Читать книгу farbenblind - Jessica Barc - Страница 15
ОглавлениеKapitel 8
Neue Wege
Nachdem sie sich wieder halbwegs beruhigt hatte, wählte sie Lauras Nummer.
»Romy, wie geht es dir?«
»Es ist vorbei«, antworte Romy mit leiser und schwacher Stimme. »Kann ich jetzt schon zu dir kommen? Ich möchte heute Nacht nicht mehr in der Wohnung bleiben.«
»Das habe ich mir schon gedacht, natürlich kannst du kommen. Bist du in der Lage, Auto zu fahren?«
»Ja. Ich bin in ein paar Minuten bei dir.«
»Okay, bis gleich.«
Sie ging noch ein allerletztes Mal durch jeden einzelnen Raum. Alles, was geliehen war, legte sie Maik zurück auf seinen Nachttisch. Den Abschiedsbrief nahm sie aus ihrer Schublade und gab eine größere Geldsumme für die Miete und die laufenden Kosten hinein. Sie wollte sich auf keinen Fall etwas vorwerfen lassen. Dennoch fühlte sie sich dabei erbärmlich. Dann räumte sie die beiden Umzugskartons und den Koffer in ihren Mini. Mehr Platz gab der Innenraum nicht her. Sie lief noch einmal nach oben und legte den Schlüssel zu dem Brief. Ihr Puls flatterte, als sie in die Küche ging und einen der Schränke öffnete. Maik rauchte immer mal wieder, wenn er gestresst war. Sie fand noch eine letzte angebrochene Schachtel, zog eine Zigarette heraus und steckte sie sich zwischen ihre Lippen. Sie nahm ein Feuerzeug aus der Schublade. Geraucht hatte sie noch nie so richtig, aber jetzt war ihr danach. Sie ging auf den Balkon. Den Daumen am Abzug hielt sie einen Moment lang inne. Dann zündete sie sich die Kippe an. Bah! Sie schmeckte furchtbar, passend zu diesem Moment. Innerlich verabschiedete sie sich von diesem vertrauten Ort. Ein letztes Mal zog sie an der Zigarette, drückte sie in ihrem Kräutertopf aus und nahm noch eine Postkarte von der Wand, die sie direkt an die Innenseite der Wohnungstür klebte.
Ein Mann erwartet von einer Frau, dass sie perfekt ist. Und dass sie es liebenswert findet, wenn er es nicht ist.
Catherine Zeta-Jones,
Schauspielerin
Damit verließ sie die Wohnung. Alles geht einmal vorbei, bye, bye! Die Tür fiel ins Schloss.
Zwanzig Minuten später räumte sie mit Laura die Kartons in deren Garage. All ihre persönlichen Dinge, die sie nicht dringend benötigte, waren jetzt sicher untergebracht.
»Das Einzige, was jetzt noch in der Wohnung steht, ist mein Klavier«, erklärte Romy tonlos und zerstreut. »Darum kümmert sich Caro in den nächsten Wochen.«
»Alles wird gut«, versicherte ihr Laura noch einmal und lotste sie ins Haus.
Sie redeten bis spät in die Nacht über das Leben und die Liebe, und nach zwei Gläsern Wein ließ der Schmerz langsam nach. Romy merkte, wie gut es tat, diesen schweren Schritt endlich hinter sich gebracht zu haben. Dennoch war sie voller Zweifel. Laura sprach ihr immer wieder Mut zu.
»Gib jetzt nicht auf, Romy! Du hast alles versucht. Irgendwann begreift man im Leben, dass man nichts erzwingen kann. Du hast jetzt einen neuen Weg gewählt und das ist gut so.«
Am Sonntagmorgen standen sie mit Tränen in den Augen voreinander und verabschiedeten sich für eine lange Zeit.
Laura nahm sie in den Arm. »Pass gut auf dich auf und melde dich, wenn du angekommen bist!« Sie drückte sie, so fest sie konnte. Nach einem letzten Wangenkuss stieg Romy in ihr Auto.
»In sechs Monaten bin ich wieder bei dir, versprochen!«
»Das will ich doch hoffen.«
Kaum hatte sie den Schlüssel im Zündschloss gedreht, sprang die Musik an. »Oh, im Radio läuft mein Lieblingslied«, rief Romy aus dem Fenster.
»Na, wenigstens ein kleiner Lichtblick für deine Fahrt, dann dreh auf!« Laura zeigte einen Daumen nach oben und Romy zwinkerte ihr zu.
