Читать книгу Alles nur gekauft - Jens-Ivo Engels - Страница 14
Von der Reinheit des Staates: Korruptionsdebatten um 1960
ОглавлениеNatürlich gaben diese Fälle Anlass zur Diskussion. Waren die Vorfälle Zeichen für ein gravierendes Korruptionsproblem in der Republik? Welche Umstände waren verantwortlich? Was bedeutete dies für das Verhältnis zwischen Beamten, Politik und Wirtschaft?
Ganz in diesem Sinn äußerte sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung 1958 in ihrer Kommentarspalte: Die Demokratie biete zwar keine Garantie gegen Korruption, doch sei allein sie mittels unabhängiger Justiz und Öffentlichkeit in der Lage, solche Tatbestände festzustellen und damit auch effektiv zu bekämpfen.56 Ganz ähnlich äußerte sich die Stuttgarter Zeitung anlässlich des Falls Nowack: „Der ganze Vorfall hat aber vor allem gezeigt, daß demokratische Einrichtungen eben doch in der Lage sind, dunkle Geschichten aufzuhellen. Das sei vor allem denen ins Stammbuch geschrieben, die immer wieder meinen, auf die Demokratie schimpfen zu sollen, weil in anderen, hinter uns liegenden Regimen solche Dinge nicht vorgekommen seien. Sie sind vorgekommen, sie sind nur nicht publik geworden, und wenn sie geahndet wurden, war das Verfahren meistens nicht frei von persönlicher Rachsucht, Intrigen und Bereicherungsbestrebungen.“57
Allerdings fiel das journalistische Urteil über die Justiz, wie bereits angedeutet, im Fall Kilb unterschiedlich aus. 1958 lobte Der Spiegel noch mit Pathos dies „ruhmvolle Blatt in der Geschichte der deutschen Rechtsprechung“, da die Justizbehörden auch für die Bundesregierung unangenehme Fälle zur Anklage brachten. Die Anklage gegen Daimler-Chef Könecke galt dem Kommentator als „Wendepunkt im Bonner Bewußtsein“.58
Allerdings stieß Der Spiegel damit nicht auf ungeteilte Zustimmung. Ein erheblicher Teil der veröffentlichten Meinung kritisierte das harte Urteil im ersten Bonner Korruptionsprozess. Viele Journalisten waren 1959 eher skeptisch, ob eine Art Null-Toleranz-Politik gegenüber Spitzenbeamten gerecht sei. Die Welt monierte, eine Verurteilung wegen Bestechlichkeit aufgrund einiger Essenseinladungen sei wirklichkeitsfremd, weil damit die üblichen Umgangsformen kriminalisiert würden. Das Urteil führe nur zur Verunsicherung der Staatsdiener. Die Rheinische Post stellte die Angelegenheit in einen außenpolitischen Zusammenhang und fürchtete Munition für die Kommunisten. Sie verurteilte diese „Form der Korruptionsjägerei, die am Ende doch nur Musik für Pankower Ohren sein kann“ – gemeint war die Staatsführung der DDR.59
Auch im Fall Nowack hatte Der Spiegel ein Jahr zuvor von einigen journalistischen Mitbewerbern harte Kritik einstecken müssen. Es gehe nicht an, dass eine Zeitung Politiker mit Geschichten über ihr Leben zum Rücktritt dränge. Das veranlasste den Herausgeber zu einem längeren Rechtfertigungsartikel. Rudolf Augstein dementierte, sein Blatt habe es auf Rücktritte abgesehen. Vielmehr sei seine Aufgabe, auf Missstände hinzuweisen. Zwar berichte man einseitig über die „Kehrseite der Medaille“, aber als Korrektiv, weil die anderen doch meist davor zurückschreckten.60 Auch Der Spiegel beanspruchte also nicht, seine kritischen Berichte bildeten die ganze Wahrheit über den Zustand der Republik ab.
