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Der Fall Gerstenmaier

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Wer sich in Bonn ein wenig auskennt, dem ist der „Lange Eugen“ ein Begriff: ein markantes Bürohochhaus direkt am Rheinufer. Hier befanden sich bis zum Regierungsumzug Abgeordnetenbüros und Sitzungsräume des Deutschen Bundestages; hier war eine Herzkammer des politischen Bonn. Der Spitzname war nicht anzüglich gemeint – er verewigte den Vornamen jenes kleingewachsenen Politikers, der den von Stararchitekt Egon Eiermann entworfenen Bau veranlasst hatte. Trotz des berühmten Baus ist Eugen Gerstenmaier fast völlig vergessen. Dabei war er einer der prominentesten Politiker in den ersten zwei Jahrzehnten der Republik. Gerstenmaier war CDU-Mitglied der ersten Stunde, saß ab 1949 im Bonner Parlament, war mehrfach als künftiger Minister gehandelt worden. Vor allem stand er ab 1954 an der Spitze des Bundestags. Im Januar 1969 endete innerhalb von zwei Wochen und völlig überraschend seine Karriere. Ironie des Schicksals: Als der Lange Eugen im Februar 1969 eingeweiht wurde, war der „kleine“ Eugen schon nicht mehr im Amt.

Gerstenmaier war über eine Affäre gestolpert, in der ihm Selbstbegünstigung vorgeworfen wurde. Der Begriff „Korruption“ fiel nicht, aber der Vorwurf ähnelte dem, was etwa zehn Jahre früher den Beamten des Beschaffungsamts und des Verteidigungsministeriums vorgeworfen worden war. Nur ging es im Fall Gerstenmaier nicht um einfache Vorteilsnahme. Der Bundestagspräsident hatte angeblich die Gesetzgebung der Republik zu seinen Gunsten beeinflusst.

Den Hintergrund bildete Gerstenmaiers Rolle im Dritten Reich. Der Unionspolitiker hatte alles andere als eine typische Biografie im politischen Bonn der Nachkriegszeit, zumal bei den bürgerlichen Parteien. Gerstenmaier war Teil des Widerstands gewesen. 1937 habilitierte sich der Theologe an der Universität Rostock, wurde aber wegen politischer Unzuverlässigkeit aus dem Berufungskarussell für eine Professur sofort aussortiert. Daraufhin arbeitete er bei der Verwaltung der evangelischen Kirche. Gerstenmaier machte die Bekanntschaft mehrerer Verschwörer des 20. Juli 1944 und wurde als deren Komplize verhaftet. Der Volksgerichtshof verurteilte ihn im Januar 1945 zu sieben Jahren Zuchthaus.107

Nach dem Krieg machte Gerstenmaier sich einen Namen als Integrationsfigur für jene Wähler der Union, die evangelischen Glaubens waren, sowie für die Vertriebenen. Zwar war Gerstenmaier selbst Schwabe, hatte aber nach dem Krieg das Evangelische Hilfswerk aufgebaut, das unter anderem den deutschen Kriegsflüchtlingen unter die Arme griff. Gerstenmaier hielt regelmäßig Grundsatzreden und profilierte sich als Vordenker der Union. Dabei zeigte er sich als erklärter Gegner des Sozialismus. Als Bundestagspräsident bemühte er sich, das parlamentarische Geschehen durch distinguierte Symbolik mit einer gewissen Würde zu versehen. Politisch versuchte er, die Rechte von Parlament und Fraktionen gegenüber der Regierung zu stärken – was Konrad Adenauer nicht immer guthieß. So rückte er machtpolitisch zunehmend aus dem Zentrum.

