Читать книгу Schnee auf Ouessant - Jean-Pierre Kermanchec - Страница 8
Kapitel 6
ОглавлениеEwen und Paul verbrachten einen angenehmen Abend im Hotel Le Fromveur. Der Rosé zum Aperitif war ganz nach ihrem Geschmack, und auch das Essen war wieder ausgezeichnet.
Am nächsten Morgen gingen sie sofort nach dem Frühstück in die Gendarmerie. Sie begrüßten ihre Kollegen, und André Leriche, der Kommandant des Postens, berichtete von seiner Nachforschung über den Standort der Yachten. Das Boot von Marechal war laut der Angaben des AIS nicht aus dem Hafen rausgefahren. Allerdings galt dies mit der Einschränkung, dass die Aussagekraft nur bei eingeschaltetem AIS-System zutraf.
Ewen wandte sich an den Kollegen Berthelé:
„Wir sollten mit Monsieur Marechal sprechen. Wissen Sie, wo wir Monsieur Marechal finden können?“
„Normalerweise in seiner Fabrik, in Feunteun Vélen, oder in seinem Haus in Godec.“
„Ich brauche Sie nicht zu fragen, ob es sehr weit bis dorthin ist, nicht wahr?“
Jean-Paul Berthelé musste lachen.
„Nein, sehr weit ist es nicht. Sie nehmen aber besser den Wagen. Bis nach Godec sind es zwar lediglich 1000 Meter, aber bis nach Feunteun Vélen sind es immerhin etwas mehr als drei Kilometer. Hin und zurück also schon sechs Kilometer.“
„Gut, dann nehmen wir den Wagen. Komm Paul, lass uns gehen.“
Die beiden Kommissare bestiegen den alten Wagen der Gendarmerie und fuhren, vorbei an der Kirche Saint-Pol-Aurélien, von Lampaul zur Pointe de Porz Doun. Auch wenn Ouessant nur eine einzige Gemeinde war, so gab es dennoch 92 kleine Dörfer. Einige dieser Dörfer bestanden nur aus zwei Häusern.
Eine bretonische Besonderheit: In der Bretagne kennt man lediglich drei Begriffe für die Bezeichnung eines Ortes. Entweder man spricht von einem Dorf, also village, oder von einer Stadt, einer ville. Der Ort, an dem das Rathaus, die Kirche und die Geschäfte liegen, und der das Zentrum eines entsprechenden landwirtschaftlichen Hinterlandes ist, wird mit dem Begriff bourg versehen. Damit kann eine Stadt kleiner sein als ein bourg, wenn die Stadt keine Rolle für das landwirtschaftliche Hinterland spielt. Die Stadt Saint-Léry hat lediglich 163 Einwohner, während der Bourg Mauron über 2000 hat. Eine Gemeinde kann aber auch mehrere bourgs besitzen. Den im restlichen Frankreich bekannten Begriff hameaux, für einen Weiler, gibt es im Bretonischen nicht. Es reicht aus, wenn zwei Häuser nebeneinander stehen, um ein Dorf, also ein village, zu bilden.
Das Dorf Godec war schnell erreicht und, dank der Beschreibung von Berthelé, fanden sie das Haus von Monsieur Marechal auch sofort. Es war das schönste Haus, das Ewen bis jetzt auf der Insel gesehen hatte. Bei seinem Besuch mit Carla war es ihm überhaupt nicht aufgefallen. Wahrscheinlich weil es sich aus der Entfernung nicht wesentlich von den anderen Gebäuden unterschied. Jetzt aber, als er direkt vor dem Haus stand, erkannte er die Schönheit des Hauses. Auf dem Festland gab es bestimmt Villen, die um ein vielfaches größer und imposanter waren. Dieses Haus aber, passte sich nicht nur der Umgebung an, es bot seinem Bewohner sicherlich auch den richtigen Schutz vor den Stürmen, die besonders in den Herbst- und Wintermonaten die Insel heimsuchten.
Ewen konnte sich noch an ein Haus erinnern, an dem sie vorbeigekommen waren, als er mit Carla in der Umgebung des Leuchtturms Stiff spaziert war. Dessen Schieferdach reichte auf der Westseite beinahe bis auf den Boden, um dem Wind keine Angriffsfläche zu bieten.
Paul und Ewen betraten den Vorgarten und gingen auf die Eingangstür zu. Sie klingelten und warteten, aber es regte sich nichts im Haus. Auch auf das erneute Klingeln kam niemand an die Tür.
„Dann versuchen wir es in seiner Fabrik“, meinte Paul und ging zurück zum Fahrzeug.
