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Kapitel 2

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Marc Noret war früh am Morgen, gegen halb sechs aufgestanden. Die größeren Fischerboote fuhren zum Sardinenfang bereites am Abend aufs Meer und legten ihre Netzte aus. Sie kamen dann gegen halb sechs am Morgen wieder zurück. Marc Noret machte sich selten vor sieben Uhr auf den Weg. Er fischte stets mit der Angel, oder wie die Bretonen sagten, la pêche en ligne. Da kam es nicht so darauf an, schon in der Nacht unterwegs zu sein.

Ein Blick aus dem Fenster seines Häuschens, dass in Pen Ar Lan, gleich hinter dem kleinen Flughafen der Insel lag, sagte ihm, dass das Wetter gut werden würde. Er musste keine größeren Vorsichtsmaßnahmen treffen. Er legte sich seine drei Angeln bereit, kümmerte sich um die Köder und packte alles auf den Anhänger, den er an seine Vélosolex befestigen konnte. Jetzt machte er sich auf den Weg zum Hafen. Er hatte seine Anlegestelle im Port du Stiff, nahe am Embarquement, wie die Anlegestelle genannt wurde, von wo aus die Fähren zum Festland ausliefen bzw. wo sie einliefen. Er war einer der letzten Fischer der Insel. Früher lebten die Insulaner fast ausschließlich vom Fischfang, wenn man von den etwas dunkleren Zeiten absah, in denen die Strandräuberei eine wesentliche Einnahmequelle war.

Anfang des 17. Jahrhunderts, zu Vaubans Zeiten, hatten die Bewohner von Ouessant nicht wie heute, den Ruf unerschrockener Retter, für die in Seenot geratenen Schiffe und deren Besatzungen. Vielmehr galten sie als rücksichtslose, ja mörderische Strandräuber. In jener Zeit, galt die Beschäftigung mit dem Raub von Strandgut nicht als unehrenhaft, sondern war für die Bewohner vielmehr eine Tätigkeit, der man sich professionell und ideenreich nähern musste. Wenn die regelmäßigen Havarien, an den Riffen rund um die Insel Ouessant nicht ausreichten, um den Insulanern ein erträgliches Einkommen durch den Raub von Strandgut zu sichern, band man in der Nacht Rindern Fackeln an die Hörner und trieb sie über den Strand. Dadurch wurden Schiffe in die Irre geleitet und zerschellten an den Riffen. Erst Colbert bereitete 1681 der hinterhältigen Piraterie ein Ende, indem er die Todesstrafe für Strandräuber einführte.

Marc Noret pflegte, wenn er gut gelaunt war, in seinem Stammlokal, der Bar de l´Arrivée, die Geschichte zu erzählen, dass sein Ururururgroßvater ein recht erfolgreicher Strandräuber gewesen war. Mit dem Strandgut hatte er damals sein ganzes Haus ausgestattet. Angefangen von den Möbeln, über das Geschirr, bis hin zu den Bettlaken, stammte alles vom Strand. Seine Ururururgroßmutter war auf diese Weise die am besten ausgestattetste Hausfrau der Insel gewesen.

Es gab berechtigte Zweifel an dieser Geschichte, die aber nur von demjenigen geäußert wurde, der nicht von der Insel stammte.

Marc Noret fuhr mit seiner Vélosolex durch die schmale Straße, vorbei am Flughafen zum Hafen. Sein Fischerboot, die l´Ormica, lag gut vertäut am Anleger. Die Flut hatte das Boot soweit angehoben, dass er, ohne die Leiter benutzen zu müssen, an Bord gehen konnte. Seine Vélosolex stellte er in die hintere Ecke des Kais. Angst vor einem Diebstahl hatten die Bewohner nicht, so dass die Autos oder Motorräder nie abgeschlossen wurden. Wie sollte ein Dieb auch von der Insel wegkommen. Es blieb nur die Fähre, die aber keinerlei Fahrzeuge an Bord nahm. So lange die Bewohner sich erinnern konnten, war auch noch nie ein Auto entwendet worden, wenigstens nicht auf Nimmerwiedersehen. Es kam schon vor, dass Jugendliche sich ein Auto schnappten, um eine Spritztour zum Hafen zu unternehmen. Aber das war eher die Ausnahme.

