Читать книгу WBG Deutsch-Französische Geschichte Bd. II - Jean-Marie Moeglin - Страница 5
Оглавление[Menü]
Einleitung
Frankreich und Deutschland als zwei unterschiedliche Länder, die aus einer gemeinsamen karolingischen Wurzel hervorgegangen sind, standen am Ende eines langen Prozesses, den jüngste Studien gut dokumentiert haben1. Um 1200 war es auf jeden Fall klar, dass zwei Länder existierten, auch wenn weder das eine noch das andere bereits eine innere Einheit besaß. Eine Geschichte ihrer Beziehungen hat es dennoch gegeben. Diese Geschichte zu schreiben ist allerdings nicht einfach.
Die erste Schwierigkeit liegt in der Natur des Gegenstandes selbst begründet. Im 19. Jahrhundert verstand man die Geschichte der Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland naturgemäß als eine Geschichte der politischen Beziehungen zwischen zwei Ländern und Nationen, die bereits klar herausgebildet waren und ihre Interessen und „historischen“ Schicksale als gegensätzlich verstanden. Dieses Modell kann jedoch nicht mehr das unsere sein, und zwar aus grundsätzlichen Überlegungen heraus. Richtig ist zwar, dass es vom 13. bis zum 15. Jahrhundert hinsichtlich der politischen Strukturen Formen kollektiver Organisation gab, die es erlauben, von einem Königreich Frankreich und einem Königreich Deutschland zu sprechen. Doch kann man nicht mehr davon ausgehen, dass diese Länder jeweils eine strukturierte, zusammenhängende und geeinigte Ganzheit darstellten, deren ganze Kraft trotz möglicher interner Konflikte auf dasselbe Ziel gerichtet war oder sein sollte. Selbst im Bereich des Politischen war das nicht der Fall, wo doch, zumindest auf französischer Seite, der Wille zur Einheit am stärksten entwickelt war, ungleich stärker jedenfalls als in den anderen Bereichen. Dies führt zu einer weiteren grundsätzlichen Überlegung, die uns zutiefst von diesem alten Modell trennt: In einer deutsch-französischen Geschichte, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts geschrieben wird, sind die politischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern nur ein Aspekt unter vielen.
Daher habe ich nicht versucht, im engeren Sinn eine Geschichte der Beziehungen zwischen zwei Staaten zu schreiben. Das Ziel war es, zunächst eine Bestandsaufnahme der Beziehungen vorzunehmen, die zwischen den durch eine grundsätzlich gefestigte Grenze getrennten französischen und deutschen Gebieten in ihrer Vielfältigkeit bereits existierten. Erst anschließend konnten die Einigungsprozesse berücksichtigt werden, die im Innern dieser Gebiete Form annahmen und die Beziehungen mit dem anderen Gebiet strukturierten. Diese Einigungsprozesse blieben während der hier betrachteten Periode immer lückenhaft, mehrschichtig und vielfältig – man denke beispielsweise an den König von Frankreich als politische Kraft, die mit mehr oder weniger großem Erfolg das Machtmonopol beansprucht, an die Universität von Paris als Entwicklungszentrum scholastischen Wissens oder auch an diesen oder jenen Fürstenhof als Ort der Durchsetzung oder der Übernahme eines fremdländischen kulturellen Modells. Solche Prozesse waren jedenfalls im Innern der politischen Einheiten, wie sie die Königreiche Frankreich und Deutschland darstellten, unzureichend koordiniert und sogar nur ausgesprochen locker auf diese politischen Einheiten bezogen2.
In diesem Rahmen ist es meiner Meinung nach möglich, eine echte deutsch-französische Geschichte zu verfassen, die alle Aspekte der bestehenden Beziehungen zwischen beiden Ländern während der letzten Jahrhunderte des Mittelalters berücksichtigt: die politischen Beziehungen und den diplomatischen Austausch, aber auch die Definition der Grenzen und die Konflikte um ebendiese, den Handels- und Wirtschaftsverkehr, die Mobilität der Menschen, den zeitweisen oder endgültigen Bevölkerungstransfer, die Reisenden und die Reiseberichte, den Kulturtransfer, die eigene Sicht des jeweils anderen.
Eine zweite Schwierigkeit resultiert aus dem eben Dargelegten. Zu diesem Thema existiert zwar eine Vielzahl von Arbeiten, aber wenn man von zwei ertragreichen Kolloquien in jüngster Zeit sowie einer begrenzten Anzahl von Artikeln und Monographien absieht3, handelt es sich um Arbeiten, die sich mit sehr spezifischen Aspekten unseres Themas beschäftigen oder, was noch häufiger der Fall ist, deren eigentliche Themen nicht die Beziehungen und der Transfer sind. Im Grunde genommen hätte man häufiger, als dies tatsächlich möglich war, auf Primärquellen zurückgreifen müssen.
Ein drittes Problem gilt prinzipiell für alle Bände der Reihe, in der dieses Buch erscheint, aber es betrifft unsere Periode ganz besonders: Welcher geographische Rahmen sollte hier angewendet werden? Viele Leser werden zwangsläufig die gegenwärtige Gestalt Deutschlands und Frankreichs im Hinterkopf haben, aber sie weicht deutlich vom Frankreich und Deutschland unserer Epoche ab. Welchen Platz sollte man demnach solchen Gebieten einräumen – zum Beispiel dem traditionellerweise als Etat bourguignon bezeichneten Herrschaftsgebiet des Hauses Burgund im 14. und 15. Jahrhundert –, die klar zum deutschen Königreich gehörten oder, wie im Fall Flanderns, auch zum Königreich Frankreich, aber die im Laufe der Jahrhunderte eine andere Richtung genommen haben als die zentralen Territorien dieser Königreiche? Die eingeschlagene Lösung war von Pragmatismus geleitet: Diese Regionen wurden innerhalb der deutsch-französischen Beziehungen nicht ins Zentrum des Interesses gerückt, aber die Frage ihrer eventuellen Neigung zum Machtbereich des Nachbarn wurde dafür im Detail erörtert.
Bleibt noch, Werner Paravicini herzlich für seine lange Geduld zu danken; seine aufmerksame Lektüre meines Manuskripts war mir eine große Hilfe. Auch muss gerechterweise noch gesagt werden, dass es mir ohne die Gastfreundschaft, die mir so häufig und so großzügig bei den Monumenta Germaniae Historica in München gewährt wurde, nicht möglich gewesen wäre, dieses Buch zu schreiben.