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Es war schon fünfzehn Jahre her, da hatte Walter Morat, ”Steuerberater, Notar, Wirtschaftsprüfer, Unternehmensberater”, wie seine damalige unauffällig-elegante Visitenkarte verriet, eine gute Entscheidung getroffen. Nicht, dass Morat bisher irgendeine seiner Entscheidungen in Nachhinein bereut oder auch nur kritisch hinterfragt hatte... schließlich war sein gigantisches Selbstbewusstsein ein wesentlicher Teil seines beruflichen Erfolges. Zu jener Zeit jedoch war ihm sein leeres Haus ebenso auf die Nerven gegangen wie seine Furcht, ja sogar Angst vor Angriffen gleich welcher Art. Zwar war er zu dieser Zeit noch relativ durchtrainiert gewesen – ”relativ” hieß bei seiner stattlichen Größe von über eins-neunzig so an die neunzig bis hundert Kilo ?­­ doch sein Spezialgebiet war ebenso heikel wie seine Kundschaft undurchsichtig und unberechenbar. Und so hatte er beschlossen, die Lösung seines Sicherheitsproblems mit dem Ende seines Alleinseins zu kombinieren.

BB&M, ”Butlers, Bodyguards and More”, war die richtige Adresse. Erfolgreich und schnell gewachsen war die Agentur in einem immer wichtiger werdenden Markt. Ihr Chef pflegte sein Golfspiel nur für wenige Kunden und Interessenten zu unterbrechen, doch Morats Karte, seine Büroadresse und sein Ruf hatten ihn schon eingestimmt. Den Ausschlag hatte der Wunsch „Ich brauche einen Rundum-Service. Bitte nur allein stehende Herren mit besten Referenzen!” gegeben. Das gab es öfter: Butler, die in die Einliegerwohnung einer feudalen Villa ziehen konnten und ihren Dienstherren rund um die Uhr beschützten. So hatte er es sich nicht nehmen lassen, die Crème seiner Männer persönlich zu präsentieren. Da hatte Morat nun gestanden, hochgewachsen, imposant, ein blaues Tuch aus Krawattenseide im offenen Arrow-Hemd, einen gerade eben noch nicht protzigen Siegelring am linken kleinen Finger und die Auswahl von BB&M gemustert.

Acht Kandidaten hatten sich vor Morat aufgereiht, muskulös, unauffällig im dunklen Anzug und mit professionellem Lächeln. Standbein links, Spielbein rechts, Hände locker am Körper. Erwartungsvoll, denn eine solche Position war auch für sie ein Leckerbissen: Butler und Leibwächter rund um die Uhr, mit Wohnung im Haus des Kunden.

Morat hatte nur Sekunden gebraucht, um sich zu entscheiden. Zwar war er auch sonst für schnelle Entscheidungen bekannt, doch diesmal war auch die Reaktion seines Gegenübers blitzschnell und eindeutig gewesen. Männer mit dieser Neigung erkennen einander. Kein anderer merkt es überhaupt. Jedem der beiden hätte man auch eine gutaussehende Frau und zwei nette Kinder zugetraut.

So hatte Morats förmliche Frage „Sie wissen, was ich von Ihnen erwarte?!” eine kleine, aber ihre wichtigste Nebenbedeutung erhalten. Mario, sein erwählter Kandidat, hatte ebenso schnell entschieden: „Ja, Herr Morat, ich denke schon, und ich werde Sie nicht enttäuschen!”

Danach hatte sich alles wie erwartet entwickelt. Gediegen, vornehm, ohne Hast, in gegenseitigem Respekt, obwohl natürlich klar war und in all den Jahren klar blieb, wer das Sagen hatte. Und auch, als Mario aus finanziellen und erbrechtlichen Gründen zum ”Adoptivsohn” aufgestiegen war und er viele Dinge im Hause alleine entscheiden und bestimmen konnte, war die Rangordnung unangetastet. „Mario, holst du mir bitte den Wagen aus der Garage?!”, genügte...

Er war sein Geld wert gewesen. Schon die Abwehr des Car-Napping-Überfalls, mit blutender Kopfwunde nach einem Hieb durch die zertrümmerte Seitenscheibe, hätte das gerechtfertigt. Ganz zu schweigen von anderen Situationen. Besonders genoss Morat aber das allgemeine Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit im Beisein seines zwanzig Jahre jüngeren ”Sohnes”. Und hervorragend kochen konnte er obendrein.