Bald kritisierte das Nachrichtenmagazin aufs Schärfste die Rechtsprechung im Fall Kilb und in den anderen Bonner Bestechungsfällen. Und auch die zunächst eher bedächtig kommentierende Zeit schwenkte unter dem Eindruck der Enthüllungen im Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags Anfang der 1960er-Jahre um und monierte, dass hier politischerseits manipuliert worden sei.61
Es bietet sich also ein höchst differenziertes Bild der Korruptionsdebatten um 1960. Insgesamt war die Republik aber weit davon entfernt, sich selbst ein allzu hartes Zeugnis auszustellen. Das gilt auch für Spiegel und Zeit. Neben kritischen Beiträgen findet man hier immer wieder Warnungen vor der Dramatisierung und Überbewertung von Korruptionsfällen. 1966 kritisierte Die Zeit einen allzu reißerischen Bericht über angebliche Bestechungsfälle im Verteidigungsministerium, den die Kölner Boulevardzeitung Express veröffentlicht hatte.62 Ein Jahr später veröffentlichte die Hamburger Wochenzeitung die kritische Besprechung eines Buchs des Enthüllungsjournalisten Bernt Engelmann. Der Rezensent, Peter Stähle, warf Engelmann vor, seine Korruptionsvorwürfe beruhten nur auf Indizien. Vor allem übertreibe Engelmann maßlos, wenn er behaupte, der Staat werde damit zugrunde gerichtet.63 Genau solche Argumente sollten aber später, ab den 1990er-Jahren, gang und gäbe werden.
Auch für die Opposition erwies sich der Korruptionsvorwurf als nur bedingt tauglich. Das zeigt eine Begebenheit aus dem Sommer 1959. Die SPD-Parteizeitung Vorwärts hatte in einem Bericht über die Fälle Nowack und Altmeier im Februar nur beiläufig formuliert, Rheinland-Pfalz habe „anscheinend den Ehrgeiz, der Korruptionshauptstadt Bonn den Rang abzulaufen“ – ein Satz, über den man heute wohl achtlos hinweglesen würde.64 Nicht so im politischen Bonn der späten 1950er-Jahre. Das Zitat aus dem Vorwärts erwies sich vier Monate später hinsichtlich der Debatte als Supergau. Es verhagelte der SPD einen möglichen Aufmerksamkeitserfolg im Bundestag. Die sozialdemokratische Fraktion hatte an die Bundesregierung eine Große Anfrage gerichtet. Üblicherweise ist das ein Instrument der Opposition, um den Finger auf unangenehme Vorgänge zu legen, die die Regierung zu vertreten hat. Gegenstand der Anfrage waren die Korruptionsfälle in der Bundesverwaltung, insbesondere die Koblenzer Bestechungen und die Affäre Kilb.
Doch in der Bundestagsdebatte am 18. Juni 1959 wurde das Vorwärts-Zitat zum Skandalon gemacht. Innenminister Gerhard Schröder wetterte gegen diese Darstellung und verurteilte mehrfach die „Korruptionspsychose“ der SPD.65 Die Kriminalstatistik zeige, wie deutlich Korruption im Rückgang sei. Solche Vorwürfe vergifteten das Klima und machten die Arbeit der Beamten schlecht. Auffällig in der Debatte: „Unser Berufsbeamtentum“ erwies sich weiter als identitätsstiftendes Element, dessen Angehörige „heute wie früher tagtäglich pflichtbewußt, zuverlässig, fleißig und unbestechlich ihren Dienst verrichten“, so formulierte es der Minister.
Anstatt die Regierung vor sich herzutreiben, musste die SPD sich erklären. Ihre Redner sahen sich gezwungen, dem Konsens über die Beamten wortreich beizupflichten. Gleich zu Beginn verlas Hermann Schmitt einen Brief des Fraktionsvorsitzenden Erich Ollenhauer mit der Versicherung, die Sozialdemokratie halte die deutsche Beamtenschaft selbstverständlich nicht für bestechlich. Auch der zweite Redner der SPD, Gerhard Jahn, bekräftigte, die übergroße Mehrheit der Beamten sei absolut zuverlässig. Gegen Ende der Debatte unterstrich Schmitt nochmals: „Die Bekämpfung der Korruption ist kein Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen“, um anschließend den Umgang von Bundesministern mit Geschenken zu kritisieren.
