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Was bisher geschah: eine sehr kurze Geschichte der Korruption

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Die politische Korruption ist 1949 nicht vom Himmel gefallen. Im Gegenteil, viele meinen, Korruption sei so alt wie die Menschheit selbst, ein Problem jeder Gesellschaft. Das trifft einerseits zu, denn über die Nachteile von Stimmenkauf und selbstsüchtiger Herrschaft haben schon die alten Griechen und Römer nachgedacht. Gleichwohl wäre nichts so falsch, als die Korruption für unwandelbar zu halten. Das belegen ganz einfache Beispiele. Noch im 18. Jahrhundert war es selbstverständlich, dass Menschen ein öffentliches Amt mit dem Ziel kauften, dabei Einnahmen und Gewinne zu erzielen.6

Wie jeder andere Rechtsbegriff, wie jede andere moralische Norm auch, war Korruption immer ein Kind ihrer Zeit. Auch und gerade Korruption ist historisch wandelbar – nur deshalb ist sie im Übrigen auch interessant für ein Geschichtsbuch. Ansonsten gäbe es wenig zu analysieren und zu erzählen.

Die moderne Auffassung von Korruption ist das Ergebnis einer bestimmten Epoche. Entscheidend war die Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit. Diese Trennung ist erstmals in der europäischen Aufklärung gegen Mitte des 18. Jahrhunderts gefordert worden. Ungefähr seit der Französischen Revolution an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert einigten sich Philosophen, Staatsrechtler, Regierende und Staatsbedienstete auf die oben beschriebene Unterscheidung zwischen Privatperson und Amt. Seitdem ist zumindest in der Theorie unbestritten, dass ein Amtsträger, Beamter oder Minister private oder persönliche Interessen im Amt niemals begünstigen darf. Auch die eigene Familie, die eigene Partei, die Einwohner seiner Stadt oder seiner Provinz soll er nicht anders behandeln als alle anderen.

Wer dieses Gebot übertritt, verletzt fundamentale Grundsätze moderner Politik. Hinter diesem Gebot der Gleichbehandlung stehen unterschiedliche Werte moderner Staatlichkeit. Dazu gehört etwa die Idee der Rechtsgleichheit aller Menschen, die Idee des Staates als einer Organisation, die allein den Zwecken des Gemeinwohls dient, die auf abstrakten Regeln beruht und nicht in erster Linie auf Personen mit ihren konkreten Interessen. Versteckt steht dahinter auch der Grundsatz der Volkssouveränität, die staatliches Handeln nur zum Zweck aller erlaubt, nicht zum Zweck Einzelner. Auch wenn viele Monarchien des 19. Jahrhunderts die Volkssouveränität als politisches Prinzip nicht anerkannten: In der Bestimmung des Staatszwecks stimmten sie mit diesen Grundsätzen durchaus überein.

Daraus folgte eine klare Hierarchie von Werten für die Diener des Staates. Selbstverständlich hatten auch diese ein Privatleben, sorgten sich um Familien und Landsleute, taten etwas für alte Weggefährten und woben politische Netzwerke, begünstigten Parteifreunde, führten ein politisches Klientelsystem. Doch, wenn sie dies taten, mussten sie das auf verschwiegene Weise tun. Kein politischer oder staatlicher Amtsträger kann seit etwa 1800 offen damit hausieren gehen, persönliche Vorteile aus einem Amt zu ziehen. Das war noch in der Frühen Neuzeit anders gewesen. Damals gab es zwar auch schon das Gebot an Herrscher und Beamte, dem Gemeinwohl zu dienen. Doch daneben existierten konkurrierende Werte, auf die man sich je nach Gelegenheit berufen konnte. Auf das Gebot der Nächstenliebe konnten sich Amtsträger berufen, wenn sie Verwandte bevorzugten.

Wer seit etwa 1800 in den Verdacht der Begünstigung oder Selbstbereicherung kam, konnte das zwar abstreiten und die Vorwürfe leugnen. Was nicht mehr akzeptiert wurde, waren Begründungen mit anderen Werten. Das zeigte sich glasklar in den entsetzten Reaktionen aller Beobachter auf Helmut Kohls Versuch, sein Verhalten in der Spendenaffäre mit seinem persönlichen Ehrenwort zu verteidigen. Im politischen Amt haben stets die Belange der Öffentlichkeit den Vorrang.

