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Nach dem Nationalsozialismus: Demokratie als korruptionsfreie Alternative
ОглавлениеDer vorsichtige Umgang mit der Hauptstadtaffäre war überraschend, jedenfalls wenn man die Weimarer Zeit zum Maßstab nimmt. Die Gründe dafür sind andeutungsweise klar geworden: Man versuchte unter allen Umständen, eine Hexenjagd auf die Demokratie zu vermeiden. Das war keine spontane Entscheidung der Handelnden, sondern beruhte auf einer längeren Auseinandersetzung mit Korruption seit dem Ende des Nationalsozialismus. Darum soll es im Folgenden gehen.
Zunächst einmal muss betont werden: Korruption war kein beherrschendes Thema in den Nachkriegsjahren. Neben den großen Fragen wie Wiederaufbau, Integration der Flüchtlinge, Westbindung, Wiederbewaffnung und staatliche Souveränität waren die Diskussionen über Bestechung und Käuflichkeit randständig. Beiträge dazu finden sich eher versteckt in einzelnen Presseberichten oder Publikationen. Im Nachrichtenmagazin Der Spiegel findet man nur rund 25 Beiträge zur Korruption zwischen 1947 und 1957, die den Begriff im Titel tragen. Dabei bezog sich die Mehrheit dieser Berichte auf das Ausland. Trotz des Skandalisierungspotenzials der Hauptstadtaffäre war Korruption auch in den Debatten des Bundestages wenig präsent. Dies muss man im Auge behalten, wenn auf den folgenden Seiten nun doch ausführlich von Korruptionsdebatten in der Nachkriegszeit die Rede ist.
Irrelevant war das Thema aber keineswegs. Denn, wenn Korruption besprochen wurde, dann meist als Teil der politischen Selbstfindung Westdeutschlands. Es ging um eine Auseinandersetzung mit dem untergegangenen Naziregime und um das Wesen der neuen Demokratie. Angesichts der vergangenen Verbrechen und der moralischen Zerrüttung, angesichts des verlorenen Kriegs und der völlig neuen staatlichen Ordnung in einem geteilten Land lautete eine wichtige Formel der bundesrepublikanischen Selbstvergewisserung: „Der neue Staat ist nicht korrupt“. Zumindest wünschten sich das seine Befürworter so.
Die Grundlage für diese Position lag in der Vergangenheitsbewältigung der Nachkriegszeit. Eine verbreitete Strategie bestand darin, den Nationalsozialisten vor allem Korruption vorzuwerfen. Die Untaten der Nazis, das waren zunächst weniger Judenmord, Holocaust, Euthanasie, Verfolgung und Kriegsverbrechen, sondern vielmehr Korruption, Käuflichkeit und Bereicherung der Nazibonzen. Zwei Umstände nährten diese Erzählung: Sie erleichterte es, den nationalsozialistischen Staat als eine Art Fremdherrschaft zu beschreiben und dabei auszublenden, wie hoch die Zustimmung der Bevölkerung bis weit in den Krieg in Wahrheit gewesen war. Zum Zweiten wollten sich die Deutschen selbst als Opfer des Krieges verstehen – und so waren die Leiden der wirklichen Opfergruppen ein unpopuläres Thema.