Die als klassische Oppositionsattacke gedachte Aktion erwies sich als völlig untauglich. Zwar kritisierte Hermann Schmitt die Bundesregierung dafür, das „allgemeine geistige Klima“ zu unterstützen, das Korruption bei Spitzenbeamten begünstige. Dabei beklagte er vor allem: „Großindustrie und Regierungsmaschinerie durchdringen sich in der Ära Adenauer wechselseitig so sehr, daß viele Interessenten in der Regierung nicht viel mehr sehen als ein Instrument“ für ökonomische Ziele.66 Wie diese Zitate zeigen, zielten die SPD-Abgeordneten mit ihrer Korruptionskritik mindestens so sehr auf die Regierung wie auf die Wirtschaft. Auch der Bericht des Vorwärts im Nachgang der Debatte war politisch einigermaßen zahm. Er beschränkte sich auf die Kritik daran, dass man nicht mehr über die Geschenkannahme bei Ministern und Spitzenbeamten erfahren habe.67 Weiterhin waren die Abgeordneten in Sorge um das Ansehen der Demokratie. Gefahren für diese sahen die Opposition sowie der FDP-Abgeordnete Hermann Dürr in den Korruptionsfällen selbst, während die Unionsvertreter vor allem die aus ihrer Sicht überzogene Debatte problematisch fanden.
Die Plenardebatte macht deutlich, wie wenig sich Korruptionsvorwürfe zu diesem Zeitpunkt für die regierungskritische Polemik eigneten. Sie ist ein Beleg für einen sehr vorsichtigen Umgang mit der Thematik. Minister Schröder bemühte sich mehrfach um Differenzierung und Genauigkeit, geißelte die unzulässige Ausweitung und Vermischung des Korruptionsbegriffs. So sei Beamten zwar die Annahme von Geschenken verboten, doch handle es sich nicht um Bestechung, wenn der Beamte sich dadurch nicht in einer Amtshandlung beeinflussen lasse, gab der Innenminister die Rechtslage wieder. Schädlich sei eine undifferenzierte Korruptionsdebatte aus zwei Gründen: Erstens schaffe dies bei den Betroffenen Unsicherheit. Zweitens führe dies in der Öffentlichkeit zu sachlich unbegründeten, diffusen Negativbildern von Staat und Regierung. Der CSUAbgeordnete Albrecht Schlee ergänzte, die Debatte treffe in der Bevölkerung auf eine „Unlust gegenüber dem Staat“. Die Menschen würden nur allzu gern annehmen, Korruption sei allgegenwärtig. Ähnliche Effekte, so möchte man ergänzen, lassen sich auch im frühen 21. Jahrhundert feststellen, mit dem Unterschied, dass es heute kaum noch möglich erscheint, für Differenzierung zu werben.
Breite Einigkeit bestand hinsichtlich der Ursachen für Geschenkannahmen: das Eindringen zweifelhafter Moral aus der Wirtschaft in den Staatsdienst. Hermann Schmitt sprach vom „Gefälligkeitswesen“ und vom Sittenverfall in der Privatwirtschaft – hier nicht ganz frei von klassenkämpferischer Rhetorik. Auf diesem Gebiet wiederum sahen sich Unionsvertreter genötigt, der Opposition beizupflichten. Auch Innenminister Schröder beschrieb mit Sorge, wie sich „die strengeren Anschauungen des Beamtendienstes mit den oftmals loseren Auffassungen des Wirtschaftslebens begegnen“. Auch hierzu hatte er Statistiken parat, die belegten, wie Betrug und Untreue in der Privatwirtschaft zunahmen. So zogen die Bundestagsabgeordneten gemeinsam eine Art imaginären Feuerring um die deutsche Beamtenschaft: zwar traditionell standhaft, doch angeblich immer härteren Anfechtungen durch die Verrohung von Wirtschaft und öffentlicher Moral ausgesetzt. In diesen Klagechor über Moralverfall konnten alle politischen Lager einstimmen.
