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Neubeginn mit Hindernissen Bares für Bonn? Die Hauptstadtaffäre 1951

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Schon früh stellte sich eine Gretchenfrage an die junge Demokratie: Wie offen sollte mit Korruptionsvorwürfen umgegangen werden? Allen Beobachtern war bewusst: Korruptionsvorwürfe konnten ein ganzes Staatswesen ins Wanken bringen. Das hatten die Debatten seit Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder gezeigt. Nach dem Ersten Weltkrieg waren viele Diktaturen auch wegen ihres Versprechens akzeptiert worden, die Korruption zu beenden – von Miguel Primo de Rivera in Spanien über Benito Mussolini in Italien bis hin zu Philippe Pétain in Frankreich.1 Dramatisch schnell zerschlug sich die Hoffnung, die Bundesrepublik bliebe von solchen Problemen verschont. Schon im zweiten Jahr ihres Bestehens hatte die Bonner Republik einen handfesten Korruptionsskandal. Parteien und Presse entschieden sich für eine Strategie der behutsamen Aufklärung. Und zwar mit Erfolg.

Was war geschehen?2 Wie so häufig bei Korruptionsfällen lässt sich diese Frage nicht abschließend beantworten. Klar ist nur, welche Vorwürfe im Raum standen. Zur großen Überraschung der meisten Beobachter bestätigte der frisch gewählte Bundestag im Herbst 1949 eine Entscheidung, die der Parlamentarische Rat in der ersten Jahreshälfte gefällt hatte: Sitz von Parlament und Regierung sollte Bonn am Rhein sein. Frankfurt am Main mit seiner Tradition als Sitz des ersten gewählten Parlaments von 1848 und Krönungsstadt der Kaiser des Alten Reiches ging definitiv leer aus. Diese Entscheidung erstaunte viele Zeitgenossen.

Bald schon machten Gerüchte über Manipulationen die Runde, zunächst noch zaghaft. Fast unbemerkt von den Hauptstadtjournalisten entwickelte sich in den Reihen einer kleinen Bundestagsfraktion Anfang 1950 eine hitzige Debatte. Die Rede ist von der Bayernpartei (BP), die mit 17 Mandaten im Bonner Parlament vertreten war. In der BP kämpften zu dieser Zeit zwei Flügel um die Macht. Ihre internen Auseinandersetzungen führten die politischen Bayern auch mit dem Vorwurf der Bestechlichkeit. Im Rahmen eines parteiinternen Schiedsgerichtsverfahrens beschuldigten sich Parteimitglieder gegenseitig, für ihr Abstimmungsverhalten in der Hauptstadtfrage Geld genommen zu haben. Der Parteivorsitzende Josef Baumgartner gab an, mehrere Abgeordnete seiner Fraktion hätten ihm von Bestechungsangeboten berichtet. Urheber sei ein gewisser Anton Donhauser gewesen, seines Zeichens ebenfalls Abgeordneter der Bayernpartei, der das Geld aus dunklen Kanälen erhalten habe. Ein weiteres Mitglied der BP-Fraktion berichtete, über hundert Abgeordnete aller Bundestagsparteien hätten Schmiergeld zwischen 1.000 und 20.000 D-Mark angenommen.

Im parteiinternen Schiedsgerichtsverfahren entstanden Protokolle, die Der Spiegel im September 1950 für seine erste große Skandalberichterstattung nutzte. In der Ausgabe vom 27. September informierte das Nachrichtenmagazin die erstaunte Öffentlichkeit über die Vorwürfe.3 Der Artikel enthielt auch Angaben über die Herkunft der Gelder, die aus Industriefonds stammen sollten. Pikanterweise hatte BP-Mann Donhauser durch Vermittlung von Bundesfinanzminister Fritz Schäffer (CSU) Geld aus einem privaten Fonds für die politische Arbeit von Parteien erhalten.

Der Bericht des Spiegels enthielt alle Zutaten für eine süffige Skandalgeschichte. Zum einen berichtete er über vertrauliche Gespräche, die die BP-Abgeordneten auf ihren wöchentlichen Bahnfahrten zwischen München und Bonn führten. Zum anderen zeigten die Aussagen, wenn sie denn stimmten, dass die neue Volksvertretung durch und durch käuflich war. Entsprechend groß war nun die Resonanz in den Medien und im politischen Bonn. Allerdings blieb die Berichterstattung des Magazins im Ton sehr zurückhaltend. Ganz anders als in der Presse der Zwischenkriegszeit berichtete der Autor ironisch-distanziert von den Vorwürfen. Er sprach aber kein Urteil über die Beteiligten, das Parlament oder gar die Demokratie insgesamt; Moralisierung und Pathos vermied er. Diese Zurückhaltung pflegte Der Spiegel auch in den kommenden Jahrzehnten, wenn es um Korruption ging.