Aufschluss über die Erzählung vom korrupten Nationalsozialismus gibt ein Bericht des Autors Walther von Hollander über Hörerpost an den Westdeutschen Rundfunk. Hollander analysierte nach eigenen Angaben im Jahr 1949 rund achttausend Hörerbriefe an die politische Redaktion, um die Stimmung gegenüber der jungen Demokratie einzuschätzen. Hollander stellte mit Bedauern fest, wie groß das Misstrauen gegenüber den neuen Institutionen war. Er schloss seinen Text mit der Bemerkung, es sei ein riesiges Versäumnis der Demokraten, „die sagenhafte Korruption, die gigantische Verschwendungssucht der Nazis“ nicht ausreichend zu geißeln: „Das hätte – leider muß man es sagen – mehr gewirkt als alle KZ-Enthüllungen“, um der Bevölkerung die moralische Überlegenheit der Demokratie zu verdeutlichen.17 Tatsächlich war die Formel vom korrupten Nationalsozialismus ja nicht ganz neu. Schon in den Jahren unter brauner Herrschaft gab es bei aller Zustimmung in der Bevölkerung durchaus Unmut über das Gebaren führender Nationalsozialisten. Zorn auf das Regime äußerte sich schon damals eher weniger wegen der Verbrechen als in Form von Kritik an Bonzen und Käuflichkeit der Mächtigen.18
Die populäre Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Korruption beherrschte die Öffentlichkeit in der frühen Bundesrepublik. Sie äußerte sich gelegentlich in Bewertungen, die aus heutiger Sicht sehr zweifelhaft sind. Das „richtige Leben“ im „falschen“ Leben des Dritten Reiches konnte sogar ein SS-Angehöriger geführt haben, wenn er sich nur konsequent gegen Korruption eingesetzt hatte, so geschehen im Fall des ehemaligen SS-Richters Konrad Morgen. Morgen war im Dritten Reich für Korruptionsverfahren zuständig gewesen, unter anderem gegen die Wachmannschaften im KZ Auschwitz. Auch Morgen musste sich nach dem Krieg einem Entnazifizierungsverfahren unterziehen. Dabei inszenierte er sich und seine Urteile als Sand im Getriebe des Regimes, ja manche Beobachter stuften ihn gar als Widerstandskämpfer ein. Morgen hatte harte Urteile gegen SS-Angehörige gesprochen, allerdings nicht in erster Linie wegen der Ermordung von Lagerinsassen, die hier kaum zur Sprache kamen, sondern wegen Bereicherung, Ausplünderung von Häftlingen und unangemessener Brutalität. Was man heute als Beitrag zur Optimierung der Schoah bewerten würde, galt in der Nachkriegsöffentlichkeit und sogar im Spruchkammerverfahren gegen Morgen als moralische Heldentat. Denn der standhafte Richter habe sich doch geweigert, vor mächtigen Nazis zu buckeln, und habe für die Sauberkeit der Wachmannschaften gekämpft. So hatte Morgen dann auch Erfolg und wurde von der Spruchkammer entlastet.19
Diese Darstellung funktionierte, weil der Nationalsozialismus zu dieser Zeit stark individualisiert betrachtet wurde, insbesondere die Schuldfrage. Die anonymen Strukturen der Vernichtungsexzesse fanden kaum Aufmerksamkeit. Ähnliches galt für den politischen Aufstieg der NSDAP. Strukturelle Gründe wusste man noch nicht zu benennen, vielmehr galten Person und Manipulationskünste Hitlers als wichtigste Erklärung. So interpretierten nicht wenige den Erfolg Hitlers als Ergebnis seiner korruptiven Machenschaften. Er habe dauerhafte Macht über Beamte und Minister nur gewinnen können, weil er sie korrumpierte.20 Vor diesem Hintergrund ist die Bewertung von SS-Richter Morgen verständlicher. Allerdings wissen wir heute, dass die deutschen Eliten Hitler nicht unterstützten, weil der sie kaufte. Offenbar waren Ehrgeiz und die Bereitschaft, die Anordnungen jeder Obrigkeit umzusetzen, viel wichtiger. Häufig wurden Beamte aus eigenem Antrieb aktiv, denn viele stimmten im Grundsatz mit den Zielen des Nationalsozialismus überein. Viele waren bereit, „dem Führer“ „entgegenzuarbeiten“. Sie entwickelten also im vorauseilenden Gehorsam Aktionen, von denen man glaubte, sie seien vom Regime erwünscht.21
