Читать книгу Schnee auf Ouessant - Jean-Pierre Kermanchec - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеDustin hatte den Hubschrauber für neun Uhr bestellt. Er und Ewen waren von den Kollegen der Gendarmerie zum Landeplatz gebracht worden. Ewen besprach mit dem Piloten schon während des Hinfluges den Rückflug. Der sollte drei Stunden später stattfinden.
Mit Nourilly konnten sie nach der Landung nicht sofort sprechen. Er war wie gewöhnlich um halb zehn Uhr in einer Besprechung mit dem Präfekten. Ewen versuchte Nourilly zu sprechen, nachdem er seine Schuhe und noch ein paar Kleinigkeiten aus seiner Wohnung geholt hatte. Er wollte mit ihm klären, wie sie den Hubschrauber nutzen konnten. Sie brauchten ihn bestimmt noch viele Male. Bei jeder neuentdeckten Spur musste Dustin vor Ort sein. Es würde ein Hin und Her werden und die Flugkosten deutlich nach oben treiben. Das Gespräch würde schwierig werden, denn sein Chef pochte beständig auf die Einhaltung eines möglichst niedrigen Kostenlimits.
Ewen betrat das Büro von Nolwenn Meunier, Nourillys Sekretärin. Eine bildschöne Frau, stellte er bei ihrem Anblick jedes Mal erneut fest.
„Bonjour Nolwenn, ist der Chef zu sprechen?“
„Klar, Monsieur le commissaire, er hat keinen Besuch, der Präfekt ist bereits gegangen.“
Ewen klopfte an die Tür und trat ein.
„Bonjour, lieber Kerber, was führt Sie zu mir?“
„Bonjour, Monsieur Nourilly, ich möchte mit Ihnen über den jüngsten Fall auf Ouessant sprechen. Wir werden bei der Aufklärung des Verbrechens häufig den Hubschrauber benötigen. Ich weiß, dass Sie ein strenges Auge auf die Kosten haben, deshalb will ich mich vergewissern, dass der häufige Einsatz mit Ihrer Zustimmung erfolgt.“
„Mein lieber Monsieur Kerber, wir sind doch auf Bitten der Kollegen aus Brest dort. Damit können wir diese Kosten dem Kommissariat von Brest in Rechnung stellen. Das habe ich schon längst geklärt. Setzen Sie den Hubschrauber ein, so oft Sie ihn brauchen.“
Eine seltsame Form von Großzügigkeit, Nourilly interessierten die Kosten scheinbar nur, wenn sie sein Kommissariat betrafen.
„Dann bedanke ich mich bei Ihnen. Das ist auch schon alles.“ Ewen wollte sich bereits zur Tür drehen und das Büro verlassen.
„Monsieur Kerber, wie geht es denn voran? Berichten Sie mir doch noch, bevor Sie wieder verschwinden. Haben wir schon erste Ergebnisse?“
„Nein, Monsieur Nourilly, wir haben doch erst gestern, und das erst am späten Nachmittag, begonnen. Heute Morgen haben wir noch nicht weiter ermitteln können. Wir haben die ersten Fingerabdrücke und ein gefundenes Projektil ins Labor gebracht. Ich habe die Gelegenheit genutzt, um mir noch einige Kleidungsstücke für die kommenden Tage auf der Insel zu holen.“
Ewen wollte die Details zu seinen Lederschuhen auf Ouessant nicht weiter ausführen.
„Ich habe vergessen, dass Sie erst so kurz an dem Fall sind. Also, weiterhin viel Erfolg. Ich wäre natürlich froh, wenn wir den Fall schnell abschließen könnten. Damit würden Sie unser Kommissariat in ein gutes Licht setzen.“
„Wir werden unser Bestes geben, Monsieur Nourilly.“
Ewen verabschiedete sich von seinem Chef und machte sich wieder auf den Weg zum Flughafen.
Dustin wollte die gefundenen Fingerabdrücke und das Projektil sofort unter die Lupe nehmen und nach Übereinstimmungen in der Datenbank suchen. Er fuhr nicht gleich wieder auf die Insel zurück. Damit Ewen nicht ständig die Kollegen auf Ouessant bitten musste, ihn vom Landeplatz des Hubschraubers abzuholen, bat er den Piloten, ihn auf dem kleinen Strand, dem Plage de Corz, abzusetzen. Von dort konnte er die 200 Meter bis zum Hotel zu Fuß zurücklegen. Der Pilot war einverstanden, falls der Strand nicht zu bevölkert war. Von seinem ersten Aufenthalt auf der Insel hatte Ewen in Erinnerung, dass nur wenige Menschen den Strand besuchten. Die Bewohner und Besucher der Insel bevorzugten den kleinen Strand im Norden der Insel, den Plage de Yuzin.