Im Übrigen war Der Spiegel an seine Informationen nicht dank investigativer Spürarbeit gekommen. Tatsächlich war ein Mitarbeiter der BPLandesgeschäftsstelle, der Baumgartner nahestand, aktiv geworden und hatte Schriftstücke aus dem Schiedsgerichtsverfahren durchgestochen. Hintergrund war also auch ein Machtkampf zwischen dem BP-Vorsitzenden Baumgartner und der Gruppe um Donhauser.4

Im Bundestag erkannten alle Parteien die Brisanz der Vorwürfe. Mit den Stimmen und auf Antrag der Bayernpartei richtete das Parlament seinen ersten Untersuchungsausschuss ein. Die Vorwürfe, so der Einsetzungsbeschluss, berührten „Ehre und Stellung des ganzen Bundestages“. Mithin ging es um die Glaubwürdigkeit des gesamten Parlaments. Ende Mai 1951 legte der Ausschuss nach 24 öffentlichen und 13 nichtöffentlichen Sitzungen seinen Abschlussbericht vor.5

Im Endergebnis konnte oder wollte der Ausschuss den Vorwurf des Stimmenkaufs nicht bestätigen, vor allem nicht die fantastischen Summen, von denen teilweise die Rede gewesen war. Jedoch stellte er fest, Abgeordnete hätten Gelder aus industrienahen Quellen erhalten. Insbesondere die Gruppe von Abgeordneten um Donhauser hatte Geld aus einem von dem Lobbyisten August Heinrichsbauer verwalteten Fonds erhalten. Diese Zahlung hatte tatsächlich Finanzminister Schäffer vermittelt, damit die BP-Abgeordneten Außenstände aus vergangenen Wahlkämpfen begleichen konnten. Vermutlich war es dem CSU-Politiker darum gegangen, die innerparteilichen Konflikte in der BP anzuheizen. Auch gaben mehrere BP-Abgeordnete zu, von Lobbyisten der Erdölindustrie Geld angenommen zu haben. Im Gegenzug setzten sie sich für eine niedrige Besteuerung dieses Rohstoffs ein. Von der Firma Elwerath erhielt BP-Mann Hermann Aumer demnach über 21.000 D-Mark.

Die Ausschussarbeit wurde in den Medien mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Dabei herrschte aber wiederum Sachlichkeit vor, teilweise Nachdenklichkeit über das Verhältnis von Geld und Politik. Jedenfalls gab es kein Kesseltreiben gegen die Demokratie oder gegen die neue politische Elite, wozu es reichlich Anlass gegeben hätte. Dies gilt für die deutsche Presse, aber auch für ausländische Beobachter. So wertete die New York Herald Tribune den Skandal gerade nicht als frühen moralischen Bankrott des jungen Staates. Vielmehr interpretierte sie ihn und die parlamentarische Aufarbeitung väterlich als Teil demokratischer Reifungsprozesse, ja geradezu als Beweis, dass Westdeutschland tatsächlich in der Demokratie angekommen sei: „Wenn Bestechung und Korruption, gefolgt von öffentlicher Untersuchung und Strafe, Teil des demokratischen Regierungsprozesses sind, dann ist die westdeutsche Bundesrepublik in diesem Sinne angekommen.“6