Dennoch sahen sich die meisten Deutschen als Opfer. Schon die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse waren in Westdeutschland alles andere als populär gewesen. Noch viel kritischer sahen die meisten Deutschen die sogenannten Entnazifizierungsverfahren. Mit diesen Untersuchungen versuchten zunächst die Besatzungsmächte, später dann eigene westdeutsche Behörden, die weniger bekannten Verantwortlichen der Diktatur zur Rechenschaft zu ziehen. In den sogenannten Spruchkammerverfahren wurde versucht, die individuelle Beteiligung der Deutschen festzustellen. Im Prinzip hatten sich alle Erwachsenen vor diesen Sondergerichten zu verantworten. Sie wurden in fünf Kategorien eingeteilt: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete. Die fast flächendeckende Durchführung der Spruchkammerverfahren trug zum Selbstverständnis der Nachkriegsdeutschen als Opfer bei: zunächst Opfer des Hitlerregimes, anschließend Opfer von Krieg und Bombenangriffen der Alliierten und schließlich Opfer von Gesinnungsprüfungen, die zwar von deutschen Einrichtungen, aber im Auftrag der Siegermächte erfolgten. Da kann es kaum überraschen, dass Bereicherung und Manipulation in den Spruchkammerverfahren besondere Aufmerksamkeit erhielten. Sie schienen die Verlogenheit dieser Verfahren zu bestätigen.
So berichtete Der Spiegel 1950 über einen Gerichtsprozess im Umfeld des Sonderbeauftragten für Entnazifizierung in Nordrhein-Westfalen, Robert Saalwächter.22 Zwar stand er selbst nicht vor Gericht, letztlich aber ging es um seine Amts- und Lebensführung. Die Haushälterin der Familie sowie eine Freundin des Ehepaars Saalwächter hatten ehemaligen Nationalsozialisten angeboten, gegen Geld für eine günstige Beurteilung im Entnazifizierungsverfahren zu sorgen. Dazu muss man wissen, dass geschönte Beurteilungen weitverbreitet waren. Die meisten „Persilscheine“ wurden allerdings aus Gefälligkeit und empfundener Opfersolidarität gegeben, nicht aber gegen Geld. Verdeckten Ermittlern der Polizei gegenüber verlangten die beiden Preise zwischen 1.000 und 2.000 Mark. Auch die Ehefrau Saalwächters hatte wohl derartige Angebote gemacht, ohne dass man ihr das nachweisen konnte. Der Spiegel legte in seinem Bericht großen Wert darauf, den unmoralisch opulenten Lebensstil der Saalwächters herauszustellen. So berichteten Nachbarn von übermäßigem Konsum, von nächtlichen Partys mit leichtbekleideten Damen. Saalwächters Ehefrau sei medikamentenabhängig und habe regelmäßig Rezepte für Morphium gefälscht. Gezeichnet wurde hier also ein Bild moralischer Verkommenheit und gesundheitlichen Verfalls, eine Art Gegenentwurf zum bürgerlichen Leben, der unweigerlich in die Kriminalität führe. Interessanterweise enthielt sich der Bericht jeglichen politischen Kommentars. Über die ironische Titelzeile „Entnazifizierung. Mehr ist besser“ machte er aber klar, dass man die Angelegenheit nicht allein als ein Problem der Familie Saalwächter ansah. Es konnte jedenfalls beim Leser der Eindruck entstehen, das gesamte System der Entnazifizierung vollziehe sich in einer moralisch bedenklichen Grauzone – und dieses Urteil haben wohl viele Zeitgenossen geteilt.
Noch 1950 berichtete die Wochenzeitung Die Zeit über den Abschluss einer „Denazifizierungskomödie“. Hier hatte der Inhaber einer Art Vermittlungsbüro den Hauptankläger einer Entnazifizierungskammer systematisch bestochen, damit seine Klienten ein mildes Urteil erhielten.23 Auch in kriminologischen Fachbüchern zur Korruption aus den 1950er-Jahren finden sich regelmäßig Berichte über Bestechungen im Zuge der Entnazifizierung.24 Letztlich bestätigten solche Darstellungen den Vorwurf, dass die Kriterien für Entnazifizierungen unklar waren und nicht selten die Falschen Entlastung erhielten. Ohne es ganz explizit zu machen, war Korruptionskritik eine Kritik an mangelnder Transparenz und Glaubwürdigkeit bei der Entnazifizierung.
