Читать книгу farbenblind - Jessica Barc - Страница 17
ОглавлениеKapitel 10
Ein Stück blauer Himmel
Toi, toi, toi!, dachte sie am nächsten Morgen, als sie sich wieder einigermaßen stabil fühlte. Romy blieb zuversichtlich, denn das Leben musste ja irgendwie weitergehen.
Direkt neben ihrem kleinen Hotelzimmer zog ein Pärchen ein. Beide waren ungefähr in Romys Alter. Mona und Jan, bildhübsch und wie aus dem Ei gepellt. Romy unterhielt sich mit ihnen angeregt über die wunderschöne Gegend und tauschte Tipps für ein paar Ausflüge aus. Jan hielt sich etwas im Hintergrund, aber wenn er etwas sagte, wirkte er unglaublich vertrauenswürdig. Unter Monas Blazer wölbte sich eine deutlich erkennbare Kugel hervor.
»Wir erwarten bald Nachwuchs«, erzählte Jan stolz und strich seiner Partnerin liebevoll über den Bauch. Romy musterte sie mit einem beneidenswerten Blick und checkte kurz ab, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden würde. Ihre Oma hatte ihr erklärt, woran man es erkannte. Mona war so grazil. Von hinten konnte man nicht sehen, dass sie schwanger war. Deshalb stand für Romy fest: Es wurde ein Junge!
»Wir waren heute auf einer frei schwebenden Brücke in 130 Metern Höhe, in der Nähe von Reutte«, erzählte Mona aufgeregt. Romys Höhenangst ließ grüßen.
Verschmitzt lächelte Jan. »Fast hätten die Wehen eingesetzt.«
Romy lachte und war erstaunt über den Mut des jungen Paares. »Seid ihr lebensmüde?« Sie dachte darüber nach, wie gerne sie später einmal Kinder haben würde – von einem Mann, der sich so rührend mit ihr freuen würde, wie dieser Jan es tat.
»Es wird bestimmt ein supersüßes Baby, bei den Eltern«, bemerkte Romy mit einem Augenzwinkern. »Genießt die Nächte, in denen ihr noch durchschlafen könnt!«
»Das machen wir.« Liebevoll nahm Jan seine Mona in den Arm.
»Seid ihr auch gleich beim Essen im Hotel?« Hoffentlich klang die Frage nicht aufdringlich.
»Ja, wir kommen auch gleich«, sagte Jan und schloss zeitgleich die Tür zu ihrem Hotelzimmer auf. Unauffällig linste Romy durch die Eingangstür. Aus dem Augenwinkel erkannte sie das moderne Design passend zum Haupthaus. Ihr eigenes Zimmer schien tatsächlich eines der letzten zu sein, das noch keinen frischen Lack bekommen hatte. Sie winkte dem jungen Paar zu und lief hinunter zum Hauptgebäude. Das Abendessen begann ab 18:00 Uhr. Sie verspürte einen Bärenhunger. Auf dem Weg sah sie ein paar dicke, schwarze Wolken am Himmel aufziehen. Auf der gegenüberliegenden Seite war der Horizont noch klar und blau. Die Bergspitzen glühten in der untergehenden Sonne. Ein leises Grollen war zu hören. Gut, dass sie heute Abend unter den vielen Hotelgästen nicht ganz allein war. Vor Gewitter hatte sie furchtbare Angst. Ihre Gefühle drehten jetzt Loopings. Willkommen in den Bergen! Zügig lief sie weiter, betrat das Foyer des Hotels und stibitzte sich im Vorbeigehen die New York Times aus dem Zeitungsständer an der Rezeption. Damit fühlte sie sich am Abend nicht so allein und konnte darin versinken, sobald das ungewohnte Singleleben unangenehm für sie wurde.