Marc Noret öffnete das kleine Führerhaus und legte sein mitgebrachtes Essen in die Vorratskiste, die er links unterhalb der Scheibe angebracht hatte. Dann holte er seine Angeln und die Köder, legte sie im Heck des Bootes ab und ging zurück ins Führerhaus. Er schloss den Motor an die Batterie an und drehte seinen Schlüssel im Zündschloss. Das alte Dieselaggregat brauchte einige Umdrehungen, dann begann es zu tuckern. Die Taue, die das Boot an Bug und Heck festhielten, waren schnell gelöst, und langsam ging die Fahrt durch die Hafeneinfahrt aufs offene Meer hinaus. Inzwischen war es bereits neun Uhr geworden, die Sonne schien von einem dunkelblauen Himmel, der nur wenige Schleierwolken aufwies.

Sein Blick schweifte über die kleinen Felseninseln, die die Einfahrt links und rechts säumten, und ging weiter bis zur Île Molène, die vielleicht drei Kilometer entfernt in östlicher Richtung lag. Das Meer war ruhig, die Wellen hatten kaum einen Meter Höhe, und seine l´Ormica wiegte sich ganz sachte auf ihnen. Marc war anderes gewohnt. Wie oft war er bei Windstärke acht durch diese berüchtigte und gefürchtete Strömung gefahren. Er dankte seinem Schöpfer nach jeder Rückkehr, wenn er gesund und heile den Hafen wieder erreicht hatte. Er wäre nicht der Erste gewesen, der sein Leben auf dem Meer gelassen hätte und bei dem die proëlla abgehalten worden wäre.

Die proëlla, wie die Insulaner den Brauch nennen, wird schon seit Jahrhunderten auf der Insel zelebriert. Die Leichen, der auf See verunglückten Männer, werden häufig nicht gefunden. So wird der Verstorbene durch eine kleine Wachsfigur symbolisiert. Der Name proëlla kommt aus dem Bretonischen und bedeutet so viel wie zurückgeben. Durch die Wachsfigur wird der Tote dem Land zurückgegeben. Die Figur wird während einer kirchlichen Trauerfeier in eine Urne gelegt und vom Priester, in das extra dafür errichtete Monument, in die Mitte des Friedhofs gebracht.

Gemütlich lenkte er sein Boot durch den Fromveur. Sein Ziel lag unweit der Hauptfahrrinne, der Rail d´Ouessant, wie das gut überwachte Seegebiet genannt wurde.

Nach der Strandung des Öltankers, der Amoco Cadiz, waren die Politiker übereingekommen, dass eine solche Katastrophe nicht noch einmal passieren durfte. Auf Ouessant wurde damals ein großer Radarturm errichtet, der die Passage durch den gefährlichen Fromveur überwachte. Mit Hubschraubern und Schiffen patrouillierte die surveillance maritime seit dem Tag und Nacht, um auf das Einhalten der Route zu achten.

Marc Noret war es gewohnt, sich bei der Überwachungsstelle anzumelden, wenn er den Fromveur durchquerte. Er besaß eine AIS Anlage (Automatic Identification System). Mit dem AIS-System wurde sein Boot identifiziert und schickte wichtige Daten an das System. Damit war er für andere Teilnehmer der Schifffahrt sichtbar und sein Aufenthaltsort bekannt. Die Informationen dienten nicht nur den anderen Schiffen, sondern auch den Landstationen und der Hafenbehörde. Auch die Rettungseinrichtung überblickte die Position der Schiffe und konnte im Bedarfsfall sehen, wer sich in der Nähe eines in Not geratenen Schiffes aufhielt.

Die übermittelten Daten gaben Auskunft über den Schiffsnamen, das internationale Funkrufzeichen, den Schiffstyp und die Abmessungen des jeweiligen Schiffes, sowie die Angaben über seinen Tiefgang und den Zielhafen. Marc Noret fühlte sich sicherer, seitdem er die Anlage installiert hatte. Jetzt konnte die Überwachung sofort sehen, wenn sich sein Boot in Schwierigkeiten befand. Natürlich musste er das System dazu einschalten, ansonsten funktionierte es nicht.

Jetzt hatte er beinahe die Stelle erreicht, an der er seinen Anker für den heutigen Fischfang werfen wollte. Er hielt sich mit seinem Boot außerhalb der Rail d´Ouessant auf, so dass er kein Hindernis für die Schifffahrt darstellte.

Marc Noret holte seine Angeln und präparierte sie. Dann warf er sie aus und steckte sie in die Halterung am Heck seines Bootes. Jetzt brauchte er nur Geduld. Schon nach wenigen Minuten hatte der erste Fisch angebissen. Der Tag begann erfolgreich.

Nach drei Stunden reichte ihm der Fang, und Marc Noret begann mit den Vorbereitungen für die Rückfahrt. Am Horizont tauchte ein großes Containerschiff auf und näherte sich seinem Standort. Marc war zwar etwas irritiert, normalerweise fuhren die Schiffe gut zwei Seemeilen weiter östlich, aber er machte sich keine weiteren Gedanken darüber. Er wollte abwarten, bis das Schiff an ihm vorbeigefahren war. Erst anschließend würde er die Fromveur-Strömung wieder queren.

