Читать книгу farbenblind - Jessica Barc - Страница 11
ОглавлениеKapitel 4
Wilder Farbwechsel
Romy zog ihr Handy unter ihrem Kopfkissen hervor und blinzelte auf das Display. 09:18 Uhr. Um 10:00 Uhr hatte sie einen Termin bei einer Stilberaterin, die ihr noch den letzten Feinschliff für ihr neues Leben mit auf den Weg geben sollte. Jetzt wurde es aber Zeit! Maik schlief noch tief und fest neben ihr. Sie beobachtete ihn, wie er seelenruhig auf seiner Seite lag. Gegen Mittag wollte er mit dem Zug seine Geschäftsreise nach Berlin antreten. Wenn er am Wochenende zurückkam, war er fällig. Romy sprang aus dem Bett und stolperte über seine Klamotten, die den Weg vom Schlafzimmer bis zum Badezimmer zierten. Wo er doch sonst so pingelig war! Bald war das alles vorbei und diese Vertrautheit gehörte der Vergangenheit an. Sie bückte sich und hielt erschrocken inne. Romy, du wirst doch wohl nicht …? Nein, seine Klamotten kann er gefälligst selbst wegräumen. Er darf sich schon mal daran gewöhnen, dachte sie, denn die Hausarbeit blieb größtenteils an ihr hängen.
Fünfzig Minuten später saß sie geduldig auf der mittleren Treppenstufe vor dem kleinen Ladenlokal der Beraterin und harrte der Dinge, die da kamen. Die Morgensonne war schon um die Ecke gebogen und spiegelte sich in den Fensterscheiben. Sie hatte bereits diesen geheimnisvollen, herbstlichen Charakter. Romy liebte diesen sanften Wechsel, wenn sich das Licht im Spätsommer magisch veränderte. Sie atmete dieses erste Herbstgefühl tief ein und genoss den Moment. Immer schön achtsam sein.
Kurz darauf bog eine attraktive und modisch gekleidete Dame Ende dreißig mit einer Brötchentüte in der Hand um die Ecke. Nicht schlecht, staunte Romy, die hat mal Stil. Mal sehen, was der heutige Tag so bringt.
»Guten Morgen, Frau Schuhmacher! Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung.« Die Stilberaterin schüttelte Romys Hand, unterzog sie einer kritischen Musterung und steckte den Schlüssel ins Schloss.
»Guten Morgen! Kein Problem, ich habe Zeit mitgebracht«, entgegnete Romy mit ruhiger und gelassener Stimme. Mit der lautstarken Untermalung eines Glockenspiels im Eingang öffnete die Besitzerin die Tür. Romy betrat das Geschäft und war erstaunt, was auf so wenig Quadratmetern alles untergebracht werden konnte.
»Ich bin ein bisschen aufgeregt. Was werden Sie heute aus mir machen?«
»Alles, wozu Sie bereit sind«, gab die Dame zurück. »Nehmen Sie Platz! Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?« Sie nahm Romys Jacke entgegen und hängte sie an der Garderobe auf.
»Sehr gerne. Mit Milch bitte.«
Romy setzte sich auf einen erhöhten Drehstuhl, ließ ihre Beine baumeln und zupfte unsicher an ihrem grauen Oberteil herum, während die Beraterin in ihrer Teeküche verschwand. Sie räumte ein paar Dinge von links nach rechts, klimperte mit Geschirr herum und startete die Kaffeemaschine, die daraufhin lautstark ein Heißgetränk herausquälte. Überall an den Wänden hingen Fotos von Models, Farb- und Schminkpaletten lagen herum und Zeitschriften der neusten Modetrends übersäten einen kleinen Beistelltisch. An einer der Wände thronte ein übergroßes gerahmtes Bild mit einem Spruch darauf:
»Der Vergleich ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit.«
SØREN KIERKEGAARD
Romy ließ diesen Satz für einige Sekunden auf sich wirken. Das ständige Abgleichen mit der Umwelt, ob man stets hübsch, schlau und erfolgreich genug war, unterwanderte zwar immer mal wieder ihre Gedanken, aber die naive Angewohnheit, viel Wert auf die Meinung anderer zu legen, hatte sie längst abgelegt. Das hatte ihr der Professor schon von Beginn an nahegelegt. Gegenüber dem Schaufenster war ein übergroßer mehrteiliger und schwenkbarer Spiegel positioniert. Mit einem Pott Kaffee in der Hand setzte sich die Beraterin tiefenentspannt neben Romy. Im selben Moment begann ein nicht enden wollendes Frauengeschnatter. Romy erzählte ohne Punkt und Komma, was ihr an ihrem Äußeren nicht gefiel. Immerhin zahlte sie eine stattliche Summe für diese Beratung. Also haute sie alles raus. Jetzt war es an der Zeit für das Feedback einer Expertin.