Ein blauer Renault Clio kam ihnen entgegen und hielt unmittelbar hinter ihrem Wagen an. Der Fahrer, ein Mann Ende 30, mit kahlgeschorenem Kopf, stieg aus und kam auf die Kommissare zu.
„Bonjour Messieurs, wollen Sie zu mir?“
„Bonjour Monsieur, wenn Sie Monsieur Marechal sind, dann würden wir gerne mit Ihnen sprechen. Ewen Kerber und Paul Chevrier, mein Kollege, wir sind von der police judiciaire aus Quimper.“
„Police judiciaire aus Quimper? Sind Sie jetzt für Ouessant zuständig?“
„Nein, Monsieur, wir helfen unseren Kollegen aus Brest lediglich aus.“
„Mein Name ist Marechal, kommen Sie doch bitte in mein bescheidenes Häuschen.“
Monsieur Marechal ging auf die Haustür zu, schloss sie auf und ließ die Herren eintreten. Ewen und Paul standen nach dem Überschreiten der Schwelle, ähnlich wie im Haus von Noret, sofort im Wohnzimmer des Hausherrn. Aber welch ein Unterschied zu dem kleinen Fischerhaus: Der Raum war mit teuren Designermöbeln ausgestattet. Die Wände waren von innen verputzt und zahlreiche alte Gemälde schmückten die freien Flächen zwischen den Bücherregalen und dem großen, offenen Kamin. Ganz mit Marmor eingefasst, bot er einen Kontrast zu dem ansonsten vorherrschenden Granitstein, der die Fenster einrahmte. Das Mauerwerk hatte bestimmt eine Tiefe von 60 Zentimetern und bedurfte keiner größeren Isolierung. Große Ledersessel standen um einen gläsernen Tisch vor dem Kamin auf der rechten Giebelseite, und eine moderne Stereoanlage fügte sich zwischen einem Bücherregal und dem Kamin in eine Nische ein. Ein großer Speisezimmertisch mit acht Stühlen, alle ebenfalls mit Leder bezogen, hatte seinen Platz auf der Giebelseite, gegenüber des Kamins.
Monsieur Marechal schloss die Tür des Hauses und zeigte auf die Sitzecke vor den Kamin.
„Nehmen Sie doch Platz, Messieurs les Commissaires. Das ist schon mein zweites Interview. Vor kurzem ist France 3 hier gewesen, um mich zu sprechen. Was kann ich für Sie tun.“
„Wir wollen jedenfalls kein Interview mit Ihnen führen.“
Ewen war von Monsieur Marechal nicht unbedingt eingenommen. Er erschien ihm arrogant und selbstherrlich.
„Monsieur Marechal, Sie haben bestimmt vom Tod des Fischers Marc Noret gehört?“
„Oh ja, die Nachricht ist seit Tagen das Hauptgesprächsthema der Insel.“
„In diesem Zusammenhang gehen wir einer Spur nach, die uns auf die Besitzer von Yachten hat aufmerksam werden lassen. Da Sie ein Yachtbesitzer sind, wollen wir von Ihnen wissen, wann Sie zuletzt mit Ihrem Boot auf dem Meer gewesen sind.“
Monsieur Marechal schien nachdenken zu müssen.
„Sie erwischen mich unvorbereitet. Ich kann Ihnen überhaupt nicht sagen, wann ich zum letzten Mal auf dem Boot gewesen bin. Ich habe so viel zu tun mit dem Aufbau meiner Algenzucht, dass ich gar nicht mehr so richtig dazukomme, hinaus aufs Meer zu fahren.“
„Segelt außer Ihnen sonst noch jemand die Yacht?“
„Wenn meine Tochter auf der Insel ist, dann nimmt sie schon mal das Boot. Aber sie ist vor etlichen Monaten das letzte Mal hier gewesen. Sie lebt bei meiner geschiedenen Frau in Paris.“
Ewen überlegte, ob der Mann vielleicht eine militärische Vergangenheit gehabt haben konnte.
„Waren Sie beim Militär, Monsieur Marechal?“
„Ich? Natürlich war ich beim Militär, ganz so wie es sich für einen guten Staatsbürger gehört. Man dient seinem Land, und ich bin ein stolzer Franzose.“
Das klang jetzt doch sehr übertrieben. Ewen Kerber war zwar auch beim Militär gewesen, aber damals war dies noch Voraussetzung, um eine Karriere bei der Gendarmerie beginnen zu können. Ein großer Freund vom militärischen Leben war er nicht. Ewen war durchaus ein Patriot, aber er würde nie von sich behaupten, ein stolzer Franzose zu sein. Gut, etwas anders wäre es, wenn man ihn gefragt hätte, ob er ein stolzer Bretone sei. Da würde ihm die Antwort schon deutlich schwerer fallen. Er war zwar kein fanatischer Bretone, davon gab es zahlreiche in der Bretagne, aber ein wenig stolz auf seine Heimat war er schon.