Unterschiede gab es mit Blick auf konkrete Konsequenzen. Die SPD trat mit einer ganzen Liste von Forderungen auf. Sie verlangte, die steuerliche Absetzbarkeit von Werbegeschenken abzuschaffen, rief nach einer Antibestechungsklausel für das gesamte Wirtschaftsleben, forderte klare Regeln für die Annahme von Geschenken durch Minister und Spitzenbeamte. Sie hielt die bisherige Regel für unzureichend, nach der bei Beamten der Vorgesetzte darüber entscheiden konnte und es für Minister gar keine Bestimmungen gab. Außerdem forderte die Opposition ein Verbot vergüteter Vorträge von Beamten und Ministern bei Wirtschaftsverbänden sowie konsequente disziplinarrechtliche Verfolgung aller Vergehen bei Spitzenbeamten.
In all diesen Forderungen mochten die Regierungsfraktionen der Opposition nicht folgen. Minister und Unionsabgeordnete verwiesen stattdessen auf Fingerspitzengefühl im Einzelfall: das „taktvolle Ermessen“ der Vorgesetzten und die Notwendigkeit, mit gutem Beispiel voranzugehen. So schilderte Schröder gegen Ende der Debatte, wie er mit Vortragshonoraren verfahre: Er lehne sie nicht ab, spende sie aber vollständig für karitative Zwecke. Ganz anders als im 21. Jahrhundert setzte die Regierung also auf Verantwortungsbewusstsein und Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Beamtenschaft. In diesen Debatten heute unübliche Kategorien wie „Sauberkeit“ und „Ehrgefühl“ beanspruchten großen Raum. Die Idee der Transparenz spielte in diesem Rahmen noch gar keine Rolle. Der Vorschlag eines Bestechungsparagrafen für die Privatwirtschaft erschien in dieser Zeit völlig illusorisch. Wir werden aber sehen, dass exakt dieser Vorschlag in den 1970er-Jahren in den USA umgesetzt und nach 1990 fast weltweit implementiert wurde, auch in Deutschland.
In die Korruptionsdebatte mischte sich regelmäßig ein einflussreicher Intellektueller ein, der Tübinger Professor Theodor Eschenburg. Eschenburg gilt als einer der Mitbegründer der Politikwissenschaft in Deutschland und war zeitweiliger Rektor seiner Universität. Eschenburg betätigte sich aber auch als eifriger politischer Kommentator, schrieb beachtete Bücher und regelmäßig als eine Art Hauskommentator in der Hamburger Zeit. Seine Rolle war die des kritischen Geistes. Lange bevor dies zum journalistischen Grundkonsens gehörte, geißelte Eschenburg die Macht der Parteien und der Verbände. Gegen sie verteidigte er die Demokratie. Er war, was man seit den 1990er-Jahren als „Parteienkritiker“ bezeichnet. Zum Gesamtbild Eschenburg gehört allerdings sein Verhalten während der NS-Zeit. Einerseits hat er recht lange offen mit jüdischen Mitbürgern zusammengearbeitet. Andererseits trat er kurz nach der Machtübernahme der SS bei und er hat vermutlich persönlich von sogenannten Arisierungen profitiert, also von der zwangsweisen Enteignung jüdischer Unternehmer.68
Eschenburg wird gelegentlich als liberaler Kritiker des Parteienstaates missverstanden. Tatsächlich zeigen seine Interventionen in der Korruptionsdebatte um 1960 den Verfechter einer konservativen, fast romantisch anmutenden Staatsidee, deren Wurzeln weit ins 19. Jahrhundert zurückreichten. Eschenburg sorgte sich hauptsächlich um die Reinheit des Staates und seiner Beamten, er geißelte die Vermischung von Behörden und Politik, von Verwaltung und Wirtschaft. Er forderte eine glasklare Trennlinie zwischen Administration und Gesellschaft. Populär war er damit vermutlich vor allem, weil er den Mythos vom sauberen deutschen Staat und vom korruptionsresistenten Beamten bediente – den Mythos der unpolitischen Staatsdienerschaft. „Das Politische“ galt vor allem konservativen Nachkriegsdeutschen als Bedrohung der Freiheit. Auch der Nationalsozialismus wurde damals meist so gedeutet: Der Totalitarismus und die von den Nazis betriebene Politisierung von Alltag und Kultur galten als schrecklicher Sündenfall. In diesem Sinn kritisierte auch Der Spiegel das Argument für die Einstellung des Verfahrens gegen Kilb, man könne nicht zwischen Partei- und Staatsamt trennen: Mit der gleichen Auffassung habe sich die NSDAP den Staat untertan gemacht.69 Und in den Staaten des Ostblocks könne man ja ebenfalls beobachten, wie diktatorische Parteien Staat und Gesellschaft durchdrangen.