In der ersten Hälfte der 1950er-Jahre beendeten Bund und Länder mit unterschiedlichen Gesetzen faktisch die Entnazifizierung, und zwar in der Regel mit Zustimmung aus fast allen Fraktionen und Parteien. Viele belastete ehemalige Nazis wurden aus der Haft entlassen und wurden wieder in die Gesellschaft integriert.25 Damit verebbten auch die einschlägigen Korruptionsdebatten.
Skepsis gegenüber der neuen politischen Ordnung war weitverbreitet. Vielen Westdeutschen ging es dabei nicht nur um die Frage nach Demokratie oder Diktatur. Im Augenmerk standen auch die Basisfunktionen der Verwaltung. Die „Gefährdung der Staatsautorität durch Korruption und Mißwirtschaft“ hatte schon im Herbst 1947 den Landtag von Nordrhein-Westfalen dazu veranlasst, einen Staatskommissar zur Bekämpfung von Korruption zu berufen. Am 2. Oktober beschloss das Landesparlament die Einrichtung der Stelle und am 20. Oktober bestellte es Werner Jacobi zum Antikorruptionskommissar, SPD-Abgeordneter und Oberbürgermeister von Iserlohn. Hintergrund für diese Maßnahme war wohl der Eindruck bei vielen Menschen, die staatliche Ordnung sei nach dem Kriegsende völlig zusammengebrochen. Und so ging es den Abgeordneten vor allem darum, Vertrauen in staatliches Handeln aufzubauen. Der Staatskommissar hatte die Aufgabe, Beschwerden über Misswirtschaft oder Korruption aus der Bevölkerung aufzunehmen und die zuständigen Behörden zu kontrollieren. Er konnte Akten einsehen und eigene Ermittlungen durchführen. Schließlich besaß er sogar das Recht, einzelnen Beamten die Ausübung ihrer Tätigkeit zu verbieten. Dieses Amt existierte nur zwei Jahre und wurde kurz nach Gründung der Bundesrepublik wieder abgeschafft, weil man nun die ordentlichen Gerichte und Polizeibehörden wieder für handlungsfähig hielt. Ein ehemaliger Mitarbeiter des Kommissariats interpretierte die Rolle des Amtes im Nachhinein als „Notwehrakt des Staates“. Nordrhein-Westfalen war im Übrigen nicht das einzige Land mit entsprechenden Aktivitäten: Schleswig-Holstein ernannte 1947 ebenfalls einen Sonderbeauftragten für Korruptionsbekämpfung und die Generalstaatsanwaltschaft München richtete im gleichen Jahr eine Zentralstelle für Korruptionsbekämpfung ein.26
Diese Maßnahmen zeigen, wie wichtig der Nachkriegsgesellschaft eine korruptionsfreie Beamtenschaft war. Grassierende Korruption wurde eine Art Metapher für die an vielen Stellen nach dem Krieg defizitäre Staatlichkeit. In der Wahrnehmung der Zeitgenossen vermischten sich dabei Erfahrungen von Elend, Entwurzelung durch Vertreibung, Zusammenbruch von Wirtschaft und Verwaltung, Versorgungsnot, Schwarzmarkt und Schiebertum. Auch Angehörige der Mittelschicht waren darauf angewiesen, sich das alltägliche Brot zu „organisieren“ oder Kohlen zu „fringsen“, wofür namentlich der Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings zu Silvester 1946 in einer Predigt seine oberhirtliche Duldung ausgesprochen hatte.27 In den Nachkriegsjahren hing das nackte Überleben vieler Vertriebener und Ausgebombter auch davon ab, dass Behörden ein Auge zudrückten oder illegale Geschäftemacher gewähren ließen. Jedenfalls galten Lebensmittelbewirtschaftung und Schwarzhandel als Nährboden für Bestechung und Korruption in Behörden. Dies hielt ein Teil der Presse zwar für verwerflich, zugleich aber für ein kaum abwendbares Merkmal außergewöhnlich harter Zeiten.28 Vor dem Hintergrund solch verbreiteter Verunsicherung über Recht und Unrecht ist die prekäre Situation der staatlichen Verwaltung zu sehen.