Schauen wir nun auf die Plenardebatte im Bundestag nach Abschluss der Ausschussarbeit.7 Sie zeigt wie in einem Brennglas die (gar nicht sehr) unterschiedlichen Positionen der Parteien. Tatsächlich herrschte ein weitgehender Konsens unter den Beteiligten. Zwar zogen die Parteien unterschiedliche politische Forderungen aus den Vorgängen – dazu später. Aber es überwog doch das Bewusstsein, in einem Boot zu sitzen. Den Auftakt zur Debatte machte der Vorsitzende der Bonner BP-Fraktion, Gebhard Seelos. Er setzte in einer Art Grundsatzerklärung den Ton, dem sich die meisten Redner anschließen sollten. Er war geprägt von der Sorge um den Ruf des Landes und der Demokratie. „Unbestechlichkeit und Sauberkeit des politischen und geschäftlichen Lebens“ identifizierte er als traditionelle Kerntugenden des deutschen Volkes. Deshalb seien die Korruptionsvorwürfe auch gefährlich für das Ansehen Deutschlands. Unter Bravorufen aus dem Plenum forderte er, alles, was „unsauber“ sei und die Institutionen der Demokratie herabsetzen könne, „auszumerzen“. Anklänge an die Propagandasprache der Nationalsozialisten sind hier kaum zu verkennen, aber inhaltlich stand Seelos auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Wenn der Eindruck der Mauschelei entstehe, „dann können wir alle nach Hause gehen“, rief Adolf Arndt seinen Parlamentskollegen zu.8 Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion brachte mit diesen dramatischen Worten eine Ansicht zum Ausdruck, die alle Redner teilten. Auch die anderen Redner fürchteten, das Vertrauen der Bevölkerung in die neuen Institutionen könnte gestört werden. Erstaunlicherweise lobten einige Redner wie der Zentrums-Abgeordnete Bernhard Reismann sogar den Spiegel dafür, die Vorwürfe sachlich an die Öffentlichkeit getragen zu haben – so viel Harmonie gab es bei späteren Skandalen kaum noch. Zugleich kritisierten Reismann und mehrere andere Sprecher aber auch jene, die durch Gerüchte ein schlechtes Licht auf den Bundestag geworfen hätten. Damit meinten sie insbesondere die Bestechungsvorwürfe.

Arndt forderte immerhin den Rücktritt Finanzminister Schäffers, denn dieser habe Teile der Bayernpartei mit „konspirativem Geld“ unterstützt. Er schlug einen langen zeitlichen Bogen bis zum französischen Panama-Skandal der 1890er-Jahre. Obwohl man ihm nichts habe nachweisen können, sei Georges Clemenceau damals wegen des möglichen Imageschadens für das Parlament für eine bestimmte Zeit von der Politik zurückgetreten. So lobte Arndt den damaligen Abgeordneten als eine Art historisches Vorbild – nicht ohne erhebliche rhetorische Verrenkungen, denn Clemenceau war den Bundestagsabgeordneten vor allem als unerbittlicher Verhandler des Versailler Vertrags und antideutscher Politiker der Zwischenkriegszeit bekannt. Außerdem hatte Arndt unrecht: Clemenceau gab sein Mandat nicht zurück, sondern wurde abgewählt. Arndt kritisierte ein Verhalten, das später im Flick-Skandal wieder eine gewisse Rolle spielen sollte, nämlich den Anschein der Kumpanei zwischen Regierung und Opposition, zu der ja die BP gehörte. Ein Parlament sei nur glaubwürdig, wenn es echte Gegensätze gebe und diese nicht hinter den Kulissen mit Geld überdeckt würden. Solches Verhalten nähre den Verdacht der Käuflichkeit von Abgeordneten. Der Zentrums-Abgeordnete Reismann interpretierte die Zahlungen dagegen als Versuch, BP-Abgeordnete über kurz oder lang zum Übertritt in die CSU zu bewegen.

Ausschuss und Debatte von 1951 sind auch deshalb interessant, weil hier eine Reihe von Themen angesprochen wurde, die in den folgenden Jahrzehnten regelmäßig auf die Agenda kamen. Das betraf den Umgang von Parteien und Abgeordneten mit Geld, vor allem dann, wenn es aus der Wirtschaft stammte. So forderte die Unionsfraktion ein Verbot zweckgebundener Parteispenden sowie eine Bestrafung von Abgeordnetenbestechung. Andere Redner wünschten sich eine „Ehrenordnung“ für die Mitglieder des Bundestags – Forderungen, die zum Teil erst Jahrzehnte später umgesetzt wurden. Noch einen Schritt weiter ging die SPD, die einen Vorschlag zur Offenlegung der Herkunft sämtlicher Parteispenden vorlegte. Außerdem forderte sie ein Verfahren, mit dem das Bundesverfassungsgericht bestechlichen Abgeordneten das Mandat entziehen könnte, wenn sie ihre Mitgliedschaft im Parlament „gewinnsüchtig mißbraucht“ hätten.9 Während viele Redner die Offenlegungspflicht unterstützten, herrschte doch weitgehende Einigkeit, dass die Parteien ohne Spenden aus der Wirtschaft kaum existieren könnten. Darüber hinaus verlangte die SPD eine Registrierungspflicht von „Interessenvertretern“. Ein solches Vorhaben wird noch in der Gegenwart unter dem Stichwort „Lobbyregister“ diskutiert. In der Tat glaubten die Antragsteller, dass die Offenlegung von Informationen das Vertrauen in die Arbeit des Parlaments fördern würde.