»Irgendwie habe ich zu lange Beine. Ich bekomme nie die passende Jeanslänge. Mein Po ist etwas zu klein, meine Oberweite im Vergleich dazu zu groß und meine Frisur will oft nicht so, wie ich es will … Ach, und mein Bauch …«
Am Ende ihres letzten Satzes wurde es still im Raum. Romy sah in das Gesicht einer schweigsamen Beraterin, die sich in ihrem Stuhl zurücklehnte und sie erneut von Kopf bis Fuß beäugte.
»Stehen Sie bitte noch einmal auf«, sagte sie freundlich und Romy stellte sich vor den großen, bodentiefen Spiegel.
»Sehen Sie das?« Mit einer fließenden Handbewegung umfasste sie Romys Spiegelbild.
»Nein, was meinen Sie?«
»Wissen Sie, wie viele Frauen sich so lange Beine wünschen und so einen kleinen, knackigen Po? Wenn Ihre Hosen zu kurz sind, dann tragen Sie Kleider oder Stiefel. Machen Sie jeden Tag 100 Situps. Es gibt für jedes Problem eine Lösung.«
Romys Augen weiteten sich und ihre Wangenknochen erröteten unübersehbar. Von Situps bekam sie Rückenschmerzen und ihr wurde jedes Mal übel. Sie spürte ein leichtes Schamgefühl in sich hochsteigen, während die Dame ihr ein aufmunterndes Lächeln schenkte.
»Wissen Sie was, Frau Schuhmacher?«, setzte sie an. »Ich glaube, Sie haben ein Luxusproblem. Der liebe Gott hat Ihnen alles gegeben. Sie machen nur zu wenig daraus. Schön, dass Sie da sind.«
Romy setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, wieder zurück auf ihren Stuhl und ließ diese Worte erstmal auf sich wirken. Sie war sich noch nicht sicher, ob das jetzt ein Kompliment oder eine Beleidigung war. Wahrscheinlich beides … Wie einfach sich das anhörte! Zumal sie Kleider und Stiefel über alles liebte. Die Beraterin stand auf und zog ein buntes Farbenmeer von Stoffmustern aus einer Schublade. Sie platzierte sie auf Romys Schultern, um die Farbnuancen herauszufinden, die ideal mit ihrem Hauttyp harmonierten. Dann legte sie ihre Hand auf Romys Oberarm und sah sie durch den Spiegel an.
»Sie sollten mutiger sein. Glauben Sie mir, das Leben ist zu kurz für nur eine Farbe! Sie werden sich sofort viel besser fühlen, wenn Sie sich anders kleiden. Ich zeige Ihnen gleich, wie Sie Ihr Gesicht perfekt in Szene setzen und dadurch Ihren Typ auf ganz natürliche Weise hervorheben.«
Romy nickte immer noch wortlos und sah auf ihr graues Oberteil. Sie war sich darüber im Klaren, dass sie ihre Kleidung in den letzten Jahren ihrer inneren Verfassung angepasst hatte. Es war ein schleichender Prozess. Immer mehr hatte sie sich zurückgezogen und wollte auch optisch unauffällig sein. Schwarz oder grau waren ihre Farben, manchmal auch ein gewagtes Weiß. In einem von Männern dominierten Job war man als Frau schon sichtbar genug. Sie wollte fachlich glänzen und nicht den Frauenbonus ausnutzen. Am Ende schien ihr jedoch ihre Aufrichtigkeit zum Verhängnis geworden zu sein.