»Ich bin dann mal weg, für ’nen Augenblick raus.« Kaum war das Navi einsatzbereit, gab Romy Gas. Im Rückspiegel waren zwei wild winkende Hände zu sehen, die immer kleiner wurden. Der Mini bog um die Kurve. Alles war erledigt. Auf in Richtung Autobahn. »Österreich, ich komme! Die Zeit ist reif für neue Wunder.«
Im selben Moment leuchtete ihr Handy auf dem Beifahrersitz zwischen ihren Umzugskartons auf.Sie sah nach rechts und erkannte in der Textvorschau:
[Maik, 11:04] Romy, ich liebe dich!!!
Zwischenzeitlich musste er den Brief gelesen haben. Ihr Herz pochte. Nein, bitte nicht! Hör auf damit, dachte sie und drehte das Handy um, um sich auf die Straße zu konzentrieren. Vor heute Abend wollte sie diese Nachricht nicht als gelesen zu erkennen geben, auch wenn sie innerlich vor Neugierde tobte. Sie wählte ihre Songliste von Jost, Lexi und Joey an und sang leise mit. Sie fuhr am Bodensee entlang, einmal quer durch das Allgäu. Es hatte seit Monaten nicht mehr geregnet, aber jetzt prasselte ein nicht enden wollender Spätsommerregen gegen ihre Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer schoben monoton das Wasser von rechts nach links, um ihr eine halbwegs klare Sicht zu ermöglichen. So weit das Auge reichte, war der Himmel voller dunkler Wolken. Das Wasser platschte unaufhörlich gegen das Glas. Sie wusste nicht, was sie im kommenden halben Jahr erwarten würde. Alles war grau, alles war nass. Nichts passte.
Durch ihren Kopf geisterten tausend unsortierte Gedanken und das Gefühl, gestern zu viel Wein getrunken zu haben. Dreieinhalb Stunden später verließ sie die deutsche Grenze in Richtung Tannheim. Wohin auch immer mein neues Leben mich führen wird – ich werde ankommen! Und der Himmel riss auf.
Das Hotel Brunnhöfer lag an einer Anhöhe am Rande dieses wunderschönen Hochtals, umgeben von saftig grünen Wiesen. Romy parkte direkt vor der großen Eingangstür ihres vorübergehend neuen Zuhauses und atmete den Duft von Heu und Wildblumen ein. Sie ging die Treppen hinauf durch die gläserne Drehtür, und diese spuckte sie direkt vor der Rezeption wieder aus.
Empfangen wurde sie von einer jungen, gutaussehenden Dame mit gebräunter Haut in einem sündhaft teuer aussehenden Dirndl. »Grüß Gott, was kann ich für Sie tun?«
»Guten T…, ähm, grüß Gott. Schuhmacher. Romy Schuhmacher, ich habe ein Zimmer für ein halbes Jahr bei Ihnen gebucht.«
»Frau Schuhmacher«, begrüßte die Empfangsdame sie erfreut. »Schön, dass Sie unser Gast sind. Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause! Ich habe Ihre Papiere schon einmal vorbereitet. Sie müssen sie nur noch ausfüllen und dann zeige ich Ihnen Ihr Zimmer. Und Ihren Ausweis bräuchte ich bitte einmal. Ich hoffe, es ist okay für Sie, dass Ihr Zimmer noch nicht renoviert wurde.«
»Das ist überhaupt kein Problem«, gab Romy zurück. Sie fühlte sich jetzt schon besser als zu Hause, ganz abgesehen davon, dass sie seit gestern keines mehr hatte. Sie sah sich im Foyer um. Eine beeindruckende Designmischung aus Modern und Alt verliehen dem Haus einen außergewöhnlichen Charme. Alpiner Lifestyle war hier angesagt. An den Wänden hingen übergroße schwarz-weiße Leinwände, die aufwendig beleuchtet waren.
An einem Bild blieb ihr Augenmerk hängen. »Ist das die Gastfamilie?« Romy versuchte, sich die Gesichter einzuprägen. Man musste ja wissen, mit wem man es zu tun hatte.
»Ja, das ist Familie Brunnhöfer. Sie führt dieses Haus seit mehr als vier Generationen.«
Romy sah sich begeistert weiter um. Überall standen hölzerne Wegweiser, um den Gästen den Überblick zu erleichtern. Alles wirkte opulent und trotzdem warm durch die vielen Naturmaterialien.
»Ich bin so gespannt, was mich hier erwartet.« Ihre Augen strahlten.