In seinen Schriften wies Eschenburg regelmäßig auf die Tradition hin: Im 19. Jahrhundert habe es in Preußen und später im preußisch dominierten Kaiserreich weder Korruption noch Ämterpatronage gegeben. Damals hätten die Beamten sich als eigene Kaste mit eigener Moral vom Rest der Gesellschaft abgegrenzt und schon aus sozialem Dünkel keine Geschenke angenommen. Die Verwaltung sei also wirklich unabhängig gewesen. Zwar wissen Historiker heute, dass dies tatsächlich nur ein Mythos war,70 aber um 1960 gab es keinen öffentlichen Widerspruch gegen diese Einschätzung. Eschenburg machte sich angesichts der Korruptionsfälle Sorgen, dass Lobbyisten durch Geschenke Beamte auf Abwege brächten. Daher forderte er, jeden Kontakt zwischen Wirtschaftsvertretern und Staatsdienern zu untersagen. Auch Eschenburg sah die Quelle des moralischen Übels in den Usancen der Wirtschaft. Die Vermischung von Staatstätigkeit und Politik hielt er für gefährlich. Angesichts des Falls Kilb warf er dem Kanzler vor, er identifiziere die Interessen seiner Partei mit dem Staat. Dies dürfe auf keinen Fall zugelassen werden.
Gleichwohl wies auch Eschenburg den Gedanken weit von sich, in Deutschland gebe es ein massives Korruptionsproblem. Er unterstützte jene, die die Debatte sachlich halten wollten. Und so stellte er eine milde Verfallsdiagnose: „Man soll ja überhaupt das Maß der Korruption nicht übertreiben. Nach allem, was wir im Kriege und nach dem Kriege durchgemacht haben, ist es eher erstaunlich, daß wir nicht noch viel korrupter sind. Die Chancen, die strikten Maßstäbe wiederzugewinnen, sind nicht schlecht.“71
Eschenburgs Ideal vom neutralen Staat beruhte auf der Annahme, es gebe ein gleichsam objektiv bestimmbares Gemeinwohl, das unabhängig vom Einfluss der Parteien und Verbände ermittelt werden könne. Dabei griff er den schon im 19. Jahrhundert populären Gedanken auf, Abgeordnete dürften sich nicht für die Interessen ihrer Wähler oder ihres Wahlkreises einsetzen, sondern sie seien immer dem gesamten Volk verpflichtet. Eine klare Grenze sollte sogar zwischen den Bundesministerien und den Fraktionen im Bundestag gezogen werden. So war und ist es üblich, dass die Ministerialbeamten in vielen Sachfragen den Fraktionen und den Abgeordneten des Bundestages zuarbeiten, zumindest den Regierungsfraktionen. Auch dies hielt Eschenburg für einen Skandal, für einen „Amtsmißbrauch der Bundesminister“, denn die Exekutive dürfe in die Arbeit der Legislative nicht eingreifen.72
In seinem 1961 erschienenen Büchlein über „Ämterpatronage“ warf er den politischen Parteien vor, die Neutralität der Verwaltung mittels Ämtervergabe an Parteisoldaten zu untergraben. Die Loyalität der Beamten dürfe keinesfalls zwischen Staat und Partei geteilt werden. Der politische Streit habe im Parlament seinen Platz – die vom Parlament verabschiedeten Gesetze sollten anschließend von politisch neutralen Beamten ausgeführt werden. Allerdings betonte der Tübinger Professor auch in diesem Buch, die Behörden seien neutraler als ihr Ruf und die Patronage der Parteien sei wieder rückläufig.73