Bereits auf dem Weg ins Restaurant duftete es verführerisch nach Tiroler Spezialitäten. Sie wurde wie üblich von einem jungen Kellner ins Restaurant zu einem Einzelplatz geführt. Er nahm das ReserviertSchild vom Tisch, zündete eine Kerze an und wünschte ihr einen angenehmen Abend. Sie bedankte sich und platziere ihre Zeitung neben sich auf der Eckbank. Über ihrem Platz hingen üppige Kuhglocken, die sie mit großen Augen bewunderte. Sie hoffte insgeheim, dass Mona und Jan gleich nachkommen würden. Neugierig schaute sie sich um und war wieder einmal erstaunt, wie viele schöne Menschen es an diesem Ort gab. Am Nachbartisch saß ein Paar Mitte fünfzig. Viel zu erzählen hatten sie sich nicht. Er wirkte gedanklich abwesend. Das kam Romy bekannt vor. Es war nicht zu übersehen, dass seine Frau dem Alterungsprozess in ihrem Gesicht bereits ordentlich nachgeholfen hatte. Romy schmunzelte in sich hinein und erinnerte sich an die Worte ihres Lieblingsradiosprechers: »Es gibt keine hässlichen Menschen, es sei denn, sie sind operiert!« Er hatte ihr aus der Seele gesprochen. Ihr Handy leuchtete auf. Maik schrieb ihr ein weiteres Mal.
[Maik, 18:27] Romy, wo bist du? Ich muss mit dir reden. Es tut so verdammt weh, dass ich keine Rolle mehr in deinem Leben spiele.
Die Rolle, die du am Ende noch gespielt hast, die ist leicht zu ersetzen!, dachte sie und sah dabei nachdenklich aus dem Fenster. Wo warst du damals, als ich dich während meiner Tiefphase so dringend gebraucht habe?
Als der Kellner erneut an ihren Tisch kam, bestellte sie sich ein kleines Glas Weißwein und eine große Flasche Mineralwasser. Dann ging sie zum Ausgang und rief Laura an, mit der sie in täglichem Austausch stand.
»Hey, Laura, wie geht es dir?«
»Gut, und wie läuft es bei dir in den Alpen?«
»Auch gut, ich bin gerade im Hotelrestaurant und genieße gleich eines meiner einsamen Abendessen. Ich wollte dir nur kurz sagen, dass Maik sich schon wieder bei mir gemeldet hat und mit mir reden will.«
»Och nee«, stöhnte sie. »Schreib ihm klipp und klar, dass du keinen Kontakt mehr zu ihm willst. Das ist die einzige Möglichkeit, um von ihm loszukommen.«
»Und was ist, wenn er mir was Wichtiges sagen will?«
»Dazu hatte er lange genug Zeit. Und zur Not kann er es dir schreiben.«
»Ja, du hast ja Recht«, gab Romy klein bei und seufzte.
»Wenn etwas Gras über die Sache gewachsen ist, dann könnt ihr immer nochmal über alles reden. Aber jetzt ist es noch zu frisch.« Romy nickte wortlos vor sich hin und prüfte durch die Fensterscheibe, ob der Ober schon ihre Getränke gebracht hatte.
»Ich trinke jetzt erstmal ein Glas Wein. Das holt mich wieder runter.«
»Wein? Ich denke, du bist allergisch und trinkst das Zeug nicht in der Öffentlichkeit?«
»Ja, aber heute ist es mir egal. Bei dem gedämpften Licht sieht man die roten Flecken am Hals hoffentlich nicht.«
»Na, dann wünsche ich dir einen schönen Abend.«
»Danke, dir auch. Mach’s gut und bis dann.«
Romy verstaute ihr Handy in ihrer Hosentasche und machte sich auf den Weg zum Buffet. Was den Hotelgästen dort geboten wurde, war ein wahrer Traum. Sie hatte sich vorgenommen, immer mal wieder vegetarische Tage einzulegen. Das wird wohl heute nix, stellte sie beim Anblick des außergewöhnlichen Angebots fest. Ohne zu zögern, griff sie zu einem Stückchen rosa gebratenem Rinderfilet an Sauce Hollandaise. Ab sofort plante sie, jeden Morgen um den Vilsalpsee zu joggen, denn so ein wunderbares Essen waren sie und ihr Körper nicht gewohnt. Dem letzten Platz auf ihrem Teller gönnte sie noch ein paar speckumwickelte Böhnchen. Augen zu und durch!
