Читать книгу Alles nur gekauft - Jens-Ivo Engels - Страница 6
Einleitung
Оглавление„BRD = Bananenrepublik Deutschland“. Mit diesem Kalauer schloss ein Artikel im Nachrichtenmagazin Der Spiegel Ende 1981.1 Gerade hatte die Flick-Affäre begonnen. Das Hamburger Blatt berichtete erstmals über den Verdacht, Bonner Politiker seien bestechlich gewesen. Westdeutschland als Bananenrepublik, das war 1981 noch recht starker Tobak. Kaum denkbar, dass staatstragende Politiker oder seriöse Journalisten dieses Wort vorher mit dem deutschen Staat in Verbindung brachten. Das sollte sich bald ändern. Sechzehn Jahre später veröffentlichte der Journalist Wolfhart Berg ein ganzes Buch unter diesem Titel.2
Auch heute sind wohl viele im Land spontan geneigt, dem Spiegel in seinem Urteil zu folgen. Was ist eine Bananenrepublik? Gemeint sind schwache Staaten mit einem korrumpierten politischen System, unmodern und vom Schlendrian beherrscht. Berg wusste es 1997 ganz genau: „Ob Sie es glauben oder nicht […] wir stecken alle mittendrin“ – gemeint war die Korruption.3 Tatsächlich debattiert das politische Deutschland ungefähr seit der Wiedervereinigung heftig über grassierende Korruption in Politik und Verwaltung.
Höchste Repräsentanten des Staates sorgten seither für Korruptionsskandale. 2012 musste Bundespräsident Christian Wulff unter dem Verdacht der Vorteilsnahme sein Amt aufgeben. Helmut Kohl wurde nur ein Jahr nach seiner Abwahl als Bundeskanzler Ende 1999 von einer unappetitlichen Affäre um illegale Parteispenden und den Verdacht der Käuflichkeit eingeholt. Zu Beginn der 1990er-Jahre traten kurz nacheinander Lothar Späth und Max Streibl als Ministerpräsidenten wegen ähnlicher Vorwürfe zurück. Die zweithöchste Repräsentantin des Staates, Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, überstand etwa zur selben Zeit nur knapp zwei Affären, in denen es um angebliche Vorteilsnahme bei Dienstwagen und Flügen mit Regierungsmaschinen ging.
Diese chronique scandaleuse ist keinesfalls vollständig. Und dennoch: Die Bundesrepublik ist selbstverständlich keine Bananenrepublik. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass die Institutionen des Staates funktionierten. Der unmittelbare Anlass für Wulffs Rücktritt war nämlich der Beginn von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. Die Union musste nach Kohls öffentlichen Teilgeständnissen hohe Summen an den Staat zurückzahlen. Rita Süssmuth konnte sich nur deshalb im Amt halten, weil es peinlich genaue Abrechnungen über jede Dienstwagenfahrt gab. Bei präziser Betrachtung zeigen sich schnell die Unterschiede zwischen deutscher Staatlichkeit und solchen Ländern, in denen ohne Bestechung nichts passiert. Das Bananenwort trägt nicht weit bei der Analyse. Aber es ist charakteristisch für eine politische Kultur, die zu Übertreibungen neigt.
Und der genaue Blick erlaubt eine zweite Erkenntnis: Es wurde keineswegs immer schlimmer in der Geschichte der Republik. Die wirklich gravierenden Fälle politischer Korruption liegen weit zurück. Zwei staatspolitische Entscheidungen mit großer Tragweite sind durch Stimmenkauf im Bundestag beeinflusst worden: die Bestätigung der Stadt Bonn als Regierungssitz anstelle von Frankfurt am Main im Jahr 1949 und die gescheiterte Abwahl von Bundeskanzler Willy Brandt durch ein konstruktives Misstrauensvotum im Jahr 1972. In beiden Fällen gaben korrupte Abgeordnete den Ausschlag. Aber von einem grassierenden Korruptionsproblem war damals nicht die Rede.
Woher kam diese Duldsamkeit in der frühen Bundesrepublik? Wie kam es später zur bis heute anhaltenden Unnachgiebigkeit im öffentlichen Urteil? Wer versucht, diese Fragen zu beantworten, kann viel erfahren über das Selbstverständnis deutscher Politik und deutscher Öffentlichkeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, über die Ideen von Moral und Unmoral, die Grenzen des politisch Erlaubten, über sich wandelnde Werte, über Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik, zwischen Politikern und Bevölkerung, über die Mechanismen von Skandalisierung.