Beim Anflug auf die Insel sah der Pilot, dass es heute tatsächlich kein Problem gab, dort zu landen. Als der Hubschrauber sich absenkte und dem Strand näher kam, erkannten sie zahlreiche Kinder, die der Landung des Hubschraubers zusahen. Die Landung war für sie das Ereignis des Tages. Ewen verabschiedete sich von dem Piloten, der inzwischen informiert war, dass er die Insel in den nächsten Tagen regelmäßig anfliegen musste. Der erneute Start des Hubschraubers beendete das Schauspiel für die Kinder, die dem Piloten eifrig nachwinkten.
Der Pilot sah sich auf dem Rückflug die Insel von oben an und stellte fest, dass es auf der Insel keine Bäume gab, was für den Einsatz eines Hubschraubers vorteilhaft war. Die Verfolgung eines Flüchtigen oder die Überwachung einer Region war hier deutlich einfacher als auf dem Festland, wo es genügte, sich zwischen einige Bäume zu stellen, um von oben nicht mehr gesehen werden zu können. Die Insel, in Form einer Krabbe, war ein herrlicher Anblick von hier oben. Deutlich, war an der wesentlich stärker zerklüfteten Westküste, die vorherrschende Windrichtung zu erkennen. Wie Nadeln stachen die Reste der ehemals mächtigen Granitblöcke in die Höhe. So eine bizarre Küstenlinie gab es in der Bretagne sonst nirgends. Dieser zerklüftete und von Wind und Wetter geformte Küstenabschnitt, in unmittelbarer Nähe zum Leuchtturm Phare du Creac´h, der, gemäß der Farben der bretonischen Flagge, in schwarzen und weißen horizontal verlaufenden Bändern angestrichen war, war ein einmaliger und sehenswerter Anblick.
Während der Hubschrauber sich bereits auf dem Heimflug befand, ging Ewen die wenigen Schritte bis zu seinem Hotel, stellte die mitgebrachte Tasche in sein Zimmer, zog bequeme Schuhe an, die auch für längere Fußmärsche geeignet waren, und machte sich auf den Weg zur Gendarmerie. Er vermutete seinen Kollegen Paul dort.
Paul saß am Tisch neben André Leriche, beide waren über eine Seekarte gebeugt.
„Hallo Ewen, wieder zurück von deinem Heimaturlaub?“ Paul lachte.
„Wir haben vorhin einen Anruf vom service maritime erhalten. Dustin hat bereits am Morgen mit dem Dienst telefoniert und die Leute um einige Auskünfte gebeten. Jetzt hat man uns von dort die Koordinaten einiger Schiffe übermittelt, die sich zu dem Zeitpunkt in unmittelbarer Umgebung von Norets Fischerboot aufgehalten haben. Ich habe gar nicht gewusst, dass so viele Schiffe an Ouessant vorbeifahren. André hat mir gerade gesagt, dass in jedem Jahr an die 60 000 Schiffe die Rail d´Ouessant benutzen. Das sind 165 Schiffe pro Tag. Eine erstaunliche Menge.“
„Ganz schön viel! Das sehe ich genauso, Paul. Was habt ihr inzwischen sonst noch herausgefunden?“
„Nun, wir haben die Koordinaten von sieben größeren Schiffen und von drei kleineren in die Karte eingetragen. Zum Zeitpunkt des Todes von Marc Noret ist ein großes Containerschiff, die Lan Shanghai, von der normalen Route abgewichen und ziemlich genau an der Stelle vorbeigefahren, an der das Boot von Noret gelegen hat. Marc Noret hat den Namen ja noch in sein Logbuch eingetragen, das wir gestern auf dem Boot gefunden haben. Ein zweites, kleineres Boot ist ebenfalls in der Nähe gewesen, das hat aber sein AIS-System ausgeschaltet gehabt. Daher haben wir weder den Namen des Schiffes, noch seinen Zielort erfahren können. Es ist aber auf dem Radar zu erkennen gewesen. Leider werden die Radardaten nicht gespeichert wie bei einem AIS.“
Ewen erinnerte sich plötzlich genau an das Schiff. Bereits am gestrigen Abend hatte er darüber nachgedacht, woher er den Namen des Schiffes kannte. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Die Lan Shanghai war Bestandteil von Ermittlungen gewesen, bei denen es um die Ermordung eines französischen Geheimagenden, in der Umgebung von Pont-Aven, gegangen war. Der Agent war einem Geldfälscherring auf der Spur gewesen. Er war dabei von den Fälschern ermordet worden. In diesem Zusammenhang spielte damals das Schiff eine Rolle und war in die Ermittlungen einbezogen worden. Auf dem Schiff hatten chinesische Behörden einen Container entdeckt, in dem sich große Mengen Falschgeld befunden hatte. Die blaue Faser eines Netzes führte damals nach Concarneau. Jetzt tauchte der Name des Schiffes erneut auf. Welch ein Zufall, sinnierte Ewen.