»Kommen Sie mit mir mit? Ich begleite Sie zu Ihrem Zimmer.« Im Gleichschritt folgte Romy der freundlichen Empfangsdame, die sich halb zu ihr umwandte, als sie das Gebäude verließen. »Um dort hinzugelangen, gehen wir einen kleinen Asphaltweg hinauf, vorbei an unserem blickgeschützten Wellnessbereich. Sehen Sie dort die kleinen Hütten aus Sichtbeton am Hang?«
»Ja, wie schön es hier ist! Diese wunderbare Lage und der Blick in die Berge sind umwerfend.«
»Das freut mich, dass es Ihnen gefällt. Ihr Zimmer Nummer 201 liegt ganz am Ende dieser Reihe.« Die Rezeptionistin zog ihr Handy hervor und wählte eine Nummer.
»Könnt ihr mir jemanden schicken, der Frau Schuhmacher das Gepäck aus dem Auto aufs Zimmer trägt? Zimmer 201. Danke!«
Sie gingen eine kleine Treppe hinauf zu ihrer Eingangstür. Neugierig schloss Romy auf.Es waren 16 Quadratmeter pure Wohlfühlzone, klein, aber fein und urgemütlich. Ihr Blick fiel auf den TV-Monitor, der ihrem Bett gegenüber an der Wand hing.
Willkommen, liebe Frau Schuhmacher!
Wir wünschen Ihnen eine gute Zeit.
Ihre Familie Brunnhöfer
»So möchte ich jetzt jeden Tag begrüßt werden«, scherzte Romy und legte ihre Handtasche aufs Bett.
»Gefällt Ihnen das Zimmer?«
»Ja, auf jeden Fall«, beteuerte Romy. »Danke für Ihre Bemühungen.«
»Sehr gerne. Wenn Sie etwas brauchen, lassen Sie es uns bitte wissen! Die Rezeption ist 24 Stunden für Sie da.« Die Empfangsdame verabschiedete sich und Romy ließ für einen Moment lang ihr neues Zuhause auf sich wirken. Direkt am Fenster stand ein großzügiges Einzelbett mit grandiosem Ausblick. Gegenüber befand sich ein Schreibtisch aus Buchenholz, daneben ein Korbsessel und ein Kleiderschrank. Das Bad war winzig, aber sehr gepflegt, und es gab eine Duschwanne, in der nur eine Person Platz zum Baden fand. Romy war glücklich. Schaumbäder waren wie Urlaub für sie. Sie öffnete die Tür zu ihrem kleinen Balkon, auf dem fast ausschließlich zwei große Lounge-Sessel Platz fanden. Lavendeltöpfe zierten die Balkonbrüstung, die mit ausgeschnitzten kleinen Herzchen versehen war. Romy sah direkt auf die gelbe Bergbahn, die in der Nachmittagssonne dem Horizont entgegenfuhr. Sie berührte eine neue Welt.
Es klopfte leise an der Tür. Ein junger Mann brachte ihren Ausweis zurück und half ihr, die bunte Tütenmischung aus ihrem Wagen in ihr Zimmer zu befördern. Unermüdlich trug er all die frisch erworbenen Klamotten und Stiefel in verschiedensten Farben und Formen aus ihrem Auto auf ihr Zimmer. Sie war begeistert von diesem Service.
»Ich bin ein bisschen chaotisch«, entschuldigte sie sich. Es war ihr etwas peinlich, dass ihr Gepäck so unordentlich und in so vielen einzelnen Tüten verstaut war.
»Das macht nichts«, beruhigte er sie mit einem Augenzwinkern. »Chaotische Frauen sind wunderbar. Es ist ja unglaublich, was in so einem kleinen Auto alles Platz hat.«
»Ja, darüber staune ich auch immer wieder. Herzlichen Dank.« Zum Abschied drückte Romy ihm ein ordentliches Trinkgeld in die Hand. Er lächelte zufrieden und ließ sie allein in ihrem neuen Zuhause. Vom ersten Moment an fühlte sie sich pudelwohl an diesem wunderschönen Fleckchen Erde. Tirol, ich liebe dich jetzt schon, dachte sie und packte ihre Sachen aus. Sie checkte die Nachricht auf ihrem Handy. Mehr als das, was Romy schon in der Vorschau gelesen hatte, hatte Maik nicht geschrieben. Sie schrieb ebenso knapp zurück.
[Romy, 17:27] Es tut mir leid!
Ihr Herz fühlte sich an, als wäre es aus Beton. Er glaubte doch nicht ernsthaft, dass sie sich nochmal auf seine Spielchen einließ. Nichts sollte sie jetzt ablenken von ihrem neuen Leben.
