Читать книгу farbenblind - Jessica Barc - Страница 12
ОглавлениеKapitel 5
Musik kennt keine Grenzen
Caro stand am Fenster im zweiten Stock ihrer Wohnung und gab Romy ein Zeichen, dass sie runterkommen würde. Sie spielten seit ein paar Jahren in einer Band und teilten ihre gemeinsame Liebe zur Musik. Immer mal wieder besuchten sie Konzerte oder die eine oder andere Weiterbildung, die sie in ihrem Leben weiterbringen sollte. Wenn man in einem Bereich im Leben ein Meister war, sollte man an einer anderen Stelle wieder als Schüler beginnen. Das war ihre Devise. Bei einem Finanzseminar hatten sie gelernt, wie man mit Geld umging. Einen Teil sollte man sparen, einen Teil in Aktien anlegen, einen Teil in Weiterbildung investieren, einen Teil spenden und einen Teil großzügig mit beiden Händen ausgeben. Bisher sah es so aus, dass sie sich von hinten nach vorne durcharbeiteten. Geld ausgegeben hatte Romy jedenfalls reichlich in den letzten Tagen, jetzt war das Thema Spenden angesagt. Sie hatte auf Instagram einen Gitarristen aus dem Saarland entdeckt, der ein Benefizkonzert für Flüchtlingskinder aus Syrien gab. Von den Spendengeldern wollte er ihnen Gitarren kaufen und Musikunterricht erteilen. Diese Idee fanden Romy und Caro so grandios, dass sofort klar war, an wen ihre Spende gehen würde.
Caro lief strahlend auf ihr Auto zu. Ihre blonden Korkenzieherlocken wippten fröhlich im Wind. Gut gelaunt öffnete sie die Beifahrertür.
»Romy, du bist ja gar nicht wiederzuerkennen. Du siehst granatenstark aus.« Caro umarmte sie und schnallte sich an.
Stolz bedankte Romy sich und startete den Wagen.
»Ich bin so gespannt, was das gleich wird. Endlich wieder ein Konzert!«
»Ja, so cool … und dann noch in einer Kirche«, entgegnete Romy und nahm dabei schmunzelnd Caros tiefen Ausschnitt zur Kenntnis. Geht da jemand auf die Jagd? Caro wechselte schnell mal ihre Männer und ließ sich meistens mit verheirateten Exemplaren ein, was oft ein trostloses Ende fand. Sie fuhren auf die nächste Schnellstraße und Romy fädelte sich kurz darauf auf die Autobahn in Richtung Saarland ein.
»Hast du eigentlich in Österreich auch vor, Musik zu machen?«
»Mal sehen. Vielleicht suche ich mir eine Band. Aber anfangs habe ich erstmal genug mit meinem Job zu tun. Wahrscheinlich werde ich die einsamen Abende nutzen, um auf meinem Hotelzimmer Gitarre zu spielen und leise vor mich hin zu singen.«
»Du wohnst in einem Hotel? Während der ganzen Zeit?« Caro sah staunend zu Romy herüber und prüfte im Anschluss ihren Lippenstift in der Beifahrerblende. Dabei zupfte sie ein paar ihrer Locken zurecht.
»Na ja, wir haben doch auf dem Seminar neulich gelernt, wie man richtig verhandelt. Stell dir vor: Das Hotel ist eines der besten im Ort. Es wurde kürzlich erst renoviert und ich konnte noch ein letztes unrenoviertes Zimmer inklusive Halbpension zu einem Superpreis buchen.«
Caro staunte. »Na, das nenne ich mal eine Win-win-Situation.«
»Ja, ich hätte mir sonst niemals ein Hotel über diesen langen Zeitraum leisten können.« Romy zwinkerte Caro zu. »Was machen denn eigentlich deine Männer? Läuft noch was mit diesem Keyboarder?«
»Nee, nicht so richtig. Aber ich habe einen neuen Kollegen, der nicht zu verachten ist.« Caro verschränkte ihre Arme, als wollte sie nicht länger über dieses Thema reden.
»Lass mich raten: Er hat drei Kinder?«
Caro zog eine Grimasse und lachte dann. »Eins.«
»Ach, das geht ja noch. Also ich glaube, ich werde ab Sonntag erstmal mein Sololeben genießen und eine lange Männerpause einlegen«, verkündete Romy und seufzte.
»Hast du schon Schiss wegen Samstag?«, wollte Caro wissen und spielte dabei an Romys Radio herum.
»Sagen wir es so … Ich wäre froh, wenn ich das Ganze schon hinter mir hätte. Er bringt nur noch Schwere in mein Leben.«
Caro schwieg einen Moment lang und sah aus dem Fenster. »Also ich könnte das nicht, immer mit demselben Typen über so einen langen Zeitraum zusammen sein.«
»Warte mal ab, Caro. Eines Tages läuft auch dir die große Liebe über den Weg und dann sieht das alles ganz anders aus. Glaub mir!«
»Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?«
Romy sah auf das Navi. Sie hatten noch Zeit und sie konnte ein wenig ausholen. »Wir kommen ja beide aus Rheinhessen und sind damals auf dieselbe Schule gegangen. Meine Eltern hatten auch dort schon ein Weingut und seine Eltern eine gut gehende Weinstube im Nachbarort. Maik und ich haben uns immer gut verstanden. Wir sind täglich nach der Schule mit dem gleichen Bus nach Hause gefahren. Eines Tages, nach den Sommerferien, als wir gerade in der Oberstufe waren, da hat er mich gefragt, ob ich mit ihm ins Kino gehe.«
»Ach, wie niedlich«, bemerkte Caro mit zuckersüß verstellter Stimme und Romy setzte zum Überholen an.
