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Kapitel 1

Das Ende

Juli 2019

Als der Airbus zum Landeanflug ansetzte, wusste sie bereits, dass es ihre letzte Urlaubsrückkehr an seiner Seite sein würde. Romy starrte auf die kleine Papiertüte in der Zeitungsablage an ihrem Vordersitz. Allein schon der Anblick bereitete ihr ein flaues Gefühl im Magen. Zeitgleich spürte sie wieder diesen Kloß in ihrem Hals, der seit Tagen immer ein Stückchen tiefer rutschte. Monatelang schon wurde ihre Beziehung mit Maik von einem eisigen Wind begleitet. Anstatt abzuflauen, nahm er jetzt immer mehr an Fahrt auf.Ihr war bewusst, was das bedeutete: Stürmische Zeiten lagen vor ihr.

Doch es war nicht nur ihr Privatleben, das seit langem keine Erfüllung mehr versprach, auch beruflich drehte sie sich im Kreis. Ihr Coach hatte sie gelegentlich daran erinnert, dass sie ihr Umfeld nicht ändern könne, sondern nur sich selbst. Erst dann würde sich alles um sie herum ändern. Das war leichter gesagt als getan, aber dieser Satz gewann in ihrem Leben zunehmend mehr an Bedeutung. Immerhin hatte sie in ihrem Italienurlaub viel Zeit zum Nachdenken gehabt und ihr war inzwischen eines klar geworden: Sie wollte raus aus diesem Leben. Raus aus dieser Sackgasse. Es mangelte nur noch an einem Plan, und zwar Plan B.

Die Maschine verlor deutlich an Höhe. Romy schob die Fensterblende nach oben, als der Tower am Terminal sichtbar wurde. Während ihr Sitznachbar sie früher bei jedem Landeanflug beruhigt hatte, weil er wusste, wie sehr sie diese Situation stresste, saß er jetzt teilnahmslos neben ihr und schwieg. Seit ihrer Auseinandersetzung am Morgen hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und versuchte, sich so wenig wie möglich von ihrer Angst anmerken zu lassen. Im selben Augenblick fuhren die Fahrwerke aus. Oje! Sie drückte ihre Stirn an die kühle Plexiglasscheibe und konnte das Aufstellen der Landeklappen beobachten. Romy schloss die Augen. Wenige Sekunden später setzte die Maschine auf.Ein Adrenalinkick zog durch ihre Adern, bevor sich im nächsten Moment die ersehnte Erleichterung einstellte. Das bekannte Rauschen des Umkehrschubs drang in ihre Ohren. Endlich war er wieder da, der feste Boden unter ihren Füßen … wenn auch nur physisch. Draußen tobte der Sommer und in ihr herrschte tiefster Nebel.

Als sie etwa eine halbe Stunde später den Ankunftsterminal verließen und Romy an den Gehsteig trat, um dem ersten Fahrer in der Taxischlange ein Zeichen zu geben, setzte sich dieser mit seiner Limousine geräuschlos in Bewegung. Sie sprang schreckhaft einen Schritt zur Seite. Maik strich sich durch die blonden Haare und belächelte ihre Ungeschicktheit. Sie ignorierte sein Verhalten, ähnlich wie auch er sie mittlerweile gerne mal übersah. Der Taxifahrer nahm Romy das Gepäck ab und sah tief in ihre braunen Augen.

»Immer schön vorsichtig sein. Elektroautos hört man kaum. Das kann schon mal gefährlich werden.«

»Ja, ähm«, stotterte sie, »das ist echt ungewohnt. Aber danke, dass Sie für mich gebremst haben.« Freundlich lächelte sie ihn an und überlegte, wann Maik ihr das letzte Mal einen solchen Blick zugeworfen hatte. Erinnern konnte sie sich nicht.

