Читать книгу Das Geheimnis um die Madfield Tochter - Jennifer Lillian - Страница 5
Prolog
ОглавлениеSie saß schon eine Weile draußen und ließ den frischen Frühlingswind durch ihre langen braunen Haare wehen. Dass ihr dabei immer wieder ein paar Strähnen ins Gesicht fielen, störte Maylin nicht. Zu sehr war sie in Gedanken versunken. Wie so oft war sie in ihren geliebten Garten geflüchtet. Sie blickte auf die mit Wildblumen bewachsenen Felder, die sich in bunten Farben vor ihr erstreckten und von dichtem Wald umgeben waren. Hier fühlte sie sich wohl, wenn ihr im Anwesen hinter ihrem Rücken mal wieder die Decke auf den Kopf fiel. Dann genoss sie die Ruhe hier. Auf einem Stein, der anmutig in die Höhe ragte und von der Sonne erwärmt war. Den Kopf auf die Hände gestützt, seufzte Maylin. Heute war wieder einer dieser Tage, an denen ihr Vater ihr besonders zu schaffen machte. Sie liebte ihre Familie, jedenfalls das, was man als Familie bezeichnen konnte. Immerhin gab es ihren Dad, ihren Bruder Nicholas und sie - Maylin. Doch Nick war nicht zu Hause, da er gerade ein Praktikum in einer Anwaltskanzlei in London absolvierte und seine freie Zeit damit verbrachte, auf Partys zu gehen und zu feiern. Hauptsache, er konnte sein Leben weit weg von zu Hause leben. Dafür beneidete Maylin ihren jüngeren Bruder öfter, als sie sich eingestehen wollte. Ihre Mutter hatte sich schon von allem losgesagt, als sie noch ganz klein gewesen war. Und nicht zuletzt wurde ihr bester Freund Glen, der einen großen Teil ihres Herzens einnahm, von ihrem Vater Warren im Hause nicht gerne gesehen. Also musste sie die Launen ihres Vaters allein ertragen, der an stressigen Tagen nicht selten zu cholerischen Anfällen neigte, gepaart mit herablassenden Sprüchen, die mehr Enttäuschung ausdrückten, als sie ertragen konnte.
Als Anwalt war ihr Vater beruflich stark eingespannt und dadurch oft übel gelaunt. Maylin sehnte sich nach einem Familienleben, wie andere es führten. Jedenfalls wie sie es aus dem Fernsehen oder aus Büchern kannte. Waren in diesen wunderbaren Familiengeschichten nicht immer alle glücklich und unbeschwert? Sie konnte nur resigniert seufzen, wenn sie daran dachte, dass sie häufig vom Gefühl überwältigt war, aus diesen Fängen nicht entfliehen zu können. Tagein, tagaus der gleiche Trott. Aufstehen, in die Uni fahren, lernen, lernen und noch mehr lernen, um am Abend ihren Vater doch wieder zu enttäuschen. Ob es mit ihren Leistungen an der Uni zu tun hatte, war an ganz launischen Tagen ihres Vaters egal. Wenn er einen Grund suchte, dann fand er auch einen.
Es war nicht immer alles schlecht, und auch wenn ihr Vater herrisch war, so liebte sie ihn - keine Frage. Doch diese Anspannung, die selbst an unbeschwerten Tagen wie ein dunkler Schatten durch die Wände des Anwesens zog, machte ihr immer mehr zu schaffen. Maylins Leben war nicht so schlimm, wie sie es sich manchmal ausmalte. Sie besuchte eine sehr gute Universität und studierte Jura, um eines Tages in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten und die Kanzlei gemeinsam mit ihrem Bruder zu führen – wenn dieser daraus keine Diskothek machte. Sie lebte in einem traumhaften Anwesen im schönen England. Sie hatte ein paar Freunde und war in allem, was sie tat, recht erfolgreich. Außerdem hatte sie Glen, dessen Freundschaft zu ihr, trotz ihres störrischen Vaters, unerschütterlich war. Oftmals trauerte sie um die verpassten Stunden mit ihm, wenn sie daran dachte, wie viel Zeit die beiden gemeinsam verbringen könnten, wenn er hier willkommen gewesen wäre. Doch immer wieder mussten sie sich außerhalb des Grundstückes treffen, damit sie den missbilligenden Blicken und Bemerkungen ihres Vaters entgehen konnten. Nur wenn Warren geschäftlich unterwegs war, hatten sie viel Zeit füreinander, auch wenn Maylin wusste, dass Glen sich oft unbehaglich in ihrem Zuhause fühlte. Das lag vor allem daran, dass Warren manchmal eine Dienstreise abbrach und völlig unerwartet zu Hause aufschlug. Daher wurden die Treffen meistens in Glens spartanische Wohnung oder an den See ein paar Meilen außerhalb der Stadt verlegt.
Heute hatte Warren seine Tochter besonders auf dem Radar, denn Maylin hatte eine Abgabefrist verpasst und musste somit eine Hausarbeit zum Thema Staatsrecht noch einmal komplett neu schreiben. Neuer Abgabetermin, neues Thema. Für ihren Vater eine wahre Tragödie. Dabei erlaubte sie sich niemals einen Fehler. Sie gab immer alles fristgerecht an die Professoren weiter und schnitt überdurchschnittlich gut in den Klausuren ab. Ein Fehler und ihr Vater machte ihr die Hölle heiß. Sie schwor sich, niemals wieder einen Abgabetermin zu vergessen. Maylin richtete sich etwas auf und atmete tief ein und wieder aus. Noch zwei Mal und dann war alles wieder gut. Das war ihre Art, mit dem Ärger und dem Frust umzugehen. Draußen vor sich hin zu grübeln, ein paarmal tief durchzuatmen und die schlechten Gedanken zu verscheuchen.
„So schlimm ist alles gar nicht“, sagte sie zu sich selbst wie ein Mantra, stand auf und streckte sich. Sie warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die Landschaft, die so friedlich dalag, dass es sie innerlich schmerzte, wieder ins Haus zu gehen. Aber es musste eine Hausarbeit geschrieben und der häusliche Frieden zumindest für eine Weile wiederhergestellt werden. Sie zog ihren blauen Cardigan enger, da der Wind zu dieser Jahreszeit ziemlich frisch war. Ein kleines Abenteuer, dachte Maylin, irgendetwas Erfrischendes, das sie aus dem alltäglichen Trott herausholen würde, wäre ihr jetzt sehr willkommen. Eine kleine Nebensächlichkeit, die den Alltag nicht zwangsläufig auf den Kopf stellen, aber ihm ein bisschen mehr Würze verleihen könnte. Vielleicht musste sie einfach nur empfänglicher für etwas Neues in ihrem Leben sein. Einen festen Freund vielleicht oder eine enge Freundin. Gedankenverloren ging sie den Kiesweg entlang, der zur Hinterseite des Madfield-Anwesens führte. Dass sie ihrem Abenteuer schon näher war als sie dachte, ahnte Maylin in diesem Moment noch nicht.