»Hey, das war damals unglaublich aufregend«, erwiderte sie. »Bei der Frage blieb mir echt die Luft weg. Wir waren noch so jung und hatten beide keine Erfahrung. Am nächsten Tag ist er im Bus einfach sitzen geblieben und bis zu meiner Haltestelle mitgefahren. Dann sind wir zusammen ausgestiegen und er hat mich zum ersten Mal geküsst.«
»Das war ja voll romantisch. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut.«
»Ab diesem Zeitpunkt waren wir dann zusammen. Er hat unsere Initialen in die Wand des Bushäuschens geritzt und meinte: ›Die anderen gehen allein und ich geh jetzt mit dir!‹«
Caro kicherte. »Unglaublich«, sagte sie. »Und später lässt er dich fallen wie eine heiße Kartoffel. Ich sag’s ja immer wieder: Männer sind alle Schweine! Dein halbes Leben hast du jetzt mit ihm vergeudet.« Sie rutschte tief in ihren Sitz und stützte energisch eine Hand an ihre Wange.
»Na, so kann man das ja jetzt auch nicht sagen. Wir waren am Anfang echt unbeschwert und glücklich. Jahrelang ging alles gut. Alles war leicht. Wir brauchten nicht viel. Wir haben zusammen Abi gemacht und während des Studiums und meinen Auslandssemestern hatten wir eine Wochenendbeziehung. Danach sind wir zusammengezogen. Es war echt okay für eine ganze Weile«, erklärte Romy und sah nachdenklich auf die Straße, während Caro schweigend zuhörte. »Aber irgendwie haben wir unseren Lebenstraum an die Wand gefahren. Ich kann mir bis heute nicht erklären, warum alles aus dem Ruder gelaufen ist«, fuhr Romy fort. »Im Sommer sind wir nachts oft ins Freibad gefahren, haben auf’m Fünfer gesessen und unsere Träume ausgetauscht. Aber mittlerweile haben wir fast vergessen, wie alles mal begann …«
»Auf’m Fünfer? Gab’s da keinen Zehner in diesem Dorf?«, scherzte Caro.
»Hey, hey, jetzt mach mal halblang!«, konterte Romy. »Ich hab doch Höhenangst. Da hab ich mich nie hoch getraut.«
»Und? Meinst du, Maik merkt schon etwas von deinen Plänen?«
»Ich glaube nicht. Er ist in den nächsten Tagen erstmal in Berlin bei einem wichtigen Kunden. Dort führt er ein neues Online-Tool ein, um die vielen Geschäftsreisen der Mitarbeiter zu reduzieren.«
»Wenigstens bekommt er beruflich noch was auf die Kette.«
»Ja, das stimmt. In den letzten Jahren hat er sich echt verändert. Sein beruflicher Erfolg stand plötzlich an erster Stelle und er ist immer weiter aufgestiegen. Jetzt leitet er eine große Abteilung, aber glücklicher ist er deshalb nicht. Seine Autos und Klamotten wurden über die Jahre immer größer und teurer. Früher ging er mit Jeans und T-Shirt zur Arbeit und heute können die Klamotten gar nicht teuer genug sein. Angeblich, weil seine Kunden das erwarten. Dafür knapst er an anderen Stellen mit seinem Kleingeld herum. Furchtbar. Wir kommen beide aus soliden Elternhäusern und waren immer zufrieden.«
»Tja, erst kriegen sie alle den Hals nicht mehr voll und später merken sie dann, dass man den ganzen Kram nicht mit ins Grab nehmen kann.«
»Da hast du wohl recht.«
Romy setzte nach einer Weile des gemeinsamen Schweigens den Blinker, wechselte auf die rechte Spur und verließ die Autobahn. Kurz darauf parkte sie direkt vor einer riesigen Kathedrale und beide staunten nicht schlecht.
»Ui, ich glaube, das wird was Größeres«, meinte Caro und legte ihre Stirn in Falten.