„Könnt ihr die zurückgelegten Strecken dieses Containerschiffes weiter verfolgen? Ich würde gerne wissen, woher es gekommen und wohin es gefahren ist.“
„Das dürfte kein Problem sein, wir können die Daten direkt per Computer abrufen.“
Nach wenigen Minuten hatte Paul die gewünschte Information gefunden.
„Das Schiff ist aus Shanghai gekommen, mit einem Zwischenstopp in Mumbai, in Indien.“
„Das heißt, seit Mumbai hat das Schiff nicht mehr angelegt?“
„Stimmt, es ist an der Südküste Frankreichs vorbeigefahren und hat dann Kurs auf Brest und später auf Antwerpen genommen. Dort liegt es zurzeit im Hafen und wird gelöscht.“
„Das heißt, es ist durchaus denkbar, dass vom Containerschiff aus etwas ins Meer geworfen worden ist, das das kleinere Boot aufgenommen hat. Der Fischer Noret hat das beobachtet und ist deswegen ermordet worden.“
„Könnte so gewesen sein. Eine erste Arbeitshypothese ist es allemal.“
Paul hatte Ewens Überlegungen ebenfalls angestellt und war zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen.
„Die Frage ist dann, um was es sich gehandelt hat?“ Ewen dachte seine Hypothese weiter.
„Paul, ich kann mir nur vorstellen, dass es sich um Rauschgift gehandelt haben muss. Ich gehe nicht davon aus, dass wir es jetzt wieder mit Falschgeld zu tun haben. Heroin wäre eine Möglichkeit. Man wirft es vor Ouessant ins Meer, natürlich wasserdicht verpackt, fischt es wieder heraus und transportiert es mit einer Yacht auf die Insel. Von Ouessant aus kann man es dann einfach aufs Festland bringen und von dort aus weiter transportieren. Es gibt so gut wie keine Kontrollen zwischen Ouessant und Brest, wie auch zwischen all den anderen kleineren Häfen an der bretonischen Küste.“
„Gut, aber dann kann es doch auch sofort aufs Festland gebracht werden. Warum wird es über Ouessant transportiert?“
„Das ist schon richtig Paul, aber denk mal weiter nach. Wenn eine Yacht vom Kanal aus direkt nach Brest kommt, ist die Wahrscheinlichkeit einer Zollkontrolle erhöht, da sie von England kommen könnte. Nehmen wir aber an, das Boot fährt in Richtung Ouessant und legt später, von Ouessant kommend, hier an, dann sieht es doch so aus, als hätte es sich nur auf einer Vergnügungsfahrt befunden.“
„Du meinst, man hat die Insel als Alibi benutzt?“
„Daran habe ich gedacht. Ob ich damit richtig liege, muss sich noch zeigen.“
Ewen wandte sich an den Kollegen von der Gendarmerie.
„Monsieur Leriche, können Sie uns sagen, wer hier auf Ouessant eine Yacht oder ein Fischerboot besitzt, mit dem man ein solches Unterfangen mühelos durchführen kann?“
„Ich kann das überprüfen lassen, aber ich glaube, dass es hier etliche Yachtbesitzer gibt, die nicht unbedingt alle hier wohnen müssen. In den Sommermonaten haben wir eine zusätzliche Anzahl Yachten hier im Hafen liegen. Auf der Insel selbst leben wohl nur wenige Einwohner, die das Geld für eine größere Yacht besitzen, und Fischer gibt es nur noch sehr wenige. Ich kümmere mich sofort darum.“
André Leriche machte sich auf den Weg ins Ti Ker, dem Rathaus auf Bretonisch. Er hoffte, dass der Bürgermeister ihm die Frage beantworten konnte.