Mit seinen Reden bediente Gerstenmaier einen wichtigen Teil des kulturkonservativen Klientels der Union. Er forderte in seinen Reden häufig Bürger und Beamte auf, sich selbstlos in den Dienst am Staat zu stellen. Seine Beiträge waren einerseits geprägt von der Tradition der Überhöhung des Staates, andererseits von der Idee eines genügsamen Arbeitsethos’, entsprechend seiner Sozialisation als schwäbischer Pietist. Gerstenmaier hatte sich für die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik eingesetzt, lehnte stets die Anerkennung der DDR ab und erinnerte immer wieder an das Ziel der Wiedervereinigung. Er begründete die Tradition, die Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten nach Westberlin einzuberufen, setzte also in dieser Frage auf eine konfrontative Symbolpolitik.

Schon Anfang der 1960er-Jahre war Gerstenmaiers Vergangenheit Thema öffentlicher Kontroversen. Hermann Ramcke, ein ehemaliger General, warf dem Bundestagspräsidenten vor, weder habe er im Widerstand gewirkt, noch habe er seine akademischen Titel rechtmäßig erworben. Möglicherweise stand dies im Zusammenhang mit einer Kampagne der Ostberliner Staatssicherheit, die schon früh Dossiers über Gerstenmaier anlegte und in Westmedien platzierte. Allerdings endete die Affäre mit dem Sieg Gerstenmaiers in einem Verleumdungsprozess.108

Der Stein des Anstoßes für die Vorwürfe von 1969 war ein anderer Vorgang, der unmittelbar hineinführt in die verdruckste Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der frühen Bundesrepublik. 1965 musste der Bundestag eine Novellierung des Gesetzes zur Entschädigung von NS-Opfern auf den Weg bringen, weil das Verfassungsgericht Teile der bestehenden Regeln verworfen hatte. Bereits ein Jahr zuvor hatte Gerstenmaier über einen Anwalt klären lassen, ob ihm als von den Nazis verhinderter Professor Entschädigungen zustünden, was damals von den zuständigen Behörden verneint wurde. Im Mai 1965 gelangten auf nicht ganz geklärtem Weg Regeln in den Gesetzentwurf, die während der Affäre im Januar 1969 als „Lex Gerstenmaier“ bezeichnet werden sollten.

Der Spiegel behauptete, Gerstenmaier persönlich habe im Innenministerium und bei Bundestagsabgeordneten interveniert. Der Passus regelte die höchst seltene Konstellation aus der gerstenmaierschen Karriere. Wessen akademische Karriere kurz vor oder nach der Habilitation wegen politischer Unbotmäßigkeit gestoppt worden war, solle entschädigungsrechtlich so behandelt werden, als wäre er zum Professor ernannt worden. Das schloss Gehalts- und Pensionsansprüche ein und auch das Recht, den Titel „Professor“ zu führen. Die im Gesetz eigens geregelte Konstellation war allerdings extrem selten. Bis Anfang 1969 gab es nicht mehr als fünf Fälle vergleichbarer Art. Der Grund dafür lag in der Gesinnung der akademischen Welt. Die meisten Hochschullehrer hatten nämlich den Nationalsozialisten sehr offen gegenübergestanden. Die Universitäten ließen sich bereits 1933 weitgehend freiwillig gleichschalten, vertrieben ihre jüdischen Kollegen binnen Wochen. Politisch „Unzuverlässige“ kamen nur sehr selten bis zur Habilitation. Die Regelung wurde ohne öffentliche Aufmerksamkeit im Juli 1965 verabschiedet. Fortan trug Gerstenmaier den Professorentitel. Seine Entschädigung nach neuem Recht belief sich auf rund 250.000 D-Mark, ein Rekord.109