Romy zog den Schlüssel aus der Zündung. »Komm, lass uns reingehen! Ich kann es kaum erwarten.«
Sie betraten das Kirchenschiff und Romy atmete tief durch. Die hohe Luftfeuchtigkeit und der Geruch von Weihrauch versetzten sie in einen leichten Schwindel. Über dem Altar funkelten Kronleuchter und Hunderte Kerzen verbreiteten ein schummriges Licht. Ein paar letzte Sonnenstrahlen der untergehenden Abendsonne fielen wie ein Zauber durch die bunten Mosaikfenster. Romy und Caro ließen diese Atmosphäre eine Weile auf sich wirken. Allmählich füllte sich die Kirche. Junge und ältere Menschen aus verschiedensten Kulturen mischten sich bunt durcheinander. Die Freundinnen hatten Glück und ergatterten einen Platz weit vorn. Von dort aus hatten sie eine wunderbare Sicht auf den Altar. Endlich erlebten sie wieder Livemusik. Es fühlte sich göttlich an. Vor ein paar Jahren waren sie aus der Kirche ausgetreten, beide aus gutem Grund. Sie wollten ein Zeichen setzen: So, wie es war, konnte es nicht bleiben. Es musste dringend eine Veränderung her.
»Romy, in unserem nächsten Leben werden wir die Kirche revolutionieren, und zwar so richtig, mit allem Drum und Dran! Und dann treten wir wieder ein.«
»Genau, aber erst dann«, bestätigte Romy und nahm Caro in den Arm. Ihr Herz hüpfte. Es war 19:30 Uhr. Bis in die letzte Ecke war jeder Platz belegt, sogar die Gänge waren voller neugieriger Menschen. Langsam wurde es ruhiger. Neben dem Altar waren Gitarren, Keyboards, ein Schlagzeug, eine Violine und mehrere Mikrofone aufgebaut. Dann kam endlich Jost, der Gitarrist, auf die Bühne. Er war Ende zwanzig, groß, schlank und hatte blonde, wuschelige Haare. Caro zupfte an ihrem Ausschnitt herum, während sie ihn in Augenschein nahm, und Romy musste innerlich wieder einmal schmunzeln. Also doch.
»Was für ein sympathisches Kerlchen!« Romy nickte und genoss den Augenblick. Jost sah genauso gut aus wie in dem kleinen Videoclip im Internet, in dem sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Sie hätte so unglaubliche Lust, sich wieder neu zu verlieben, aber es war ein denkbar schlechter Zeitpunkt. Sie musste erst ihr Leben auf die Reihe bekommen und war jetzt für ein halbes Jahr nicht da. Sie seufzte leise, aber sie blieb stark. Jost nahm seine Gitarre zur Hand und machte einen kurzen Soundcheck. Nach ein paar schüchternen Einleitungsworten sang er seinen ersten eigenen Song ganz allein vor diesem riesigen Publikum.
»Also Geschmack hast du, das muss ich dir lassen.«
Gespielt empört sah Romy sie an. »Aha, ich hab’s geahnt! Du bist schon wieder auf Männersuche.«
»Warum auch nicht?«
Romy rollte amüsiert ihre Augen. »Unverbesserlich!«
Zwei weitere Künstler kamen hinzu, Lexi und Joey. Auch diese beiden Typen waren Raketen, so wie Caro gerne zu sagen pflegte. Sie sangen ein paar Solos, dann gemeinsam einige Liebeslieder und spielten ein bisschen Rockmusik. Jeder von ihnen war einzigartig. Die Menschenmenge war hellauf begeistert. Sie stand bis vorne zum Altar, sang, tanzte und applaudierte.
»Es ist so ungewohnt in einer Kirche … und diese Vollheit …«, meinte Romy und legte ihren Arm schwungvoll über Caros Schulter. Sie war überwältigt.
»Glaub mir, Süße, eines Tages wird dieser von Männern beherrschte Verein da oben es kapieren. Das hier ist zumindest schon mal ein Anfang, um die Gotteshäuser wieder voll zu kriegen.«
Nach dem Konzert versuchten sie, Jost zu sprechen. Es war nicht einfach, an ihn heranzukommen. Viele Menschen standen um ihn und die beiden anderen Sänger herum und gratulieren zu dem außergewöhnlichen und erfolgreichen Konzert. Als sich die Menge etwas auflöste, kam ein geeigneter Moment. Es war die Gelegenheit. Jost stand für einen kurzen Augenblick allein am Altar. Sie sprachen ihn an, stellten sich kurz vor und erzählten ihm, dass sie zwei Gitarren spenden wollten. Caro tauschte mit ihm die Telefonnummern aus, dafür hatte sie immer schon ein Händchen gehabt. Jost bedankte sich und erzählte ihnen, wie gut das Projekt bereits im Vorfeld gelaufen war. Seine Schüchternheit vom Beginn des Abends hatte sich zwischenzeitlich in Luft aufgelöst. Es war wohl das Lampenfieber gewesen. Das kannten Romy und Caro nur zu gut. Nach dem Gespräch gingen sie strahlend auf das Ausgangsportal zu und verließen berauscht die Kathedrale.
»Es läuft, Romy!«, sagte Caro und die beiden schwebten über den Asphalt.
»Jetzt nur noch anlegen, sparen, weiterbilden und weiterhin ordentlich Geld ausgeben.«
»Das kriegen wir hin.« Daran hatte Romy gar keinen Zweifel.
Mit einem unglaublichen Glücksgefühl im Bauch liefen sie zurück zum Wagen und machten sich auf den Heimweg.
Noch zweimal schlafen.