Paul und Ewen blieben in der Gendarmerie zurück. In der kleinen Gendarmerie von Ouessant, die nur im Sommer besetzt war, hatte Ewen eine Pinnwand angebracht, auf die er jetzt die ersten Erkenntnisse notierte, während sie gespannt auf Dustins Ergebnisse warteten.
Sie wussten bis jetzt nicht sehr viel. Sie hatten einen toten Fischer, Marc Noret, sein Fischerboot mit einer durchschossenen Planke, ein Projektil 7,62 mm, das vermutlich aus einem Scharfschützengewehr stammte, diverse Fingerabdrücke, die noch nicht zugeordnet waren, den Hinweis auf ein Containerschiff, das das Gebiet genau zu dem Zeitpunkt, als der Fischer erschossen wurde, durchfahren hatte und jede Menge Vermutungen und Annahmen. Bei der Durchsicht der Protokolle des service maritime, war Ewen nichts Besonderes aufgefallen. Dem Fischer schien nichts gestohlen worden zu sein. Sowohl sein Portemonnaie, mit knapp zwanzig Euro Inhalt, als auch seine Ausweispapiere, Schlüssel und sein Mobiltelefon, waren gefunden worden. Sein Funkgerät war intakt gewesen.
„Paul, wir sollten uns das Haus von Noret ansehen. Die Schlüssel liegen hier bei den Papieren, die der service maritime den Kollegen übergeben hat.“
„Einverstanden, lass uns das Haus aufsuchen. Glaubst du, dass wir dort etwas finden?“
„Keine Ahnung, aber wir müssen einfach irgendwo anfangen. Das Boot wird uns nicht weiterbringen. Ich glaube, dass wir es hier mit echten Profis zu tun haben. Der Mörder von Noret hat gewusst mit einem Gewehr umzugehen. Ich glaube, dass wir davon ausgehen müssen, dass der Mann aus extrem kurzer Distanz geschossen hat. Als die erste Kugel die Planke durchschlagen hat, hat Noret nicht einmal die Zeit gehabt, sich auf den Boden zu werfen. Die zweite Kugel hat ihn sofort ins Herz getroffen. Eine solche Reaktionsschnelligkeit deutet eindeutig auf einen Profi. Wenn ich mich nicht täusche, hat die Armee die 7,62 mm Munition vor einigen Jahren gegen die 5,56 mm Patronen ausgetauscht. Die 7,62 mm Patrone hat einen gewaltigen Rückstoß. Unser Schütze muss das alles gewusst haben. Das spricht eindeutig für einen Profi.“
„Woher besitzt du denn dieses Wissen über Munition?“
„Besitze ich nicht, aber Dustin hat es bereits auf Norets Boot erwähnt, und ich habe mit ihm heute Morgen auf dem Rückflug nach Quimper darüber gesprochen.“
Der junge Gendarm, Jean-Paul Berthelé, hielt sich als einziger noch in der Gendarmerie auf. Leriche war noch nicht wieder zurück, und so wandte sich Ewen mit der Frage, mit welchem Verkehrsmittel sie zum Haus von Noret fahren können, an den Kollegen Berthelé,.
„Nehmen Sie einfach unseren Dienstwagen. Wir haben immer noch unsere Fahrräder. Mancherorts kommt man auf der Insel mit dem Fahrrad sowieso schneller voran.“
Jean-Paul Berthelé reichte Ewen den Autoschlüssel. Die beiden Kommissare machten sich auf den Weg zum Haus von Noret. Sein Haus lag in Pen-ar-Lan.
Direkt hinter dem kleinen Inselflughafen fanden sie das Fischerhaus von Marc Noret. Das Haus war selbst für die Verhältnisse auf Ouessant winzig. Blaue Fensterläden, rahmten die beiden Fenster ein. Die fast schwarze Tür aus massiver Eiche mit schweren, alten Eisenbeschlägen, verlieh dem Eingang den Flair einer alten Burg. Das Dach war mit Reet gedeckt, und im Vorgarten blühten zahlreiche Hortensienbüsche.