»Bei Frauen wie Ihnen sollte man als Mann lieber Gas geben«, flirtete er leise und hielt ihr die Hintertür des Wagens auf. Maik hatte bereits auf dem Beifahrersitz seinen Platz eingenommen und bekam von alledem nichts mit. Er nannte dem Fahrer die Adresse, noch bevor dieser sich ans Steuer gesetzt hatte, und klärte ihn ungefragt über die Vor- und Nachteile der HybridAntriebstechnologie auf. Romy saß auf dem Rücksitz und verdrehte innerlich die Augen. Zu Beginn ihrer Beziehung hatte sich Maik noch dank ihrer Hilfe durchs Abi gefummelt und jetzt meinte er permanent, er müsse ihr und seinem Umfeld die Welt erklären …

Die Klimaanlage lief auf Hochtouren. Romy löste ihr Tuch vom Hals und legte es eng um ihren leicht bekleideten Oberkörper. Der Fahrer sah in den Rückspiegel und suchte Blickkontakt, um sie mit in das Gespräch einzubinden, während Maik ohne Punkt und Komma weiter auf ihn einredete.

Wenige Minuten später bogen sie in eine kleine Seitenstraße am Freiburger Stadtrand ein. Der Wagen hielt vor einem verklinkerten Mehrfamilienhaus, in dem sie seit sieben Jahren gemeinsam wohnten. Altbauwohnung, vierter Stock. Als der Chauffeur den Preis nannte, kramte Maik hektisch in seinem Kleingeldfach. Romy war fassungslos. Sie zog wortlos ihr Portemonnaie aus der Tasche, reichte dem Fahrer zwei Scheine und bedankte sich freundlich für seinen Fahrservice. Er sah sie freudestrahlend an, stieg aus und lud die Gepäckstücke wieder aus dem Kofferraum.

Maik war bereits auf dem Weg zur Haustür, als der Chauffeur ihr noch einen letzten Satz zuflüsterte: »Sie sind eine unglaublich attraktive Frau. Ich hätte Ihnen gerne ein Lächeln entlockt.« Romy errötete. Diese Worte gingen ihr runter wie Öl. Sie war groß und schlank. Ihre feine Haut war gebräunt und ihre langen dunklen Haare hatte sie zu einem lockeren Zopf geflochten. Dass sie italienisches Blut in den Adern trug, war nicht zu übersehen und gab ihren feinen Gesichtszügen eine ganz besondere Ausstrahlung. Dessen war sie sich bewusst, und dennoch war ihr Selbstwertgefühl in den letzten Jahren auf seltsame Weise mehr und mehr abhandengekommen. Jahrelang war sie mit Scheuklappen durchs Leben gelaufen, weil sie nur Augen für einen Mann gehabt hatte. Jetzt strahlte sie und schenkte dem Fahrer ihr schönstes Lachen, das durch die gesamte Siedlung hallte.

»Vielen Dank!« Mit diesen Worten drehte sie sich um, lief auf den Hauseingang zu, die Treppe hinauf ins Dachgeschoss. Die Tür ihrer Wohnung stand bereits offen. Sie stellte ihren Koffer im Flur ab und öffnete in jedem einzelnen Raum die Fenster. Sie brauchte wie immer Luft. Luft zum Atmen. Maik verschwand wortlos mit seinem Laptop in seinem Büro und schloss die Tür hinter sich. Romy ging in die Küche und trat auf den Balkon. Zum ersten Mal in ihrem Leben vermisste sie diesen besonderen Moment, wenn sie aus dem Urlaub zurückkam und sich wieder so heimisch in ihren vertrauten vier Wänden fühlte. Aber heute fühlte sie nichts. Nur innere Leere. Ihre geliebten Kräuter ließen trostlos die Köpfe hängen. Sie setzte mit ihrer kleinen Gießkanne jeden einzelnen Pflanzentopf unter Wasser und beobachtete, wie die dunkle Erde in Sekundenschnelle die Flüssigkeit in sich aufsaugte. Für einen Moment erinnerte diese Situation sie daran, wie sehr auch sie sich nach Aufmerksamkeit und Zärtlichkeiten sehnte. Aus dem Garten nebenan waren heitere Stimmen und leise Partymusik zu hören. Romy beugte sich über das Geländer, sah hinunter und winkte ihren Nachbarn zu, die eifrig ihre Teller an einem Salatbuffet füllten und ihre lebhaften Kleinkinder bespaßten. Das Leben konnte so schön und leicht sein. Wie lange hatten Maik und sie keine Gäste mehr eingeladen? Wann hatten sie das letzte Mal unbeschwert gefeiert und gelacht?