Von weitem sah sie die werdenden Eltern vom Nachbarzimmer den Raum betreten. Ein Stück von ihr entfernt wurde ihnen ein kleiner Tisch direkt am Fenster zugewiesen. Sie sahen wieder einmal umwerfend aus. Romy schaute unauffällig zu ihnen herüber. Jan rückte seiner Mona den Stuhl vom Tisch und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Romys Vater hatte sie immer vor dieser Sorte Männer gewarnt. »Das sind die Ersten, die wieder weg sind«, klang es in ihren Ohren nach. Doch sie war sich sicher, er war anders. Nach zwei Gängen am Buffet und einer sündhaft leckeren weißen Mousse au Chocolat mit puderzuckerverzierten Himbeeren und einem klitzekleinen Sahnehäubchen verließ Romy ihren Tisch und winkte Mona und Jan zu. Die beiden gaben ihr ein Zeichen und sie steuerte zielgerade auf sie zu.
»Guten Appetit und einen schönen Abend euch beiden.«
»Danke schön. Wie heißt du eigentlich?«, fragte Mona.
»Romy.«
»Ein schöner Name«, stellte sie fest. »Kommst du aus Österreich?«
»Nein, ich komme aus Freiburg, aber gebürtig aus Rheinhessen. Und woher kommt ihr?«
Wieder war Mona diejenige, die antwortete. »Wir kommen aus München. Sag mal, hast du Lust, mit uns noch in die Bar unten im Haus zu gehen?«
Romy zögerte und prüfte Jans Reaktion, der sie freundlich anlächelte.
»Gerne, wart ihr dort schon mal?«
»Ja, es gibt wunderbare Drinks, sogar alkoholfrei für schwangere Frauen wie mich. Wir haben schon oft hier Urlaub gemacht und kennen die Cocktailkarte in- und auswendig.« Mona strahlte sie an und nahm einen Schluck aus ihrem Wasserglas.
»Das hört sich gut an.«
Jan legte die Serviette neben seinem Teller ab, stand auf und rückte Monas Stuhl ein weiteres Mal zur Seite. »Dann wollen wir mal. Komm, wir zeigen dir den Weg nach unten!«
Die Bar war außergewöhnlich stylisch. Hunderte Kerzen leuchteten in einem gemütlichen Gewölbekeller. Romy registriere sofort, dass es hier Livemusik gab. Direkt neben der Bar waren zwei Boxen, ein Mikro, ein Keyboard und eine Gitarre aufgebaut.
»Hier bleibe ich«, verkündete Romy und sah beeindruckt auf die gigantische Auswahl an Alkoholika, die beleuchtet im Regal hinter der Theke standen. Sie setzten sich in eine gemütliche Ecke an einen kleinen Holztisch. Direkt hinter einer Glasscheibe, die die Bar vom Eingangsbereich trennte, hatten sie einen wunderbaren Überblick über die Gäste, die hier ein- und ausgingen. Der außerordentlich gut gelaunte Barkeeper reichte ihnen die Getränkekarte, während sich die Bar mit Menschen unterschiedlichen Alters füllte, die nach unglaublich viel Geld aussahen. Romy war sich noch nicht sicher, ob ihr das auf Dauer sympathisch war oder nicht. Aber sie bewertete das natürlich nicht. Der Kellner brachte ihnen drei Meisterwerke von Cocktails und scherzte ein bisschen mit ihnen herum.