Das Schiff kam schnell näher und Marc Noret erkannte, dass es in einem Abstand von vielleicht 500 bis 600 Metern an seinem Boot vorbeifahren würde. Plötzlich hatte er den Eindruck, es würden Pakete ins Meer geworfen. Marc ging ins Führerhaus und holte sein Fernglas. Es gab keinen Zweifel, vom Deck des Containerschiffes wurden Pakete ins Meer geworfen. Zuerst dachte Marc an Abfall, den das Schiff hier entsorgte. Dann aber tauchte eine Yacht auf, die sich dem Schiff mit hoher Geschwindigkeit näherte und mit einem Netz, das an einer langen Stange befestigt war, die einzelnen Pakete aus dem Wasser zog.

„Was zum Teufel geht hier vor?“, fragte sich Marc. Er holte den Anker ein und startete den Motor. Das Boot setzte sich langsam in Bewegung. Er riss das Ruder herum, das Boot drehte zur Yacht. Als er nur noch gute 100 Meter von der Yacht entfernt war, versuchte er sie per Funk zu kontaktieren. Aber die Männer auf der Yacht reagierten nicht. Marc Noret drehte bei und stoppte den Motor. Es schien, als hätten die Männer alle Pakete an Bord geholt. Marc konnte nicht sehen, um welchen Inhalt es sich bei den Paketen handelte. Er erkannte nur, dass sie alle gut verschnürt und mit Ölpapier umwickelt waren, so wie das Paket, das er vor einigen Monaten im Wasser gefunden hatte, und das noch immer ungeöffnet in einem Schrank in seinem Haus lag. Ein kurzer Blick zum Containerschiff zeigte ihm, dass es wieder Fahrt auf die Fahrrinne genommen hatte. Marc notierte sich den Namen des Schiffes in seinem kleinen Logbuch, das er aus alter Tradition immer noch führte.

Als er wieder aus dem Führerhaus herauskam und zur Yacht hinübersah, erkannte er zuerst nur, dass die Yacht seinem Boot deutlich näher gekommen war, danach sah er ein kurzes Aufblitzen, bevor eine Kugel die Bordwand genau unter seinem Standort traf.

„Sind die verrückt geworden?“ Marc kam nicht mehr dazu, weiter darüber nachzudenken. Ein zweiter Schuss traf ihn genau ins Herz. Er sackte zusammen und fiel auf die Wanne, in der der Fang vom Tag lag. Das Wasser schwappte heraus, und die Fische verteilten sich über die Planken des Bootes.

Die Yacht näherte sich dem Boot von Noret und ein Mann sprang auf das Fischerboot. Er ging zur Leiche von Noret und fühlte nach seinem Puls. Als er sich vergewissert hatte, dass Noret tot war, verließ er das Fischerboot sofort wieder.

Die Yacht drehte ab, und nach wenigen Minuten war sie auch schon aus der Umgebung des Fischerbootes verschwunden, das jetzt in Richtung des Kanals trieb, angezogen von den Ausläufern der Fromveur-Strömung.

Es dauerte nur eine halbe Stunde und die surveillance maritime meldete sich.

„L´Ormica, bitte melden, L´Ormica, Ihr Boot bewegt sich im Kreis. Hören Sie, bitte melden.“

Marc Noret konnte sich nicht mehr melden, jetzt half ihm nicht einmal mehr das AIS-System. Die Überwachungsstelle versuchte es noch einige Male, dann wurde ein Schiff der surveillance maritime aufs Meer hinaus geschickt, um die drohende Gefahr durch das führerlos gewordene Boot von Noret für die Schiffspassage durch den Kanal abzuwenden.

Eine Vedettes côtières von der surveillance maritime, die Aber-Wrach, wurde losgeschickt, um nachzusehen, was mit der l´Ormica passiert war. Es waren schnelle Schiffe, die alle der Gendarmerie maritime unterstanden. Es dauerte nicht lange, und das Schiff erreichte die l´Ormica. Schnell war klar, dass hier ein Gewaltverbrechen vorlag. Die Gendarmerie maritime nahm Fotos des toten Marc Noret auf, um möglichst alles zu sichern. Sie versuchte, möglichst keine Spuren zu zerstören und blieb nur so lange wie unbedingt nötig an Bord. Dann nahm sie die l´Ormica ins Schlepptau und brachte sie in die Bucht von Lampaul, informierte die police judiciaire in Brest und übergab den Fall.













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