»Wenn Sie möchten, gehen wir gleich in den Nebenraum und dann können Sie in aller Ruhe verschiedene Outfits anprobieren. Glauben Sie mir, das Leben ist nicht grau! Kleidung spiegelt unsere Persönlichkeit und Haltung wider. Machen Sie etwas aus sich! Sie sind eine unglaublich attraktive Frau und haben eine wunderbare Ausstrahlung. Ab heute sollten Sie Ihr volles Potenzial sichtbar machen. Damit erzielen Sie eine völlig neue Wirkung auf Ihre Außenwelt.«
Zwei Stunden später und um einen Batzen Geld ärmer verließ Romy freudestrahlend das kleine Geschäft, das sich als Klamottenoase entpuppt hatte. Jahrelang hatte sie sparsam gelebt und für eine gemeinsame Zukunft mit Maik gespart. Damit war jetzt Schluss. Mit beiden Händen voller Tüten und Klamotten sowie Farb- und Frisurenvorschlägen stieg sie in ihr Auto, drehte das Radio auf und checkte die Nachrichten auf ihrem Handy.
Ihre Bandkollegin und Freundin Caro hatte geschrieben. Am nächsten Abend wollten sie zu einem Konzert ins Saarland fahren. Dafür war ihnen kein Weg zu weit.
[Caro, 11:32] Hi, Romy, wann genau startet morgen das Benefizkonzert? LG Caro
[Romy, 13:01] Um 19:30 Uhr. Hole dich um 17:00 ab.
[Caro, 13:03] Okay. Ich freue mich total!
[Romy, 13:04] Endlich wieder Livemusik!
[Caro, 13:04] Wird Zeit, dass du mal wieder unter Menschen kommst. Bis dann.
Am nächsten Tag betrat Romy pünktlich um 14:00 Uhr das verrückte Ladenlokal in der Freiburger Altstadt, in dem man alles erdenklich Schöne an Deko und Klamotten kaufen konnte. Hier arbeitete ihr Friseur Ben. Sascha und er hatten Maik und Romy oft besucht und gemeinsam mit ihnen gekocht – an besseren Tagen, verstand sich. Romys neugierige Blicke erhaschten jedes Mal die tollsten Dinge in diesem Geschäft. Heute blieben sie an einer übergroßen kuscheligen Wolldecke hängen. Das ist gleich meine. Für die bevorstehenden kälteren Nächte, in denen ich mutterseelenallein auf meinem Hotelzimmer liege und elendig vereinsame. Sie nahm auf dem Friseurstuhl Platz und durchstöberte halbherzig den Stapel Klatschzeitschriften. Ben brachte ihr einen mit Milchschaum gekrönten Cappuccino und setzte sich zu ihr. Der Friseur ihres Vertrauens schien heute nicht so gut gelaunt zu sein wie sonst.
»Weißt du mittlerweile, was wir heute bei dir machen? Letzte Woche am Telefon warst du noch etwas unentschlossen.« Er wirkte verunsichert, ganz anders, als Romy es von ihm gewohnt war. Sie kramte in ihrer Handtasche nach den Frisurenbeispielen.
»Ich habe ein paar Vorschläge von einer Stilberaterin mitgebracht. Sie hat mir einen kompletten Typwechsel empfohlen. Irgendwie steht mir der Sinn gerade nach Veränderung in meinem Leben.«
Romy, nicht zu viel erzählen! Aber vielleicht hat Sascha ihm schon von meinem Plan berichtet, ging es ihr durch den Kopf.
Ben horchte offenkundig auf. »Einen Typwechsel? Hört sich spannend an. Das ist bei Frauen ja meistens ein besonderes Zeichen.«
Romy nickte wortlos.
»Friseure lieben Typwechsel«, setzte er nach. »Zeig her!«
»Ich soll mir einen Pony schneiden und ein paar Highlights setzen lassen.«
»Das hört sich gut an. Ein Pony verleiht deinen schönen braunen Augen noch viel mehr Ausdruck.« Er stand auf und holte die Farbkarte vom Nachbarplatz herüber.
»Wie läuft es denn mit Maik?«, wollte er beiläufig wissen.