Der Kriminologe Wolf Middendorf behandelte in seiner „Soziologie des Verbrechens“ von 1959 ebenfalls unter dem Eindruck der Koblenzer Fälle die „Korruption der Behörden“. Auch Middendorf berief sich auf das preußische Beamtenethos, das Korruption in Deutschland weitgehend verhindere. Es gebe vor allem dort Bestechlichkeit, wo es zu Kontakten mit der Privatwirtschaft komme. Auch er hielt die von ihm genannte Anzahl von 162 Bestechungsfällen zwischen 1954 und 1958 in der Bundesrepublik für sehr gering. Als Gegenbeispiel zu den sauberen Verhältnissen im Deutschland des Berufsbeamtentums sah er die USA, wo „Verfilzung zwischen Korruption und Politik“ und die Politisierung von Beamten stark ausgeprägt seien.74
Die Rede vom drohenden, wenn auch noch nicht gefährlichen Moralverfall muss auch vor dem Hintergrund des Wirtschaftswunders und der heraufziehenden Massenkonsumgesellschaft gesehen werden. Zwar interpretieren die Historiker heute den rasanten Wirtschaftsaufschwung der 1950erund 1960er-Jahre als einen Hauptgrund für die Stabilität der jungen Demokratie. Nur dank der außerordentlichen Wachstumsraten war es möglich, die zunächst enormen Spannungen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen abzumildern. Nur die Teilhabe am Aufschwung und am Konsum ermöglichte es, die aus den Ostgebieten Vertriebenen und die (bis 1961) aus der DDR massenhaft Zuwandernden mit Wohnraum und Arbeitsplätzen zu versorgen. Steigende Einkommen eröffneten den Zugang zu immer neuen Formen des privaten Konsums, vom Kinobesuch zum eigenen Fernseher, vom Moped zum eigenen PKW, vom Zeltlager über den Italienurlaub bis hin zu Flugreisen in den 1970er-Jahren. Ein konjunkturbefeuerter Zukunftsoptimismus machte sich breit, einerseits.
Andererseits herrschte Skepsis, befürchteten Intellektuelle und bürgerlich Geprägte den Sitten- und Moralverfall. Die amerikanische Populärkultur galt als zu freizügig, als niveaulos, als Bedrohung für die kulturelle Identität Deutschlands. Der Konsum wurde auch als Gefährdung moralischer und sittlicher Werte gefürchtet. Die Orientierung am Gewinnstreben und an materiellen Dingen barg Gefahren für den Seelen- wie den Landschaftshaushalt – aus kirchlicher Warte genauso wie aus Sicht der frühen Naturschützer. Moral und Konsum, Ethik und Wirtschaft, das waren für viele besorgte Beobachter schlicht und ergreifend Gegensätze. Und so bedrohten Comic- und Rock-’n’-Roll-Konsum die Jugend, während das Geschäftsgebaren der Unternehmer und Lobbyisten die Integrität der Beamten auf die Probe stellte. Die Zeit-Journalistin Marion Gräfin Dönhoff meinte, wenn der „allgemeine Maßstab Erfolg und Wohlstand heißt“, dann könne man auch von Beamten nicht erwarten, als Vorbild zu wirken. „Jeder Staat hat die Beamten, die er verdient.“75 So trafen sich Sozialdemokraten wie auch Konservative in ihrer Sorge vor der Korruptionsgefahr durch Firmenvertreter und „Interessenten“. In dieses Bild passen dann auch die bisweilen sexualisierenden Vorwürfe gegen die Privatwirtschaft. In der Urteilsbegründung zum ersten Koblenzer Korruptionsprozess sprach der Richter von „sittenwidrigen Verführungskünsten“ der Lieferanten und Unternehmer, während er die Beamten als eigentlich keusche Opfer betrachtete.76