Hinzu kamen innerbehördliche Probleme. Viele staatliche Strukturen waren durch die Alliierten aufgelöst worden. Dazu gehörten die reichsweiten Institutionen, die bis 1945 arbeitenden Parallelstrukturen der Parteihierarchie, aber auch weniger sichtbare Strukturen wie eine funktionierende Verwaltungsgerichtsbarkeit. Staatlichkeit musste unter den Augen der Besatzungsmächte zunächst auf kommunaler, später dann auf Länderebene „neu erfunden“ werden. Um ihre Legitimität in der Bevölkerung musste diese Staatlichkeit alltäglich kämpfen. Eine der möglichen Strategien bestand nun darin, sich als sauber und korruptionsfrei zu präsentieren. Gelang dies, so konnte darin ein moralischer Vorteil gegenüber der untergegangenen NS-Staatlichkeit liegen. Allerdings wurde dies im Westen nicht durch einen harten Schnitt und Neuanfang erreicht, so wie man es zumindest scheinbar in der Sowjetischen Besatzungszone versuchte. Die vorherrschenden Rezepte orientierten sich an den Traditionen des preußischen Beamtenstaates.
Kriminalrat Kiehne, ehemaliger Mitarbeiter beim nordrhein-westfälischen Staatskommissariat gegen Korruption, beschwor noch 1957 die „Anschauungen des alten, in langer Tradition erzogenen und moralisch gefestigten Berufsbeamtentums“. Für ihn bestand der Kern funktionierender Staatlichkeit in moralischer Zuverlässigkeit. Gelitten habe deutsche Verwaltung in zwei historischen Momenten durch das „Eindringen berufsfremder Elemente in die Beamtenstellen“ ab 1933 und ab 1945. Damit war einerseits die Politisierung der Verwaltung durch Parteiangehörige gemeint, andererseits die zunehmende Bedeutung von ehemaligen Beschäftigten aus der freien Wirtschaft. Letztere dachten „kommerziell“ und hätten deshalb auch Geschenke für ihre Arbeit angenommen.29 Das Ideal, das hier aufscheint, ist ein in striktem Korpsgeist geschultes Beamtentum mit besonderer moralischer Qualität. Bedauerlicherweise sei diese Qualität verloren gegangen, könne aber wiederhergestellt werden. Nur dies schien eine gerechte und gute Verwaltung zu garantieren.
Das alte Beamtenideal wurde bezeichnenderweise meist nicht mit der Weimarer Republik, sondern mit Preußen in Verbindung gebracht, also auf die Epoche des Kaiserreichs bezogen. Damit lobten die Verfechter der sauberen Verwaltung jene vordemokratischen Eliten, deren hinhaltender Widerstand das Scheitern Weimars mitverursacht hatte. Freilich waren diese Zusammenhänge um 1950 noch kaum erkannt worden. Jedenfalls fügte sich diese Argumentation nahtlos in das Bemühen weiter Teile der westdeutschen Gesellschaft, personelle Kontinuitäten in Verwaltung, Gerichten und auch in der Wirtschaft zuzulassen. Mithilfe eines Großteils des alten Personals im staatlichen „Maschinenraum“ der Westzonen wurde die neue Ordnung errichtet.