„Darf ich Sie fragen, wo Sie ihre militärische Zeit verbracht haben? Bei der Luftwaffe, Marine oder Armee?“
„Ich bin bei der Armee gewesen und habe dort eine Spezialeinheit befehligt.“
Die Aussage passte zum Bild, das Ewen von dem Mann hatte. Spezialeinheit bedeutete sicherlich auch, dass er eine spezielle Ausbildung als Scharfschütze hatte.
„Sie waren nicht zufällig bei den Scharfschützen?“
Alain Marechal stutzte etwas bei der Frage, antwortete dann aber sofort.
„Ja, ich bin bei einer Spezialeinheit von Scharfschützen gewesen. Wir haben sogar in Afrika Einsätze durchgeführt. Darf ich Sie fragen, weshalb Sie sich für meine militärische Vergangenheit interessieren?“
„Ach nur so, es hat keinen tieferen Hintergrund. Wir müssen Sie allerdings noch fragen, wo Sie vor drei Tagen gewesen sind?“
„Sie wollen ein Alibi von mir?“
„Nun Monsieur Marechal, Sie werden verstehen, dass wir bei einem geschehenen Verbrechen alles sehr exakt überprüfen müssen. Dazu gehören auch die Alibis aller Personen, die eine Möglichkeit gehabt haben, Marc Noret auf offener See zu ermorden.“
„Gut, dann sollte ich besser genau nachsehen, was ich vor drei Tagen gemacht habe. Vor drei Tagen, das ist ein Dienstag gewesen?“
„Stimmt genau, das war Dienstag“, antwortete Paul und zückte bei der Gelegenheit sofort sein kleines Notizbüchlein.
Alain Marechal erhob sich aus seinem Sessel und ging durch einen gläsernen Verbindungsgang in das daneben liegende Gebäude. Ewen bewunderte erneut das Haus. Es war schon eine ideale Lösung, die Alain Marechal hier gefunden hatte, die beiden getrennten Häuser zu einer Einheit zusammenzufügen. Auch die zweite Etage war mit dem Nachbarhaus auf diese Art verbunden. Egal wo man sich aufhielt, ein Wechsel von einem Haus in das andere war so, als ginge man lediglich durch einen etwas längeren Flur.
Alain Marechal kam zurück und hielt seinen Terminkalender in der Hand.
„So meine Herren, am Dienstag bin ich von neun Uhr morgens bis etwa 13 Uhr in meiner Fabrik in Feunteun Vélen gewesen, das können Ihnen meine Mitarbeiter bestimmt bestätigen. Danach habe ich im Hotel Le Fromveur zu Mittag gegessen, und danach bin ich mit einem guten Freund zum Phare du Creac´h spaziert und über die Pointe de Pern wieder zurück. Den Abend habe ich alleine in meinem Haus verbracht. Reicht Ihnen das?“
„Wenn Sie uns noch den Namen Ihres Freundes nennen, dann ist es perfekt.“
„Gerne, vielleicht kennen Sie ihn auch schon. Didier Callac, der Herrscher über die schwarzen Bienen.“
„Haben Sie vielen Dank, Monsieur Marechal.“ Ewen und Paul verabschiedeten sich und verließen das Haus von Marechal.
Als sie im Wagen saßen, fragte Ewen Paul, ob er sich noch an den Namen Callac erinnern konnte.
„Sicher kenne ich den Namen. Der Name ist im Zuge unserer Ermittlungen im Mordfall von Marie Le Goff erwähnt worden. Didier Callac ist doch der Verwalter des kleinen Honigimperiums der verstorbenen Madame Malgorn, die beinahe 70% der Bienenstöcke auf Ouessant besessen hat.“
„Richtig, das ist also der Freund von Marechal. Wir haben bei unseren Ermittlungen damals nicht mit Callac gesprochen. Bei den damaligen Ermittlungen hat er keine Rolle gespielt. Dann sollten wir ihn jetzt aufsuchen. Die Kollegen werden uns sicherlich sagen können, wo Monsieur Callac wohnt.“
„Ist doch irre, auf so einer Insel kennt doch jeder jeden.“
„Wahrscheinlich, ich kann mir allerdings nicht 800 Einwohner merken.“
„Ja, ich wahrscheinlich auch nicht, aber wenn man erst einmal etliche Jahre hier gelebt hat, lernt man schon viele Leute kennen. Auch wenn man nicht persönlich bekannt oder befreundet ist, so weiß man doch, wo der eine oder andere wohnt.“
In der Gendarmerie war Monsieur Callac selbstverständlich bekannt. Schließlich zählte er zu den Honoratioren der Insel. Er war einer der Vorsitzenden der Association Conservatoire de l´Abeille Noir Bretonne. Die Bewohner von Ouessant waren stolz auf ihre schwarzen Bienen. Sie besaß schließlich alle Merkmale, die einen Bretonen auszeichnen. Sie war stärker, robuster und gesünder als die anderen Bienen und lieferte den besten Honig der Welt, sie war einzigartig.