Sie stießen gemeinsam mit ihm auf einen schönen Abend an und genossen den ersten, kühlen Schluck. Romy liebte die Kombination aus Sahne, Kokos und Ananas, zupfte die gelbe Fruchtdekoration von ihrem Glas und knabberte daran herum. Ihr Longdrink schmeckte göttlich. Vor allem war Alkohol in dieser Form die günstigste Lösung für sie. Bereits nach einem wurde ihr schlecht. Mona bekam plötzlich große Augen und legte eine Hand auf Romys Arm.
»Schau mal, die beiden Typen dort an der Theke! Das könnten Vater und Sohn sein.«
Romy sah zu den beiden Männern herüber. Sie waren groß, sportlich-elegant gekleidet und unglaublich attraktiv. Im selben Augenblick spürte sie, wie eine angenehme Wärme durch ihre Glieder zog, auf die sie keinerlei Einfluss hatte. Wie konnte ihr Körper in so kurzer Zeit eine solche Reaktion hervorbringen? Dann war durch ihre lange Abstinenz anscheinend doch noch nicht alles eingerostet. Sie korrigierte ihre Sitzhaltung in eine kerzengerade Position und rührte hochkonzentriert in der Schaumkrone ihres Longdrinks herum.
»Aber dafür haben sie zu wenig Ähnlichkeit«, stellte sie fest und strich sich dabei durch die offenen Haare, die über ihre Schulterblätter fielen.
»Die sehen ja mal richtig gut aus. Und so sympathisch!« Mona legte ihre Hand auf Jans Oberschenkel.
»Das sind dann jetzt wohl die Buttercremetörtchen unter den Sahneschnitten«, meinte Romy. »Da muss man doch glatt bis in die Alpen fahren, um so etwas geboten zu bekommen.« Albern kicherte sie vor sich hin.
Mona nahm einen kleinen Schluck aus dem Cocktailglas ihres Partners. »Der mit den dunklen Haaren hat genau das passende Alter für dich.«
»Ihr Frauen seid unglaublich. Kaum sitzen wir hier in der Bar und schon seid ihr auf Männerschau!« Lachend schüttelte Jan den Kopf und zog sein Glas wieder zu sich.
Mona ließ sich augenrollend in ihren Stuhl zurückfallen. »Ich halte nur für Romy die Augen auf.«
»Also eigentlich wollte ich ja eine längere Männerpause einlegen«, erklärte Romy mit unschuldigem Blick und spielte an ihrem Untersetzer herum. Immer wieder erwischte sie sich dabei, wie sie zur Theke herübersah. Mona hatte recht. Die beiden waren tatsächlich nicht zu verachten. Sie zwinkerte ihnen selbstbewusst zu und der Jüngere von beiden sah Romy etwas länger, als es normalerweise üblich war, in die tiefbraunen Augen. Eine Spur Adrenalin fädelte sich jetzt unaufgefordert in Romys Blutbahn ein, woraufhin sie verlegen zur Seite sah. Cool down, Romy! Cool down!, forderte sie sich auf. Dann nahm sie einen etwas größeren Schluck von ihrem Cocktail.
»Ich habe ewig nicht geflirtet.« Etwas überfordert lehnte sie sich zu Mona. »Ich weiß gar nicht mehr, wie das geht.«
»Das lernt man schnell, Romy. Einfach ein bisschen mutig sein. Du hast doch nichts zu verlieren. Außerdem bist du ein echter Hingucker.«
»Danke für das Kompliment!« Romy überlegte, ob es mal wieder an der Zeit war für ein Experiment. Sie hatte doch versprochen, immer schön die Hausaufgaben zu machen, die ihr Coach ihr mit auf den Weg gegeben hatte. Es blieben noch satte 90 Minuten bis Mitternacht.
Der Sänger hatte eine schöne und starke Stimme, war aber mit den Musterstücken aus dem Saarland nicht zu vergleichen. Trotzdem schaffte er es in kürzester Zeit, eine außergewöhnlich gute Stimmung in die Bar zu bringen. Er spielte ein paar aktuelle Charts und fragte nach einer Weile, ob jemand mit ihm im Duett das Lied Lebenslang singen wollte. Romy wurde hellhörig und zeitgleich etwas nervös. Diesen wunderschönen Song hatte sie gefühlte tausend Mal in ihrer Band gesungen. Sie hatte so Lust drauf! Das war genau der richtige Moment für ein bisschen Kitsch in dieser oft so grauen Welt.
