Anwalt, den Wunderjungen.
Peter musste ihn warnen. Mit Theodor Linello - viel zu lange hatte er seinen Namen nicht mehr gedacht, geschweige denn ausgesprochen, hatte ihn ins hinterste Eckchen seines Verstandes gestellt und ihn dort bewusst verstauben lassen - war nicht zu spaßen, und Charms war zu naiv und verblendet, als dass er die nahende Gefahr von alleine erkennen würde. Und er war trotz allem immer noch sein kleiner Bruder.
Das Handy war nicht mehr zu reanimieren. Per Telefon konnte er Charms also nicht mehr erreichen, wenngleich er sich nicht mal sicher war, ob er dessen Nummer zuletzt noch in seinem Telefonspeicher gehabt hatte; wenn man diverse familiäre Festivitäten ausließ, hatte er mit seinem Bruder seit etwa einem Jahr keinen Kontakt mehr gehabt und Verbindungsstörungen hatte es zuvor bereits reichlich gegeben.
Zerknirscht ließ sich Peter auf die Couch fallen, auf der er die vergangene Nacht zugebracht hatte. Sein Blick fiel abermals auf das weiße Pulver in dem gut durchsichtbaren Säckchen. Er hatte schon länger nicht mehr gekokst, hatte das Vergnügen lieber anderen überlassen, so auch letzte Nacht. Nicht zuletzt, weil sein Hang zum Konsum regelmäßig Streitgegenstand zwischen Daria und ihm gewesen war. Soeben jedoch hatte sich sein Leben wieder auf Übelkeit erregende Weise gedreht, denn Theodor Linello war es wie so oft gelungen, ihn ausfindig zu machen und es war nur eine Frage der Zeit, ehe er einen riesigen Eimer Unheil über seinem Leben auskippen würde. Angesichts der Tatsache, dass er Charms in sein krankes Netzt miteinzuspinnen drohte, würden die herabregnenden Spritzer dieses Mal wohl besonders weit reichen.
Ohne weiter zu überlegen hatte Peter sich eine kleine Line aus dem weißen Pulver zusammengebastelt und sie sich die Nase hochgezogen. Er ließ sich in die weiche Tiefe der Couch sinken, ehe er sämtliche Beweise seiner Tat beseitigte und sich benebelt vornahm, so bald wie möglich mit Charms Kontakt aufzunehmen.