Ewen ging zur Haustür und zog den Schlüsselbund aus seiner Jackentasche. Er musste nicht lange nach dem passenden Schlüssel suchen. Der große, leicht verrostete Schlüssel, musste es sein. Ewen steckte ihn ins Schloss. Erst nach einer zweiten Umdrehung öffnete sich die Tür und Paul und Ewen konnten ins Haus treten. Sie standen sofort im Wohn-, Ess- und vermutlich auch Schlafzimmer von Noret. Das ganze Haus schien nur ein einziges Zimmer zu haben. Eine schmale Treppe führte ins Obergeschoss. Links und rechts zierten zwei Kamine den Eingangsbereich, wobei der linke den Eindruck machte, als ob er auch zum Kochen genutzt wurde. Rechts daneben, standen ein Spülstein und ein kleiner Gaskocher auf einem Tisch. Ein Kühlschrank, eindeutig älteren Baujahres und ein kleiner Geschirrschrank, rundeten das, was man üblicherweise als Küche bezeichnete, ab. Ewen blickte nach rechts auf einen größeren Tisch, der umstellt von vier Stühlen, in der Mitte des Raumes stand. Ein Sofa oder einen etwas bequemeren Sessel, suchte er vergebens. Links neben dem Kamin stand ein Schrank mit einer größeren Öffnung in der Mitte und einer hölzernen Verzierung. Ein Vorhang versperrte den Blick ins Innere. Die weiße Wandtäfelung war mit einem blau gestrichenen Holzrahmen eingefasst. Kleine Heiligenbildchen hingen an der Holzvertäfelung auf der Frontseite. Vor dem Schrank stand eine Truhe, die auch als Sitzbank diente.
Ewen trat an den Schrank und schob den Vorhang beiseite. Er war erstaunt, als er dahinter ein säuberlich gemachtes Bett vorfand. Eine Tagesdecke war über die Bettdecke und das Kopfkissen gezogen, einige kleine Zierkissen lagen verstreut auf dem Bett. Dieses Bett, das bestimmt schon mehr als 150 Jahre auf dem Buckel hatte, war ein absolut antiquarisches Stück. Es handelte sich um eines jener Schrankbetten, von denen der Wirt, Tanguy Kerlann, ihnen bei ihrem Urlaub erzählt hatte. Früher fand man sie wohl in beinahe jedem Haus auf der Insel.
Das Haus machte einen sauberen und gepflegten Eindruck, erstaunlich für einen Männerhaushalt. Ewen war klar, dass sie hier nicht viel Zeit für eine sorgfältige Durchsuchung verbringen mussten. Die wenigen Gegenstände, und die klare Übersichtlichkeit, würden ihre Arbeit zu einem Kinderspiel werden lassen.
Paul sah Ewen an, der neben ihm stand und den Raum betrachtete.
„Der Mann ist mit wenig zufrieden gewesen. Kein Fernseher, kein Radio, ich sehe noch nicht einmal eine Tageszeitung.“
„Stimmt, hier hat man den Eindruck, im Mittelalter zu leben.“
„Aber ein Handy hat er besessen, das hat Dustin doch gefunden.“
„Ja, auch sein Boot war bestens ausgestattet. Freizeit kannte der Fischer wohl nicht.“
Während Paul sich den Raum vornahm und sorgfältig die wenigen vorhandenen Schubladen durchforstete, stieg Ewen die Treppe zum Obergeschoss hinauf. Auch hier oben war alles sehr übersichtlich. Der Raum wurde nur durch zwei kleine Fenster an den beiden Giebelseiten des Hauses erhellt. In der Dachschräge waren einige ältere Netze gelagert, sowie alte Positionsleuchten, Taue und weiteres Schiffsmaterial. Drei Stühle, noch älter als die im Wohnraum, standen auf der einen Seite und ein alter Schrank in der Mitte des Raumes. Ewen öffnet den Schrank, und sein Blick fiel auf ein sorgfältig zusammengeschnürtes Paket. Er nahm es aus dem Schrank und stellte fest, dass sein Gewicht recht beachtlich war. Er schätzte es auf mindestens zehn Kilo. Was verbarg sich wohl in dem Paket?