Natürlich war in den fünfzehn Jahren ihrer Beziehung das Sexuelle allmählich in den Hintergrund getreten. Es war Mario sogar gelungen, trotz Morats siebtem Sinn und seiner Wachsamkeit einige Male fremd zu gehen – Blow Jobs, nichts Ernsthaftes. Aber das hatte er bald aufgegeben. Irgendwie ahnte er, dass Morat nicht nur wachsam, sondern auch skrupellos war und viele wirkungsvolle Verbindungen hatte.

Diese Verbindungen hatten nicht zuletzt dafür gesorgt, dass er ein Angebot aus der Politik erhielt, dem er nicht widerstehen konnte. Als Fachmann für Internetrecht und mit einigen Semestern in Harvard im Hintergrund hatte er die National Security Agency der USA in einigen Prozessen in Deutschland erfolgreich vertreten. Dabei war es um die Verschlüsselung von E-Mails mit modernen kryptographischen Verfahren gegangen und um den Anspruch der NSA, diese verschlüsselten Nachrichten im Interesse der nationalen Sicherheit knacken zu dürfen. So hatte sich Morat nebenbei auch noch hervorragende fachliche Kenntnisse auf dem Spezialgebiet der Kryptographie angeeignet. Auf vielen Auslandsreisen, vor allem in den unruhigen Nahen Osten, hatte er wirkungsvolle Verbindungen knüpfen können. Nun war er zum Ministerialdirektor im Innenministerium aufgestiegen und leitete die Gruppe, die für das Codeprogramm der ePässe verantwortlich war.

Morat hatte inzwischen deutlich an Körperfülle zugenommen. Sein morgendlicher Auftritt im Ministerium glich dem prunkvollen Einzug des Sonnenkönigs. Alles hatte aufgeräumt an seinem Platz zu sein. Seine Chefsekretärin hatte in der kurzen Zeit zwischen dem Erscheinen seines Jaguars auf dem Parkdeck und seinem Auftauchen im Eingang seines Büros einen frischen Tee zu brühen, Earl Grey, ohne Zucker.

Aber auch, wenn er zuhause arbeitete, war er präsent. Er hatte ständigen Zugriff zum Computernetz des Ministeriums. Eine Telefon-Standleitung verband ihn mit dem Büro der Chefsekretärin. Angeblich abhörsicher – aber was war schon sicher in diesen Zeiten?! Und die nutzte er oft genug für kurze präzise Anweisungen.

Die erste Tätigkeit jedes Tages ?­­ Gott sei Dank war er ein Frühaufsteher ?­­ bestand darin, um acht Uhr morgens den aktuellen Tagescode für die RFID-Chips in das Internet zu stellen. Dies war eine komplizierte Prozedur, die nach dem Vier-Augen-Prinzip ablief: der Memory Stick mit dem Codeprogramm wurde aus dem Safe geholt und in den Code-Server gesteckt. Dann wurde das Codeprogramm auf die Platte des Rechners geladen und von dort ausgeführt, während der Stick wieder im Safe verschwand. Der neue Tagescode stand dann – natürlich mit allen erforderlichen Schutzmechanismen – auf dem Server für den Zugriff der Passämter zur Verfügung. Das Codeprogramm wurde danach aus Sicherheitsgründen von der Platte gelöscht, um sich gegen das – unwahrscheinliche, aber theoretisch mögliche – Ausspähen durch Hacker zu schützen. In den Räumen selbst gab es natürlich weitere Sicherungen gegen das physische Eindringen einer unerwünschten Person. Die Alarmanlage schaltete sich automatisch scharf, wenn kein Mensch im Raum war. Bewegungsmelder und Kameras überwachten jeden Winkel. Zusätzlich hätte eine Vernebelungsanlage einem Einbrecher jegliche Sicht genommen – er hätte gar nicht mehr aus dem Haus gefunden.

Die gesamte Ladeprozedur fand unter den Augen seines Stellvertreters statt, der als unbestechlicher Verwaltungsjurist im Ministerium für Recht und Ordnung sorgte. Obwohl er Morat nach anfänglicher Skepsis vertraute, schaute er ihm trotzdem, schon aus Pflichtgefühl, bei jedem Handgriff auf die Finger. Hätte er geahnt, welchen Ruf Morat in bestimmten Kreisen hatte, die streng abgeschottet von jeder demokratischen Öffentlichkeit operierten, er hätte noch genauer hingesehen.

So aber galt dieser kritische Bereich als absolut sicher. Niemand hier hätte dem Gerücht Glauben geschenkt, Morat habe eine Kopie des Code-Programms entwendet und zuhause in seiner Wohnung versteckt. Aber solche Verschwörungstheorien waren Regionen weit abseits des bürgerlichen Alltags und kursierten nur in Insider-Kreisen.

Der Schnüffel-Chip

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