Keines dieser Vorhaben wurde zeitnah umgesetzt. Ehrenordnung und ein freiwilliges Lobbyregister bekam der Bundestag nicht früher als 1972. Abgeordnetenbestechung wurde in Deutschland erst 1994 in engen Grenzen strafbar. Immerhin rang sich der Bundestag dazu durch, vier Abgeordneten der Bayernpartei per Beschluss zu empfehlen, ihr Mandat niederzulegen. Diesen ebenfalls von der SPD eingebrachten Vorschlag begründete Arndt wieder mit dem Argument der Sauberkeit: Das Parlament müsse jene „Gestalten“ loswerden, die „hier nicht hereingehören“. Nicht nur Arndt schwankte in seiner Bewertung: Ging es um strukturelle Probleme oder komme es auf persönliche Integrität und Charakterstärke der Abgeordneten an?

Der Deutsche Bundestag zeigte also einen breiten Konsens in der Bewertung der Vorfälle. Nur ein Redner setzte sich markant davon ab. Das war der Vertreter der KPD, Heinz Renner. Als einziger Redner knüpfte Renner an die allgemein gehaltenen Korruptionsverdächtigungen im Stil der Zwischenkriegszeit an. Er nutzte die Debatte zu einem Generalangriff auf die Bonner Demokratie und namentlich auf die Adenauer-Regierung. Nach Renners Worten war neben der Hauptstadtabstimmung auch die äußerst knappe Wahl Adenauers zum Bundeskanzler gekauft worden. Die Regierung sei also illegitim. Außerdem zielte Renner auf die Nähe der konservativen Parteien zur Wirtschaft. Seit der Weimarer Zeit seien die „bürgerlichen Parteien“ von der Industrie finanziert und Abgeordnete systematisch gekauft werden. Der Untersuchungsausschuss habe sich geweigert, genauer hinzuschauen. Denn „da hätte man die Hintermänner entdecken können, in deren Namen Adenauer wie Hitler Politik gegen das Volk machen“. Tatsächlich war in der Ausschussarbeit ja deutlich geworden, dass es von der Industrie unterhaltene Unterstützungsfonds für Parteien gab. Vereinzelt waren auch die Namen der Interessenvertreter bekannt geworden, die diese Fonds verwalteten – darunter der Kölner Abgeordnete, Bankier und jahrzehntelange Adenauer-Vertraute Robert Pferdmenges.

Die anderen Parteien mochten der Diagnose allgemeiner „Korruptionserscheinungen“ aber nicht folgen und der Sitzungspräsident entzog dem Kommunisten wegen unparlamentarischen Verhaltens das Wort.

Eine weitere, seltene Ausnahme machte die größte Oppositionspartei, die SPD, dann doch noch zwei Jahre später im Bundestagswahlkampf 1953. Der Vorstand der Partei veröffentlichte eine Broschüre unter dem Titel „Unternehmermillionen kaufen politische Macht!“. Darin ging es um die gleichen Themen wie in der Bundestagsdebatte, nämlich um Wahlkampffinanzierung durch Wirtschaftsverbände und um die Hauptstadtaffäre. Nur war der Ton nun ungleich schärfer. Die Autoren waren der Meinung, die Affäre habe „eine Korrumpierung der Demokratie“ durch die Industrie bewiesen. Die Broschüre lag teilweise auf der Argumentationslinie von Renner. Sehr viel Platz wurde nämlich auch Dokumenten über die Unterstützung Hitlers durch die Wirtschaft gegeben – aufgelistet in einem Kapitel unter der Überschrift „Soll sich das Zugrundegehen der Weimarer Republik wiederholen?“. Durch die Blume unterstellten die Autoren, die Wahlen von 1953 könnten die letzten freien Wahlen werden, wenn die von der Industrie unterstützten bürgerlichen Parteien abermals den Sieg davontrügen.10

Doch solche radikalen Töne verstummten bald. Bundestagsabgeordnete aller Parteien und in großer Anzahl würden mit Geld systematisch von der Wirtschaft gesteuert – dieser Verdacht kam erst wieder während der Flick-Affäre auf den Tisch, dann allerdings aus dem Mund der Grünen. Vorerst einigten sich die demokratischen Kräfte des Bundestages sowie die publizierte Öffentlichkeit, die Korruptionsvorwürfe gegen die BP-Abgeordneten zu den Akten zu legen.