Nun finden Korruptionsdebatten nie im politisch luftleeren Raum statt und sie haben meist keinen moralphilosophischen Charakter. Schon sehr früh in der Geschichte haben Amtsträger und ihre politischen Gegner die Wucht von Korruptionsanschuldigungen erkannt. Das gilt auf zwei Ebenen: Wurden Selbst- oder Fremdbegünstigungen öffentlich und ließen sie sich nicht leugnen, konnte das eine politische Karriere beenden. Je wichtiger die Presse wurde und je stärker Politiker vom öffentlichen Vertrauen abhingen, umso enger dieser Zusammenhang. Jenseits der Karriere von Einzelpersonen stießen Korruptionsdebatten oft in tiefere Regionen des politischen Zusammenlebens vor. Häufig in der europäischen Geschichte waren Debatten über Korruption an fundamentalen Umwälzungen beteiligt, schlicht deswegen, weil politische Systeme ihrer Legitimität verlustig gehen können, wenn der Eindruck entsteht, sie seien auf korruptiven Beziehungen errichtet.

So kam es auch, dass sich durch die politische Geschichte Europas zahlreiche Korruptionsdebatten ziehen. Dabei gab es einige Konjunkturen, die ich in aller Kürze skizzieren möchte. An der Wende vom feudalen Alteuropa zur politischen Moderne gab es neben den Klagen über Unfreiheit und ungerechte Privilegien auch eine Diskussion über Korruption. Die revolutionären und die reformorientierten Kräfte und Bewegungen in der Zeit um 1800 begründeten ihre Forderungen häufig mit dem Vorwurf, bestehende Verhältnisse seien korrupt. Das gilt für die Revolutionäre in Frankreich, für radikale und gemäßigte Reformer in Großbritannien, aber auch für die politisch ihren Herrschern recht nahe stehenden Staatsreformer in vielen deutschen Staaten. Grob gesagt, half der neue Korruptionsbegriff den revolutionären und liberalen Kräften dabei, ihre Vorstellungen von moderner Staatlichkeit durchzusetzen.7

Mit dem Beginn der Industrialisierung und dem Aufstieg des Wirtschaftsbürgertums in der Jahrhundertmitte wandten Kritiker den Korruptionsbegriff erstmals auf das Verhältnis zwischen Regierenden und Politikern einerseits sowie Unternehmern andererseits an. Seit dieser Zeit geißelten Korruptionskritiker Lobbyismus und zu großen Einfluss von Wirtschaftsvertretern, die dank ihres Geldes und geschickt platzierter Geschenke Gehör und Unterstützung bei Amtsträgern fänden. Diese Konstellation sorgt bis auf den heutigen Tag für Verdachtsmomente und für Kritik.8

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts rückten die unübersichtlichen Interessenlagen in Volksvertretungen ins Augenmerk. In einer Zeit, als die moderne Massenpresse entstand und der Medienskandal das Licht der Welt erblickte, geriet das Verhalten von Parlamentariern in den Fokus. Liberale sorgten sich um deren saubere Moral, Linke kritisierten den wachsenden Einfluss von Konzernherren auf die meist nicht sehr reichen Volksvertreter und radikal-rechte Kritiker formierten sich. Letztere nahmen den Parlamentarismus als politische Organisationform unter Beschuss, vor allem mit dem Argument grassierender Selbstbereicherung, ergänzt um antisemitische Verschwörungstheorien.9

Nach den Verheerungen des Ersten Weltkriegs bliesen vor allem rechtsautoritäre Kräfte zum Sturm auf Demokratie und Parlamentarismus in Europa. Reihenweise beendeten Diktatoren und autoritäre Regime in der Zwischenkriegszeit liberale parlamentarische Systeme. Die angebliche Korruption der politischen Eliten und ihrer Institutionen war ein verbreitetes Argument. So geschehen in Spanien, in Italien, in Deutschland und in Frankreich: In all diesen Ländern gelang es den radikalen politischen Rändern, die parlamentarischen Systeme als durch und durch korrupt zu beschreiben. Dies trug nicht wenig zu ihrem Anspruch bei, die Demokratie abzuschaffen. Besonders plastisch war die Selbstinszenierung des spanischen Diktators Miguel Primo de Rivera, der 1923 die Macht an sich riss. Er berief sich auf einen eigentlich liberal gesinnten Korruptionskritiker der Zeit um 1900, der für Spanien einen „eisernen Chirurgen“ gefordert hatte, welcher die Korruption im Land heilen sollte. Als Chirurg nahm Primo de Rivera dann für sich in Anspruch, hart in seinem Land durchzugreifen.10