Dabei kommen ganz unerwartete Zusammenhänge zutage. Die anfängliche Zurückhaltung hatte viel mit großer Behutsamkeit im Umgang mit der jungen Pflanze Demokratie zu tun; sie resultierte aber auch aus einer heute eher fragwürdigen Auffassung vom Nationalsozialismus, der sich vor allem wegen Korruption desavouiert habe. Die spätere Unnachgiebigkeit war sicher ein Resultat wachsender Kritikfreudigkeit der Medien. Aber es kam eine weitere Ursache hinzu. Denn Korruptionsbekämpfung avancierte ab 1990 weltweit zu einem Leitmotiv postideologischer Politik. Bis heute gibt es in der internationalen Entwicklungshilfe kaum Kritik an der simplen Formel „Korruptionsbekämpfung plus Transparenz gleich Wohlstand und Demokratisierung“. Ausgerechnet marktliberale Kräfte, die wirtschaftliche Globalisierung und außenpolitische Interessen der USA sorgten mit dafür, dass Korruption wie aus dem Nichts als ein zentrales Menschheitsproblem erschien. Kritik an korrupten Beamten war bald ein Grundton, der das Vertrauen in die öffentliche Verwaltung untergrub. Da erschienen Privatisierungen, Deregulierung, der Rückbau des Staates und letztlich auch Sozialabbau zwingend.
Korruptionsbekämpfung war etwa bis zur Wiedervereinigung in Deutschland ein nachrangiges Thema. Mit dem Flick-Parteispendenskandal in den 1980er-Jahren änderte sich das. Ein eigenständiges Politikfeld wurde die Korruptionsbekämpfung aber erst nach der Wiedervereinigung, mit Gesetzesänderungen, Fachexperten, mit einer Reihe von Organisationen, die sich für den Kampf gegen Bestechung einsetzen. Die weltweit wichtigste dieser Organisationen hat deutsche Wurzeln: Transparency International wurde von einem Deutschen nach deutschem Recht gegründet und hat ihren Sitz in Berlin.
An der Diskussion lässt sich auch die rasante Erosion von Vertrauen in die Eliten des Landes nachvollziehen. Binnen weniger Jahre wurde der Ton in der Debatte nachgerade schrill. Die Geschichte der Korruptionsdebatte ist auch eine Vorgeschichte heutiger Parteien- und Politikerverachtung. Sie war eng verbunden mit dem Einzug der Moral als Kategorie politischer Analyse. Die Geschichte der Korruption kann übrigens seit den 1990er-Jahren kaum ohne die Geschichte der Transparenz geschrieben werden – Transparenz als lichtdurchwirkte Metapher und als Formel für eine bessere, unkorrumpierte Gesellschaft. Selten konnten ihre Versprechungen eingelöst werden, selbst wenn sich Politiker als „gläserne Abgeordnete“ in Szene setzen. Es gehört zu den Stärken der demokratischen politischen Systeme, dass sie über kritische Medien als Korrektiv verfügen. Was aber, wenn diese Kritik das Vertrauen in ihre politischen Institutionen und am Ende in die Grundlagen ihrer Legitimität untergräbt? Die heutige Krise der Demokratie hat viele Ursachen. Einige Details dazu kann die Geschichte der Korruptionsdebatten beisteuern.
Dieses Buch ist keine Geschichte „der Korruption“ seit 1945. Stimmenkauf, Bestechung, Verfilzung, Patronage, Mikropolitik, Hinterzimmergespräche und die verschwiegenen Praktiken der Macht sind nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Jedenfalls sind sie es nicht direkt: Es wird um Debatten und Skandale gehen, die sich mit diesen Phänomenen beschäftigten. Deshalb werde ich auch kein Urteil darüber sprechen, ob und in welchem Maß die Politik der Bundesrepublik tatsächlich korrupt war oder ist. Eine solche Frage ließe sich schon deshalb nicht beantworten, weil Korruption als historische Analysekategorie nicht taugt. Denn, wer Korruption sagt, der urteilt moralisch. Außerdem lässt sich Korruption nicht beziffern. Zu- oder Abnahme von Mauscheleien, Verflechtungen und politischer Patronage kann wohl impressionistisch beschrieben, nicht aber exakt gemessen werden.
Aussagekräftig für eine politische Kultur sind die Debatten über Korruption. Wer sagte wann was über politische Korruption? Dies ist die Leitfrage dieses Buches, ergänzt um die Frage: Warum, mit welchen Vorstellungen oder welchen Interessen tat er das? Die zweite Frage lässt sich zwar nicht immer beantworten, aber es gibt oft Hinweise und sie erweitert die Perspektive. Denn in der öffentlichen Debatte sind die Kritiker und Bekämpfer der Korruption oft seltsam unsichtbar. Sie setzen sich ja für eine gute Sache ein, so dass ihre Motive nicht ins Gewicht fallen. Dies ist verständlich in einer aktuellen politischen Debatte. In der Hitze des Gefechts ist es weder möglich noch sinnvoll, eine neutrale Position einzunehmen. Die Aufgabe von Historikern besteht aber darin, einen Schritt zurückzutreten und das scheinbar Selbstverständliche zu befragen. Warum kritisiert man überhaupt Korruption? Warum war das Interesse daran lange gering? Was könnten unbeabsichtigte Nebenfolgen dieser Kritik sein? Welche Dynamiken der Kritik gab es, welche Folgen hatte sie, wie beeinflusste sie die politische Kultur und das Selbstbild der Republik? Interessant sind aber auch etwas detailliertere Fragen wie die, warum es keine genuin linke Korruptionskritik gab oder wie linksliberale autoritätskritische und marktliberale Korruptionskritiker zusammenkamen.