Monsieur Callac wohnte im Stang Ar Glann, knapp 500 Meter von der Gendarmerie entfernt. Ewen entschied, dass sie den Weg zu Fuß zurücklegten. So würde Paul einen besseren Überblick über die Insel gewinnen. Durch seinen Urlaub kannte er selbst die Insel schon ein wenig.
Paul war einverstanden, es machte ihm sogar Spaß über die Insel zu spazieren. Wenn er schon einmal auf Ouessant weilte, dann wollte er auch einen kleinen Eindruck von der Insel bekommen.
Sie gingen an der Kirche vorbei und folgten der Hauptstraße, zum Port du Stiff. Am Friedhof zeigte Ewen ihm das kleine, mitten im Friedhof angelegte Mausoleum, das die kleinen Wachsfiguren beherbergte, die die auf See Verstorbenen repräsentierten und Bestandteil der sogenannten proëlla waren. Nachdem sie den Friedhof der Insel, der rund um die Kirche angelegt war, passiert hatten, waren sie auch schon in Stang Ar Glann. Das Haus von Monsieur Callac unterschied sich nicht von den anderen Häusern des kleinen Weilers. Ewen öffnete das Gartentor und betrat ein Grundstück, das einen gepflegten Eindruck erweckte. An der Tür gab es keine Klingel, sondern nur einen in die Jahre gekommenen Klopfer.
Ewen betätigte ihn und hörte, wie der Schall sich im Haus fortsetzte. Alles blieb ruhig, die beiden Kommissare konnten nichts hören und auch keine Bewegung ausmachen. Erneut betätigte Ewen den Klopfer, diesmal aber deutlich kräftiger. Wieder gab es keine Reaktion im Haus.
„Der wird nicht zuhause sein“, meinte Paul und wollte sich bereits wieder auf den Rückweg machen.
„Lass uns einmal ums Haus gehen“, meinte Ewen und war bereits in Richtung des Gartens unterwegs.
Ewen bog um die Hausecke und sah in den gepflegten Garten. Ungefähr die Hälfte des kleinen Grundstücks, wurde als Gemüsegarten benutzt. Auf der anderen Hälfte des Gartens, stand so etwas wie ein Räucherofen, außerdem ein Gartentisch aus Metall und vier Gartenstühle. Von seinem kurzen Urlaub auf Ouessant wusste Ewen bereits, dass es sich bei dem Ofen sicherlich um die Vorrichtung handelte, mit der die Insulaner ihre Spezialitäten herstellten, indem sie ganz spezielle Grassoden verbrannten. Er hatte seinen Kollegen beim gemeinsamen Abendessen im Hotel davon erzählt.
Auf der Rückseite des Hauses sah Ewen eine weitere Eingangstür. Diese Tür stand offen.
„Seltsam, die Tür ist geöffnet, und niemand reagiert auf unser Klopfen?“
Ewen und Paul näherten sich der Tür.
„Hallo, ist jemand zuhause“, rief Ewen mehrfach und betrat das Haus. Alles blieb ruhig, kein Laut war zu hören. Sie standen in der Küche des Hauses und bewegten sich nur vorsichtig. Ewen sah den aufgeräumten Tisch und die leere, saubere Spüle. Alles war adrett und penibel aufgeräumt. Die Tür zwischen der Küche und dem daneben liegenden Raum stand auch offen. Wieder rief Ewen:
„Hallo, hallo, ist da jemand? Hier ist die police judiciaire.“ Keine Antwort.
Ewen ging auf die Tür zu und sah in den Raum, der unmittelbar hinter der vorderen Eingangstür lag. Ewen blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich dann zu Paul um.
„Ruf sofort Dustin und seine Mannschaft an, wir haben einen zweiten Toten.“