Diesem Konsens schloss sich übrigens auch der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein an. Nach der Bundestagsdebatte kommentierte er die Ausschussarbeit ausführlich und lobte sie in einer missglückten Metapher als „reichen Fischzug für die Demokratie“.11 Natürlich konnte Augstein zufrieden sein, denn der Vorgang hatte seinem Magazin symbolisch und materiell sehr geholfen. Der Spiegel fand in der Affäre seine Rolle als politisches Gewissen der Republik. Er hatte ein Thema auf die Agenda gesetzt und der Bundestag musste reagieren. Der Ausschuss hieß in der Öffentlichkeit auch „Spiegel-Ausschuss“. Seine Mitglieder befragten Augstein über die Herkunft der Informationen, doch er gab seine Quellen nicht preis. Damit bewies zumindest dieser Teil der Presse ihre Unabhängigkeit von Regierung und Parteien. Nebenbei stieg die Auflage des Magazins erheblich. Sie lag bei rund 120.000 Exemplaren im Frühjahr 1951; 1948 hatte sie noch bei 60.000 gelegen.12

Augstein machte in seinem Kommentar weitere Bemerkungen, die aus heutiger Sicht überraschen, aber die allgemeine Haltung gegenüber politischer Korruption in den 1950er-Jahren zum Ausdruck bringen. In völligem Gegensatz zu dem, was man auch im Spiegel seit den 1990er-Jahren lesen kann, hielt Augstein den Kampf gegen Korruption und Abgeordnetenbestechung durch Gesetze für zweitrangig; nicht schädlich, aber auch nicht wirklich zielführend. Des Weiteren beklagte er nicht den Einfluss der Wirtschaft auf die Politik, im Gegenteil: Angesichts des geringen wirtschaftspolitischen Sachverstands im Parlament solle die Wirtschaft mehr politischen Einfluss erhalten. Dafür schlug Augstein gar eine Verfassungsreform vor, die den Unternehmen in einem „ständisch gegliederten Wirtschaftssenat“ politische Mitsprache gewähren sollte. Fatal sei dagegen der schlecht kontrollierbare und auf Einzelinteressen abzielende Einfluss von Lobbyisten. Augstein plädierte also für mehr Transparenz. Gleichwohl riet er hellsichtig vom inflationären Gebrauch der Korruptionskeule ab: „Ohne ständige ‚Beziehung‘ – und wo ist da die Grenze zur Korruption? – von der Wirtschaft zur Politik und umgekehrt ist eine moderne Staatsführung gar nicht mehr denkbar.“13 In der gleichen Ausgabe erschien übrigens ein langer Beitrag über Lobbyismus in den USA, so, als wolle man Augsteins Kommentar mit Verweis auf die größte westliche Demokratie untermauern.

Warum wurden politische Korruptionsvorwürfe in der frühen Bundesrepublik so zurückhaltend kommentiert? Ein zentraler Schlüssel war die Sorge um die Demokratie, verbunden mit der Erinnerung an das Ende der Weimarer Republik. Marion Gräfin Dönhoff, eine der prägenden Journalistinnen der Nachkriegszeit, formulierte diesen Zusammenhang genau zwanzig Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. 1933 sei nur möglich geworden, weil man der Bevölkerung nach dem Ende des Kaiserreichs eingeredet habe, das Land versinke in der Korruption. Mit Sorge vermerkte Dönhoff, auch in der Gegenwart gebe es wieder eine Hoffnung auf Diktatoren, die den Staat korruptionsfrei führten. Dies sei eine gefährliche Täuschung, wie die Geschichte zeige. Dabei legte Dönhoff der eigenen Zunft, dem politischen Journalismus, eine Selbstverpflichtung auf. Weil es keine unfehlbaren politischen Systeme gebe, dürften aus Einzelfällen keine Dramen gemacht werden.14

Ähnlich sah es 1959 Bundesinnenminister Gerhard Schröder. In der Weimarer Republik habe eine Stimmung geherrscht, in der so mancher „Skandale aufbauschte und verallgemeinerte und damit nicht der Demokratie, sondern den Feinden der Demokratie in die Hände arbeitete“. Es wäre ein „schwerer Fehler“, in diesem Geist fortzufahren.15 Historiker stimmen der Diagnose Schröders heute zu16 und er war nicht allein. Presse und Parteien der frühen Bundesrepublik hatten in dieser Hinsicht aus Weimar gelernt.

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