Als die Sonne am nächsten Morgen über den Bergen aufging, ließ Romy spontan das Frühstück ausfallen und erkundete dieses wunderschöne Tal. Ein gut einstündiger Wanderweg führte direkt vom Hotel zu einem einzigartigen Naturjuwel, dem Vilsalpsee. Sie war beeindruckt von der Natur und den zufriedenen Wanderern, die ihr an jeder Ecke mit einem freundlichen »Grüß Gott« begegneten. Und dennoch waren mehr Kühe als Menschen unterwegs. Das leise Läuten der Glocken der Rinder wirkte wie Balsam auf ihrer Seele. Sie folgte dem Pfad um den See und genoss das Alleinsein und die Distanz zum Trubel der Stadt. Die Bergsilhouetten, die sich im glatten Gewässer spiegelten, ähnelten geradezu einer Spielzeuglandschaft. Es war ein unberührtes Stückchen Erde, was ihr hier geboten wurde. Stunde null hatte geschlagen. Sie beobachtete einen Haubentaucher, der sich anmutig auf dem Wasser niederließ und sich anschließend wieder mit gespreizter Federhaube senkrecht in den Himmel erhob.
Die Dame an der Rezeption hatte ihr den Tipp gegeben, ihren Bikini mit zum See zu nehmen, das Wasser sei so herrlich erfrischend. Sie zog ihr Kleid aus und ließ sich in das kühle Nass gleiten. Jede Zelle ihres Körpers schmerzte, aber sie blieb hart. Zügig zog sie ein paar Bahnen. Dann legte sie sich auf den Rücken und blinzelte der Sonne entgegen, als ein kleines Fischerboot über den schimmernden See direkt auf sie zutuckerte.
»Du musst leise sein, sonst fängt mein Opa keinen Fisch für sein Restaurant«, rief ihr ein kleiner blonder Junge mit leuchtend grünen Augen aus dem Boot zu. Der alte Mann lächelte Romy liebevoll an. Sein Gesicht war braun gebrannt und voller Fältchen.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Daran habe ich nicht gedacht. Ich wollte Sie nicht beim Angeln stören.« Romy verlangsamte umgehend ihre Schwimmbewegungen und ruderte fast geräuschlos mit ihren Armen unter der Wasseroberfläche hin und her. Ihr Körper hatte sich inzwischen an die Kälte gewöhnt. Die kleinen kreisförmigen Wellen, die durch das Boot entstanden, schwappten über ihre kühlen Lippen.
»Das ist kein Problem. Wir werden schon noch die eine oder andere Forelle an den Haken bekommen.« Der Großvater bestückte seine Angel mit einem kleinen Köder. »Sie sind ganz schön mutig. Das Wasser gibt nie mehr als 18 Grad her, nicht mal im Hochsommer.«
»Darf ich fragen, was für Fische in diesem See zu finden sind?«, wollte Romy leise wissen.
»Es gibt verschiedene Fischsorten, aber überwiegend Saiblinge, See- und Bachforellen.« Romy reduzierte nochmals ihre Bewegungen und sah in das kristallklare Wasser.
»Und was bringt so ein Fisch auf die Waage?« Wenn sie schonmal einem Fachmann begegnete, dann wollte sie auch informiert sein.
»Na ja, so eine Seeforelle bringt schon mal bis zu fünfzehn Kilo auf die Waage.«
Romy staunte und stellte sich vor, wie ein Stück Butter auf dem gebratenen Fisch zerlief.Sie hatte also wieder Hunger, das musste ein gutes Zeichen sein. Die frische Bergluft tat ihr anscheinend schon jetzt gut.
»Dann schwimme ich mal lieber wieder schnell ans Ufer, damit Ihre Gäste heute Abend nicht leer ausgehen.« Eine leichte Gänsehaut legte sich auf ihre Arme. Sie winkte den beiden zu und schwamm zurück, um ihren Körper in der warmen Morgensonne auf der angrenzenden Wiese trocknen zu lassen.
In den darauffolgenden Tagen nutzte sie ihre Berg- und Bahnkarte und fuhr auf und ab, wanderte von einem Gipfel zum anderen, kehrte in kleine Alpenstuben ein und probierte alles, was das Tal an kulinarischen Dingen zu bieten hatte. Von Backerbsensuppe über Kaiserschmarrn wählte sie täglich etwas Neues aus. Sie fühlte sich von Tag zu Tag ein bisschen befreiter und machte die ersten Bekanntschaften mit Einheimischen und Touristen, mit denen sie sich über die schönsten Ausflugtipps der Region austauschte. Ein Gasthof neben einer kleinen Kapelle lud am Abend zum Verweilen ein und bot einen sensationellen Blick auf das Tal. Sie dachte immer noch täglich an Maik, und hier und da floss die eine oder andere Träne über ihre Wangen.