Zeitlicher Dreh- und Angelpunkt dieses Buches sind die Jahre nach der Wiedervereinigung. Für die enorme Konjunktur der Korruptionsdebatte spielten globale wie auch innerdeutsche Faktoren eine Rolle. Zwar gab es Vorboten dieses Wandels wie vor allem die Flick-Spendenaffäre und erste vorsichtige Debatten über Transparenz in den 1970er- und 1980er-Jahren. Beherrschend ist dennoch der große Kontrast im Umgang mit politischer Korruption zwischen der Bonner und der Berliner Republik. Freilich wäre der Eindruck verfehlt, es habe vor 1980 keinerlei Korruptionskritik gegeben.
Der erste Teil des Buches behandelt die Korruptionsdebatten in der frühen Republik. Dabei wird klar, dass es kritische Berichterstattung, Skandale und Affären auch zu dieser Zeit schon gab. Entgegen einer verbreiteten Auffassung über die autoritätshörige Adenauerzeit ist selbst der erste Kanzler der Republik nicht von korruptionskritischen Debatten verschont geblieben. Aber die Kritik war pragmatisch, richtete sich gegen Einzelpersonen und selten gegen das politische System. Charakteristisch für die frühen Jahrzehnte der Bundesrepublik ist, dass es keine zusammenhängende Debatte und kein Politikfeld Korruptionsbekämpfung gab. Deshalb orientiert sich auch meine Darstellung an der Chronologie der Affären und Debatten, die meist auf die Anlässe begrenzt blieben. Es galt ein überparteilicher Konsens, deutsche Politiker und die deutsche Verwaltung seien nicht korrupt. Die Stimmung änderte sich durch die Flick-Affäre ab 1981. Nun rückte die Macht der Parteien und ihre Verbindungen zur Wirtschaft in den Blick. Zweifel an der Rechtschaffenheit vieler Politiker fanden nicht nur in der Presse, sondern auch im Bundestag ein Forum. Das politische System der Republik erschien in düsterem Licht.
Nationale Geschichten sind in Zeiten der Globalisierung kaum noch isoliert zu schreiben. Das gilt für die deutsche Geschichte in besonderer Weise, führte doch der weltweite Zusammenbruch des Staatssozialismus sowjetischer Prägung unmittelbar zur Wiedervereinigung. Auch die Korruptionsgeschichte ist ohne den Hintergrund weltweiter Deutungen und internationaler Entwicklungspolitik nicht verständlich. Deshalb ist der zweite Abschnitt des Buches dem global geführten Kampf gegen die Korruption gewidmet. Zunächst erläutere ich die Ideengeschichte der Korruptionsbekämpfung im Kontext des Neoliberalismus, damit verbundener Entwicklungstheorien und Vorgaben für staatliche Entwicklung. Es folgt eine erste Annäherung an das gefeierte Lösungsmodell gegen Korruption: die Transparenz. Schließlich werde ich die wichtigsten politischen Entwicklungen und Akteure der internationalen Antikorruptionspolitik vorstellen und insbesondere die Rolle von Transparency International beleuchten, bevor einige politische Folgen der Antikorruptionspolitik in Ländern des globalen Südens zur Sprache kommen.
Der dritte Abschnitt widmet sich schließlich den zwei ersten Jahrzehnten der Berliner Republik, von der Wiedervereinigung bis zum Rücktritt Christian Wulffs 2012. Der Abschnitt beginnt mit der Wende- und Nachwendezeit, in der Korruption eine erstaunlich geringe Rolle spielte. Anschließend erläutere ich die Entfaltung des neuen Politikfelds Korruptionsbekämpfung, begleitet von einer anschwellenden Medienberichterstattung und Literatur. Transparenz der Politik spielte auch in der Bundesrepublik eine wichtige Rolle – einige Forderungen in diesem Zusammenhang reichen bis in die frühen 1970er-Jahre zurück. Debatten über Einkünfte und Loyalitäten von Abgeordneten, aber auch ihre eigenen Bemühungen um mehr Transparenz bilden Anlass, auf die Widersprüche und Grenzen des Transparenzversprechens nachzudenken. Am Ende steht eine chronologische Darstellung mit den wichtigsten Korruptionsskandalen im wiedervereinigten Deutschland, die neben Politikern in zwei Fällen auch Großunternehmen betrafen: Volkswagen und Siemens.