In der Pause ging sie auf den Sänger zu und erklärte sich für das gemeinsame Duett bereit. Aber nur unter einer Bedingung: Sie wollte vorher einmal im Vorraum mit ihm proben. Vor den beiden Männern wollte sie sich auf keinen Fall blamieren. Immerhin würde sie ihnen vielleicht noch ein paar Mal im Hotel begegnen. Man wusste ja nie, wie lange die Gäste in diesem Haus bleiben würden.
»Du bist ja mal richtig cool«, meinte der Sänger mit spritzig österreichischem Akzent. »Eigentlich meldet sich selten jemand zum Duett! Ich versuche auch, Hochdeutsch zu singen.« Romys Puls stieg. Flüchtig gingen sie die Noten und den Text durch.
»Ich gebe dir gleich ein Zeichen. Noch zwei Songs und dann sind wir zwei dran.«
»Das ist gut. Dann bleibt kaum Zeit für Lampenfieber!«, bemerkte Romy und setzte sich wieder zurück zu ihrem verliebten Paar.
»Super chic, die Toiletten«, meinte sie zu ihrer Tischnachbarin und ließ sich nichts weiter anmerken.
»Wie lange bleibst du denn hier im Hotel?«, wollte Mona wissen.
»Ein halbes Jahr.«
Erstaunt sah Jan sie an. »Wie bitte? Ein halbes Jahr? Komm, sag mal ehrlich!«
»Ja, ich bleibe tatsächlich ein halbes Jahr hier. Ich habe beruflich im Tannheimer Tal zu tun und wohne während eines Auftrags hier in diesem Hotel.«
»Das ist ja der Wahnsinn. Dann kannst du dich danach ja kaum an ein normales Leben gewöhnen«, meinte Mona und legte beeindruckt ihren Zeigefinger unters Kinn.
»Genau. Danach bin ich versaut für’s Leben«, witzelte Romy. Ihr wurde noch einmal bewusst, was für eine aufregende Zeit vor ihr lag und wie glücklich sie sich schätzen konnte, all diese Dinge erleben zu dürfen. Sie erzählte von ihrer frischen Selbstständigkeit und ihrem ersten Auftrag. Die beiden waren hellaufbegeistert.
Als sich der zweite Song dem Ende näherte, spürte Romy erneut den Anstieg ihrer Körpertemperatur und einen leichten Druck im Hals. Sie war aufgeregt. Der Alkohol stieg ihr langsam zu Kopf, aber sie hatte sich unter Kontrolle. Der Typ am Mikro gab ihr das angekündigte Zeichen.
»Ich bin sofort wieder zurück«, flüsterte sie ihren Tischnachbarn zu, stand auf und ging zielstrebig nach vorne zum Mikrofon, vorbei an den zwei Sahneschnitten.
»Liebe Gäste, darf ich vorstellen? Das ist heute Abend meine mutige Duett-Partnerin Rosie. Wir singen heute zum ersten Mal ein wunderschönes Liebeslied zusammen!« Die Gäste applaudierten und Romy räusperte sich weit entfernt des Mikrofons. Hat er meinen Namen nicht richtig verstanden? Hat er gerade ›Rosie‹ gesagt? Sie konzentrierte sich wieder auf den Liedtext, der vor ihr lag, und genoss den Moment. Im Raum wurde es still. Der Keyboarder begann zu spielen und seine Stimme setzte ein. Er sang den ersten Teil des Liedes, Romy übernahm später und am Ende sangen sie gemeinsam den Refrain.