Korruptionsdebatten trugen wesentlich dazu bei, die Glaubwürdigkeit der liberalen Ordnungen zu unterminieren. Das traf hierzulande auf die Weimarer Republik zu, in der kein Jahr ohne Korruptions- oder Bereicherungsskandal verging. Vor allem die SPD und andere Demokraten waren Opfer dieser Kampagnen. Rechtsnationale und nationalsozialistische Kritiker und Zeitungen machten sich diese Rhetorik zunutze. Ohne Zweifel scheiterte Weimar auch an den Hasstiraden gegen angeblich korrupte Nutznießer des Systems.11 Diese Vorgeschichte zu beachten, ist äußerst hilfreich, will man Nutzen und Gefahren politischer Korruptionsdebatten einordnen.

Generell lässt sich sagen, dass die Korruptionsdebatten sich ab dem späten 19. Jahrhundert verdichteten und im Ton radikaler wurden. Das hat mit den neuen Publikumsmedien zu tun und wohl auch mit der zunehmenden Zuspitzung zwischen Parteien, die sich nach und nach konträren Ideologien verschrieben. Insofern stellte die Korruptionsdebatte ein Symptom unter vielen dar, in welchem zunehmende politische Konfrontation zum Ausdruck kam. Bemerkenswert ist dann der Blick auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: In Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern Europas, ebbte die Debatte schlagartig ab. Wir werden noch sehen, wie vorsichtig, behutsam und zögerlich sich westdeutsche Medien und Politiker mit diesem Thema nach dem Krieg befassten.

Zum Abschluss dieser Vorgeschichte ist noch eine letzte Bemerkung über den Vorwurf der Korruption notwendig. Es war und ist wie dargestellt nicht möglich, Begünstigung, Vorteilsnahme oder gar Bestechlichkeit im Amt aktiv zu rechtfertigen. Das hat zum einen etwas mit dem speziellen Normensystem der politischen Moderne zu tun, in dem das öffentliche Interesse immer über individuelle oder private Belange gestellt wird.

Es gibt daneben einen zweiten Aspekt beim Korruptionsvorwurf, der weit in die Geschichte zurückreicht. Gemeint ist die zutiefst moralische Schlagseite der Korruption. Korruption ist kein analytischer Begriff, sondern sie kommt einem moralischen Urteil gleich. Diese Verbindung reicht mindestens bis ins Hochmittelalter zurück, als Korruption in theologischen Debatten für die Verkommenheit des Menschen stand, für seine seit dem Sündenfall unausrottbare Neigung, Fehler und Verbrechen zu begehen.12

In der politischen Theorie seit der Antike ist Korruption außerdem ein Begriff, der den Niedergang eines politischen Systems als Ganzes beschreibt. Seit der Aufklärung ist ein weiterer Aspekt hinzugekommen, der unser heutiges Verständnis von Korruption immer noch ganz entscheidend prägt. Die Aufklärer erfanden ein neues Verständnis von Zeit und historischer Entwicklung. Erst seit dem späten 18. Jahrhundert gibt es eine Vorstellung davon, dass die Menschheit ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und ihr eigenes Los entscheidend verbessern kann. Das bedeutet im Idealfall: Fortschritt. In dieser Geschichte spielt die Korruption eine eigene Rolle. Korruption steht nämlich seither nicht nur für Unmoral, sondern auch für die Abwesenheit von Fortschritt, für das Alte, Überkommene, Überholte. Bis heute gelten korrupte Systeme als Überbleibsel der Vormoderne, die in der politischen Moderne noch nicht angekommen sind. Dieser Hintergrund ist unbedingt zu beachten, wenn man erklären will, warum sich Politiker und Journalisten der Bonner Republik gegen den Korruptionsverdacht wehrten, und warum es Repräsentanten der Entwicklungspolitik in den 1990er-Jahren gelang, Korruption als das Modernisierungshindernis im globalen Süden darzustellen. Dies erklärt letztlich auch, warum die Diagnose von Korruption in der Berliner Republik die Befürchtung nährte, man lebe in einer Bananenrepublik.

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