Nun bestand der neue Staat aber nicht in einer runderneuerten Verwaltung kaiserzeitlicher Obödienz. Tatsächlich achteten die Alliierten peinlich darauf, ein von Grund auf demokratisches Gemeinwesen mit politischen Parteien, einflussreichen Parlamenten und einer freien und kritischen Presse zu etablieren. Dies gelang angesichts der problematischen Traditionen erstaunlich rasch und nachhaltig. So finden sich bereits in den späten 1940er-Jahren Lobgesänge auf die Demokratie und ihre Offenheit – heute würde man von Transparenz sprechen. Charakteristisch ist ein Zeitungsbeitrag über eine öffentliche Sitzung der Handwerkskammer Hamburg mit Vertretern der Kommunalverwaltung vom Frühjahr 1947 über die Zuteilung von Rohstoffkontingenten. Zwar hätten sich viele an den „demokratischen Stil“ kontroverser öffentlicher Aussprache noch nicht gewöhnt, doch habe dieser den großen Vorteil, Mängel und Ungerechtigkeiten zur Sprache zu bringen. Die Verwaltung könne sich dafür rechtfertigen und damit werde „dem vernehmlich erhobenen Vorwurf der Korruption weitgehend die Basis“ entzogen.30
Eine offene Debatte beugt der Korruption vor, so könnte man diese Intervention zusammenfassen. Ähnliches hatte zuvor auch Franz Heitgres gefordert, 1946 Mitglied der KPD und ehemaliger Widerstandskämpfer, der später in die SPD eintrat. Heitgres verlangte im Sinn einer Erziehung zur Demokratie, dass die Zusammensetzung der Entnazifizierungsausschüsse öffentlich gemacht werden müssten. Dies beuge der Korruption in den Ausschüssen vor, weil Manipulationen und Bestechungen so leichter öffentlich werden könnten.31
An der Wende von den 1940er- zu den 1950er-Jahren war die staatliche Ordnung der Bundesrepublik gleichwohl alles andere als unumstritten. Korruptionsdebatten verbanden sich mit der Suche der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft nach positiven Werten, nach dem also, worauf sich deutsche Identität nach dem Dritten Reich aufbauen ließ. Auf der Suche nach den Wesenszügen des guten Deutschen dominierten bildungsbürgerliche Leitbilder. Allenthalben berief man sich auf die Werte des „Abendlandes“. Dazu gehörten der christliche Glaube, Familie, Individualismus, Errungenschaften der Hochkultur in Kunst, Musik und Literatur, am Rand auch die angeblich deutsche Eigenschaft der Naturliebe. Diese Interpretationen halfen immerhin, den Nationalismus zu überwinden, westeuropäische Gemeinsamkeiten zu finden und autoritären Herrschaftsstrukturen eine Absage zu erteilen.32 Zu jenen Werten, die man wiederbeleben wollte, gehörte auch die moralische „Sauberkeit“ der deutschen Beamtenschaft in preußischer Tradition. Deshalb durfte derjenige auf ungeteilten Beifall hoffen, der die Unbestechlichkeit der deutschen Verwaltung bejubelte. Bis weit in die 1980er-Jahre wurde dieser Glaubenssatz kaum je infrage gestellt – trotz aller Affären, von denen noch die Rede sein wird.
Noch in der Bundestagsdebatte über die Hauptstadtaffäre 1951 klang dies nach. Mehrere Redner beklagten, wie schwach die Akzeptanz von Parlament und Regierung noch sei.33 Meinungsumfragen aus den 1950er-Jahren bestätigen dieses Bild. Es war zunächst sehr unsicher, ob die Werte des Grundgesetzes eine dauerhafte Chance in der Bevölkerung haben.34 Die neuen politischen Eliten mussten also aktiv um Unterstützung werben. Hier bot sich der Kampf gegen die Korruption offenbar an.