Romy verbrachte den Abend allein auf dem Balkon, denn ihr Mitbewohner machte keine Anstalten, sein Büro noch einmal zu verlassen. Ab und zu drang ein leises Lachen durch die Tür, sonst nichts. Die tief liegende Sonne versank langsam hinter den umliegenden Häusern und die Partystimmung nebenan wurde immer ausgelassener. Ihr Leidensdruck stieg. Als der Nachtwind eine leichte Gänsehaut auf ihre Arme legte, ging sie entschlossen ins Haus. Sie setzte sich an den kleinen Sekretär im Wohnzimmer und fuhr ihren Rechner hoch. Die Zeit tickte, sie musste ins Handeln kommen. Romy scrollte durch ihre eigene Internetpräsenz, die sie im Urlaub erstellt hatte, um eines Tages ihre geplante Selbstständigkeit zu verwirklichen. Im Anschluss checkte sie ihre Finanzen. Ihre Oma, die bis zu ihrem Tod vor drei Jahren einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben gewesen war, hatte ihr immer nahegelegt, autark zu sein. Sie sollte sich niemals von einem anderen Menschen abhängig machen. Das war jetzt ihr Trumpf.Sie holte sich ein Glas Weißweinschorle aus der Küche und eine große Tafel Schokolade. Dann öffnete sie ein leeres Dokument.

In dieser Nacht verfasste Romy ihre Kündigung an das Architekturbüro Heitmann & Partner, in dem sie seit Beendigung ihres Studiums arbeitete. Gleich im Anschluss nahm sie ihren Füllhalter und bestückte ihn mit einer frischen tiefblauen Tintenpatrone. Sie hatte sich bereits warm geschrieben. Nach drei zögerlichen Anläufen, die anfangs zerknüllt im Papierkorb und später sicherheitshalber im Schredder landeten, verfasste sie einen mehrseitigen Abschiedsbrief an Maik, mit dem sie fast auf den Tag genau sechzehn Jahre lang zusammen war. Ihr halbes bisheriges Leben. In aller Ruhe schrieb sie sich ihre Gedanken und Gefühle von der Seele und erklärte ihm sachlich und ausgiebig ihren Entschluss. Mit jeder Zeile fühlte sie sich befreiter.

Es war schon weit nach Mitternacht, als sie die Briefe jeweils gefaltet in ein Kuvert eintütete und mit ihrer gleichmäßigen Handschrift schwungvoll die Adressaten draufschrieb. Dann knipste sie das Licht im Wohnzimmer aus. Leise schlich sie erst ins Bad und dann in die verkehrsberuhigte Zone – das Schlafzimmer. Maiks Atemgeräusche signalisierten ihr, dass er bereits tief und fest schlief. Sie zog vorsichtig die Schublade ihres Nachttischs auf und verstaute die beiden Umschläge in einem Schuhkarton. Wann diese Zeilen ihre Empfänger erreichen würden, war ihr zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, aber eines war sicher: Es war nur noch eine Frage der Zeit. Sie zog ihre Kleidung aus, legte sich leise neben ihn auf den Rücken und flüsterte vor sich hin:

»Ich bin privat und beruflich glücklich und frei!«

Sie zog die Bettdecke über ihren Körper, drehte sich auf die Seite und fiel kurz darauf in einen ungewohnten Tiefschlaf.Es war seit langem die erste Nacht, in der sie frei von Alpträumen war.

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