»Nicht gut«, gab sie zurück, »aber das Thema würde hier jetzt den Rahmen sprengen.«
Ben schien zu verstehen und widmete sich wieder dem, was er am besten konnte.
»Ganz schön mutig, der neue Style. Aber er wird gut zu dir passen.«
»Mein Coach sagt immer zu mir, dass ein paar Sekunden Mut unser ganzes Leben verändern können.«
In ihr stieg langsam, aber sicher eine leichte Unsicherheit hoch. Jetzt gleich würde sie auch optisch ein neuer Mensch werden.
»Cooler Coach«, erwiderte er. »Der gefällt mir.« Bens Laune wurde besser. Er griff ihr mit einer Selbstverständlichkeit in die Haare, als gäbe es kein Morgen mehr. Sie genoss diesen ungewohnten Körperkontakt, der ihr ein angenehm kühles Kribbeln über den Kopf und den Rücken laufen ließ – auch wenn nur ihr Friseur dafür verantwortlich war. Ben sah Romy durch den Spiegel an.
»Ich schneide dir erst den Pony, dann ein paar feine Stufen und setze dir im Anschluss ein paar vereinzelte caramelbraune Akzente mit einer Balayage-Technik in die Spitzen. Das ist supersexy«, beschloss er. »Und deine Wimpern färben wir blauschwarz.«
Unsicher zog sie die Brauen zusammen.
»Okay.« Heute war das volle Programm angesagt. Wer wusste, wann die nächste Gelegenheit für einen Friseurbesuch kam. Ben legte ihr den Umhang um, wusch ihr die Haare und pumpte für den Schnitt den Stuhl in die passende Höhe. Als er die Schere aus der Seitentasche seiner Hose zog, schlug ihr Herz schneller.
»Bist du bereit?«, fragte er und setzte das Schneidewerkzeug direkt über ihren Augen an.
Sie kniff die Lider zu und bejahte die Frage. Im selben Moment spürte sie, wie die nassen Haarspitzen auf ihren Umhang fielen, und versuchte, in den Spiegel zu blinzeln. Jetzt war es zu spät.
Zweieinhalb Stunden und drei Cappuccino später ging Romy mit der Kuscheldecke unter dem Arm und einem absoluten Hochgefühl zum Kassenbereich.
»Du siehst bezaubernd aus!« Ben tippte die Preise in die Kasse ein. Es piepte kurz und die Karte verschwand in ihrem Portemonnaie.
»Danke, Ben, nächstes Jahr komme ich wieder. Viele Grüße an Sascha.«
Glücklich, zufrieden und mit einem erstaunlich gesteigerten Selbstwertgefühl verließ Romy den Salon. Im Auto sah sie prüfend in den Rückspiegel. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie so einen beeindruckenden Augenaufschlag haben konnte. Romy startete ihren Wagen und fuhr zu Caro. Auf dem Weg klingelte ihr Handy. Maik leuchtete auf dem Display auf.Ihr Blut kam in Wallung und sie nahm das Gespräch mit einem flauen Gefühl im Magen an.
»Hi, Maik«, begrüßte sie ihn leise und emotionslos.
»Hi, ich wollte nur sagen, dass ich am Samstag gegen 14:00 Uhr zurück bin.«
»Okay.« Es herrschte Stille. Sie wusste nichts zu sagen, fühlte sich nur leer.
Immerhin ruft er mich an und sagt mir, wann er zurückkommt. Jetzt bloß nicht schwach werden!
»Dann bis Samstag«, schob sie nach, als von ihm nichts mehr kam.
»Was machst du heute noch?« Wie bitte? Das interessiert dich doch sonst nicht …
»Ähm, ich fahre heute mit Caro ins Saarland auf ein Benefizkonzert.« Romy fuhr sich durch die Haare und versuchte weiterhin, ihrer Stimme einen desinteressierten Ausdruck zu verleihen.
»Okay, viel Spaß«, entgegnete er.
»Danke.«
Wieder machte sich Schweigen breit.
Dieses Mal war Maik derjenige, der es brach. »Dann bis Samstag.«
»Ja, bis Samstag, tschüss!«
»Tschüss.«
Sie beendete das Gespräch und sog den Sauerstoff tiefin ihre Lungen.