Die Demokratie als Mittel gegen die Korruption zu verkaufen, das war um 1950 eine kühne Innovation. Noch in der Zwischenkriegszeit waren nahezu überall in Europa der Parlamentarismus und der Parteienstreit mit Korruption gleichgesetzt worden – ganz besonders in der Weimarer Republik, aber auch in Frankreich, Spanien und Italien. Korruption schien damals ein typisches Problem liberaler Demokratien zu sein. Diesen Eindruck jedenfalls vermittelten Rechte und Linke in einer Unzahl von Skandalisierungskampagnen, in denen es um Bereicherung und Lobbyismus ging, um die angebliche Käuflichkeit der demokratischen Eliten.35 Die Extremisten an den Rändern des politischen Spektrums begründeten ihren Machtanspruch auch damit, endlich die Korruption zu beenden. Straffe Strukturen, hartes Durchgreifen, starke politische Führer: So hießen damals die Rezepte gegen Korruption. In Deutschland hatten die Nationalsozialisten auch mit der Behauptung für sich geworben, sie würden nach ihrer Machtergreifung alle korrupten Politiker und Staatsdiener beseitigen. Auch der spanische Diktator Primo de Rivera rechtfertigte seinen Putsch 1923 exakt mit diesem Argument, Mussolini argumentierte ähnlich. Freilich erwiesen sich diese Versprechungen bald als leer. In keinem europäischen Land der Zwischenkriegszeit konnten Demokraten eine zündende Gegenstrategie entwickeln; sie blieben merkwürdig hilflos.36
Nach dem Ende des Dritten Reiches begannen Demokraten zumindest in Westdeutschland den Spieß umzudrehen. In der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie fügte Leo Menne 1949 mehrere Argumente zusammen. Unter dem Titel „Korruption“ plädierte er gegen den totalitären Staat, gegen Sozialismus und für die Demokratie.37 Dabei ging es im Kern um Moral, und zwar um die Moral des Staates und seiner Diener.
Menne unterstellte, Staat und Verwaltung seien in der deutschen Geschichte grundsätzlich unkorrumpierbar gewesen. Dabei konnte er sich auf den schon erwähnten Mythos von der preußisch-deutschen Beamtenschaft stützen. Erst in der späten Weimarer Republik und vor allem im Nationalsozialismus, so Menne, habe Korruption überhandgenommen. Auch in der Gegenwart gebe es noch viel davon, und zwar als Folge des Elends nach dem Krieg. Aus der jüngsten Vergangenheit könne man Folgendes lernen: Diktaturen und speziell der Nationalsozialismus förderten die Korruption, indem sie die „allgemeine Volksmoral“ zerstörten. Einerseits züchteten sie Duckmäusertum und Heuchelei, andererseits seien die typisch überzogenen Versprechungen von Diktatoren Bestechungsversuche gegenüber den Bürgern. Man habe in der Verwaltung „die Unfähigen“ gefördert. Ergebnis dieser Korruption sei die „Herrschaft der moralisch Minderwertigen“ gewesen. Ähnliches gelte aber auch für den Staatssozialismus. Hier greife der Staat ins Wirtschaftsleben direkt ein und schaffe immer mehr Korruptionsgelegenheiten. Dagegen biete nur die Demokratie Abhilfe. In korrupten Regimen profitierten Minderheiten. In der Demokratie kontrolliere aber der Mehrheitswille die Regierung, was „die Einnistung der Korruption“ verhindere.38
Rasch griff Menne noch einige Einwände auf, die auf die Diskussionen der Weimarer Zeit zurückgingen. Keine Korruption seien: politische Absprachen und Kuhhandel, der Einfluss von Parteien auf Stellenbesetzungen in der Verwaltung, Lobbyismus und ähnliche Dinge, denn die Parteien seien nicht der Staat. Korruption komme definitionsgemäß nur im Bereich des Staates vor, nicht aber im privaten Bereich. Damit verlegte Menne sich auf eine sehr formalistische Korruptionsdefinition. Gleichwohl bot der Text das wichtigste Argument aus der Nachkriegsdiskussion: die moralische Überlegenheit der Demokratie. Zugleich verzichtete er völlig auf Freiheitspathos, den Gedanken der Volkssouveränität oder andere demokratietheoretische Argumente. Vielmehr lautete die Botschaft: Demokratie sichert die moralische Integrität des Staates, der Beamten und der Bevölkerung am besten.