Entweder hopp oder top. Sekt oder Selters. Alles oder nichts. Die Musik wurde leiser. Sie hatte perfekt abgeliefert. Ihr Duett-Partner strahlte sie an und beendete das Lied mit einem letzten Akkord am Keyboard. Ihr erster Blick ging bewusst zu Mona und Jan, dann sah sie zu den zwei Gästen an der Bar. Sie standen auf und applaudierten. Romy war berauscht von diesem Moment. Sie versuchte stark zu bleiben und bedankte sich mit einem flüchtigen »Danke schön« bei ihren Zuhörern. Als sie kurz darauf an den zwei Männern vorbeiging und ihnen ihr wärmstes Lächeln schenkte, holte sie tief Luft. Dabei nahm sie den Duft von einem sinnlich maskulinen Parfum in sich auf,das eine fesselnde Mischung aus holziger und ledriger Note in sich trug. Contenance, Romy!
Als sie zurück an ihren Platz kam, füllten sich ihre Augen unwillkürlich mit Tränen. Sie merkte, dass sie zum ernsthaften Flirten einfach noch nicht stark genug war. Romy nahm ihr Cocktailglas und trank es in einem Zug aus. Ihre Gedanken gingen zu Maik. Der Trennungsschmerz war einfach noch zu frisch. Verdammt!
»Hey, Gratulation, Romy«, beglückwünschte Jan sie. »Das war ja unglaublich. Hast du das schon öfter gemacht?« Kurzerhand zog er Romy zu sich heran und nahm sie in den Arm. Er strich ihr über die Schulter und Romy weitete währenddessen ihre Augen, um die Tränenflüssigkeit darin zu halten. Sie hasste es, sich in solch emotionalen Momenten nicht unter Kontrolle zu haben.
»Ab und an, ja. Ihr Lieben, es tut mir leid. Ich muss morgen früh raus und langsam in mein Bett. Ich hoffe, wir sehen uns in den nächsten Tagen noch einmal.«
»Du willst schon gehen? Wie schade. Bleib doch noch!«, sagte Mona hoffnungsvoll.
»Ich würde gerne, aber …«
»Deine Stimme ist außergewöhnlich schön«, lobte Mona. Auch sie erhob sich, um Romy in den Arm zu nehmen.
Komplimente von Frauen zählen doppelt, dachte sie und sah etwas verlegen zur Seite, um nach ihrer Jacke zu greifen.
»Macht’s gut, ihr zwei! Ich muss wirklich los.«
Romy winkte den beiden zu und verließ die Bar, ohne sich noch einmal umzusehen. Ihre Emotionen hatten sie wieder einmal fest im Griff.Was war das denn? Ich kann es selbst nicht glauben. Grenzen gibt es nur in unseren Köpfen, hat Buchi immer zu mir gesagt.
Bis zu ihrem Zimmer waren es ein paar Meter zu laufen. Es regnete stark. Sie zog die Jacke über ihren Kopf und blinzelte kurz darunter hervor, bevor sie durch die Drehtür nach draußen trat. Die grellen Adern der flackernden Blitze ließen tiefschwarze Wolkentürme am Himmel erkennen. Sie lief, so schnell sie konnte, und zählte dabei die Sekunden bis zum Einsetzen des Donnergrollens. 1, 2, … es krachte. Oh mein Gott. Es ist direkt über mir. Das Wasser auf dem Asphalt platschte rechts und links gegen ihre Kleidung.
Sie schloss ihre Zimmertür auf und warf sich völlig durchnässt auf ihr frisch bezogenes Bett. Sie empfand so viel Stolz und Traurigkeit zugleich. Und dann dachte sie an die Männer an der Bar, die sie vielleicht niemals wiedersehen würde. Für einen Moment lang weinte sie sich blind, denn ihr war bewusst, dass es noch eine verdammt lange Zeit brauchen würde, bis sie ihre Vergangenheit verarbeitet hatte.
Chance vertan. Morgen ist ein neuer Tag, tröstete sie sich selbst und schlief wenig später ein.