Ewen nahm es mit nach unten. Paul war mit seiner Durchsuchung bereits fertig und wartete schon auf Ewen.
„Was hast du denn gefunden?“, fragte er seinen Kollegen.
„Das kann ich noch nicht sagen, wir müssen es erst auspacken. Es hat oben in einem alten Schrank gelegen. Ich habe fast den Eindruck, dass Noret das Paket dort nur deponiert hat. Sieht aus, als sei es schon vor längerer Zeit dort abgelegt worden. Sieh nur den ganzen Staub.“
Ewen versuchte jetzt vorsichtig die Verschnürung des Paketes zu lösen und das Ölpapier abzunehmen. Die beiden Kommissare staunten, als sie die dicke Schicht Papier entfernt hatten und vor ihnen zehn einzelne Kilopakete Heroin lagen, jedes wieder sorgfältig in Plastikbeutel verpackt. Handschriftliche, arabische Schriftzeichen, deuteten daraufhin, dass derjenige, der das Paket zusammengeschnürt hatte, aus dem vorderen Orient oder aus dem asiatischen Raum stammte.
„Das hätte ich jetzt allerdings hier nicht erwartet“, sagte Ewen und sah Paul fragend an.
„Ich auch nicht. Wie kommt ein Fischer zu zehn Kilo Heroin? Das ist doch ein Vermögen wert, auf dem Schwarzmarkt.“
„Vielleicht hat er es aus dem Meer gefischt?“
„Leider kann uns das Paket nicht erzählen, woher es kommt und welche Reise es bereits hinter sich hat.“
„Wäre auch zu schön, aber vielleicht kann Dustin ihm doch noch einiges an Informationen entlocken.“
Ewen und Paul machten sich auf den Weg zurück ins Kommissariat. Als sie mit ihrem Paket eintrafen, sahen sie in die erstaunten Gesichter von zwei Gendarmen.
„Was haben Sie denn bei Marc Noret gefunden, Monsieur le commissaire?“, fragte André Leriche Ewen, als der sein Fundstück auf den Tisch gelegt hatte.
„Reines Heroin, ganze zehn Kilo.“
„Zehn Kilo Heroin! Das hätte ich dem alten Marc nicht zugetraut.“
„Es stammt wohl auch nicht von ihm. Ich gehe eher davon aus, dass er das Heroin aus dem Meer gefischt hat. Ich lasse die Verpackung und das Heroin sofort von unserem Labor untersuchen. Vielleicht finden sich ja Spuren auf der Verpackung oder auf den einzelnen Päckchen. Jetzt haben wir aber wenigstens einen ersten Hinweis.“
„Ich informiere sofort Dustin und sage ihm Bescheid, dass wir ihm unseren Fund per Hubschrauber schicken.“ Paul griff zu seinem Mobiltelefon und wählte Dustins Nummer.
„Doch nun zu ihren Ermittlungen, Kollege Leriche. Haben Sie etwas über die Yachten und Boote auf Ouessant herausgefunden?“
„Durchaus, wir haben auf der Insel lediglich sieben registrierte Yachten. Sie gehören alle, bis auf zwei, langjährigen Bewohnern der Insel, was nichts zu bedeuten hat. Die einzigen Ausnahmen sind das Boot von Monsieur Marechal, dem Algenzüchter, der sich vor zwei oder drei Jahren hier niedergelassen hat und eine Algenzucht aufbauen will. Zurzeit hat er bereits zehn oder zwölf Leute beschäftigt. Sein Boot, die Princesse de Paris, ist eines der schönsten Boote von Ouessant und wahrscheinlich die größte Privatyacht hier. Die andere Yacht gehört einem Monsieur aus Marseille, den Namen muss ich noch herausfinden.“
„Hmmm, vielleicht sollten wir mit Monsieur Marechal ein Gespräch führen? Haben Sie auch schon überprüft, ob die beiden Yachten an dem Tag unterwegs gewesen sind?“
„Noch nicht, die Überprüfung will ich mit dem AIS machen.“
„Geht aber nur, wenn das System eingeschaltet gewesen ist, soviel habe ich schon gelernt.“
„Stimmt, nur dann können wir etwas darüber erfahren. Hoffen wir es einmal.“
André Leriche machte sich auf den Weg.
„Paul, wir beide sollten uns mit Monsieur Marechal unterhalten. Am besten sofort morgen in der Frühe.“