Diesmal informierte der Stern die Öffentlichkeit als Erster über die Vorgänge. Gerstenmaier reagierte schnell, aber in hohem Maß unklug. Fast sämtliche Kommentatoren urteilten, er sei letztlich über seine eigene Torheit gestolpert. Denn der Bundestagspräsident schaltete sofort auf Angriff und wies jede Kritik zurück. Die Bezüge stünden ihm als Opfer des Nationalsozialismus zu. Dabei machte er zwei kardinale Fehler: Zum einen verglich er seine Lage mit derjenigen der politischen Mitläufer in den Universitäten. Die seien Nazis gewesen und Ordinarien geworden. Nach dem Krieg seien sie bald wieder in Amt und Würden gekommen und bezögen dicke Pensionen. Es sei zudem ein Skandal, wie viele ehemalige Nazis im Staat heute das Sagen hätten. Zum anderen verstieg sich einer der obersten Repräsentanten des Staates zu einer Kritik am Rechtsstaat. Dass die Versorgungsämter von ihm Dokumente als Belege für seine abgebrochene Karriere verlangt hatten, verglich er mit Verhandlungen vor dem Volksgerichtshof.110

Das Kuriose an dieser Situation: Ähnliche Kritik am westdeutschen Staat kam zur gleichen Zeit durchaus in Mode. Die sogenannte APO, die außerparlamentarische Opposition der Studenten, kritisierte immer wieder die Kontinuität zwischen dem Dritten Reich und der Bundesrepublik. Ihre Exponenten scheuten sich nicht, Justiz und Verwaltung der Bundesrepublik als faschistisch zu beschreiben. Im Jahr zuvor hatte die Journalistin Beate Klarsfeld in einer spektakulären Aktion darauf angespielt. Am 7. November 1968 bestieg sie die Bühne des CDU-Bundesparteitags in Berlin, ohrfeigte Bundeskanzler Kiesinger und titulierte ihn als „Nazi“ – Kiesinger war ab 1933 Mitglied der NSDAP gewesen. Diese Tat galt bei linksliberalen Medien wie dem Spiegel und bei vielen Angehörigen der jungen Generation als Großtat der Zivilcourage.

Gerstenmaier aber geriet mit seinen Aussagen zwischen alle Stühle. Tatsächlich argwöhnten viele seiner Parteifreunde, er habe mit seiner Kritik Bundeskanzler Kiesinger treffen wollen, weil der ihn auf seiner Kabinettsliste nicht berücksichtigt habe. Als Exponent einer dezidiert antikommunistischen Politik fand Gerstenmaier aber auch auf der linken Seite des politischen Spektrums keine Anerkennung. Vielmehr musste er sich vorhalten lassen, fürstlich abgefunden worden zu sein, während unzählige KZ-Insassen leer ausgegangen seien. Außerdem formulierte etwa Der Spiegel Zweifel an Gerstenmaiers Vergangenheit als Widerständler. Da Gerstenmaier sich uneinsichtig zeigte und das Presseecho eindeutig ausfiel, auch bei den konservativen Blättern, war der Bundestagspräsident schnell isoliert.111

Am 23. Januar 1969 erklärte er seinen Rücktritt. Die Zeit interpretierte sein politisches Ende so: Gerstenmaier sei „für viele Bürger dieses Landes zu einer negativen Symbolfigur geworden: der politische Pharisäer, der andere den strengen Dienst am Staat predigt, selber aber diesen Staat als Dienstleistungsinstitut benutzt, und der, dabei ertappt, sich neuerdings als Verfolgter gebärdet“.112 Dieser Kommentar zeigt aber auch, dass es im Fall Gerstenmaier nicht darum ging, eine generelle Selbstbedienungsmentalität der Politiker zu kritisieren. Es waren individuelle Umstände und Ungeschicklichkeiten, die Gerstenmaier sein Amt kosteten. Das unterscheidet die Debatte sehr deutlich von der Stimmung, die bei den Affären der 1990er-Jahre und später vorherrschte. Seitdem wurden solche Fälle meist als Beispiele für eine angeblich verkommene Politikerelite dargestellt. Diese Stimmung gab es in den späten 1960er-Jahren noch nicht. Und daran änderte selbst die folgenschwerste Korruptionsaffäre der bundesdeutschen Geschichte zunächst wenig.

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