Freiheit und Volkssouveränität, das muss man dazu wissen, galten in der Gedankenwelt des bürgerlich-konservativen Milieus in Deutschland seit dem Kaiserreich oft als westliche und daher undeutsche Werte. Offenbar ganz in dieser Linie versuchte der Text zu belegen, die Demokratie sei wesensverwandt mit der Tradition des unkorrumpierbaren Staates. Staat und Verwaltung waren in dieser konservativen Denktradition gleichbedeutend mit einem hohen sittlichen Ideal. Die Meinungsfreiheit wird hier zwar als unverzichtbar bezeichnet, nicht aber als Wert an sich. Sie kommt als Mittel zum Zweck daher, als eine Korrektur korruptiver Tendenzen. Sie schaffe eine Kontrolle, die die Sittlichkeit der Beamten und damit die Erhaltung der „Staatsautorität“ garantiere.
Interessant an Mennes Beitrag ist auch sein Lob der Eigentumsgarantie, in Abgrenzung zum Staatssozialismus. Das ist bemerkenswert, weil der Kapitalismus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts meist als Ursache für die Korruption in der modernen Welt gegolten hatte. Korruptionskritik war eine Begleiterin antikapitalistischer Tiraden auf der Linken wie auf der Rechten gewesen. Menne unternahm in seinem Aufsatz also nichts weniger als eine fundamentale Umdeutung der Korruptionsdebatte – und zwar ganz offensichtlich mit dem Ziel, bürgerliche Gruppen zu erreichen.
Mit der Verknüpfung von Korruptionsverdacht und Staatswirtschaft war Menne allerdings nicht allein. In der Phase der Rohstoff- und Lebensmittelbewirtschaftung nach dem Krieg öffnete die Wochenzeitung Die Zeit ihre Spalten für harsche Kritik an allen Formen staatlich gelenkter Wirtschaft. Neben vielen anderen Kritikpunkten las man hier regelmäßig das Argument, staatliche Bewirtschaftung fördere Korruption, etwa bei den damit beauftragten Beamten.39 In den 1950er-Jahren berichteten Auslandskorrespondenten aus Polen in ähnlichem Tenor. Die Korruption im Staatssozialismus zeige sich am Kontrast zwischen der Ärmlichkeit der normalen Bevölkerung und dem luxuriösen Auftritt der Funktionäre, so der Reporter Johannes Maaß.40 Der Publizist und Osteuropa-Experte Ernst Halperin bekundete, man könne in der „Planwirtschaft stalinistischen Musters“ „Korruption und Schlamperei auf ein halbwegs erträgliches Maß“ nur mittels Polizeistaatsmethoden drücken.41 Mit dem Hinweis auf angebliche „Schlamperei“ bediente Halperin allerdings nicht nur die Furcht vor dem Sozialismus, sondern auch traditionelle Vorurteile gegenüber der polnischen Bevölkerung.
Solche Zitate zeigen ebenso wie der Beitrag Mennes, wie maßgebliche Publizisten der Nachkriegszeit Akzeptanz für Demokratie und Marktwirtschaft zu schaffen versuchten. Um es noch einmal zu betonen: Korruptionskritik war traditionellerweise mit Parlamentarismus- und Kapitalismuskritik verbunden. Diese Verbindung lockerte sich unter dem Eindruck der neu entstehenden Nachkriegsordnung. Ob das entstehende Staatswesen den Hoffnungen gerecht werden konnte und die korruptionsfreiere Alternative zum Dagewesenen würde, musste sich noch erweisen. Der Umgang mit der Hauptstadtaffäre zeigte aber das Bemühen, aus der Korruptionsdebatte keine Keule gegen die junge Republik zu machen.