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Kapitel 2

Der Coach

Es war Anfang September. Der heiße Sommer neigte sich langsam dem Ende entgegen. Romys Tankanzeige leuchtete bereits seit dem Vorabend. Noch sechzehn Restkilometer. Um 17:00 Uhr begann nach einer längeren Sommerpause ihre letzte Therapiestunde bei Professor Buchenbach. Offiziell war er ihr Coach, in Wirklichkeit Psychiater. Sie war spät dran. Es war egal. Sie war sowieso zu spät. Wenn sie in den letzten drei Jahren eines bei ihm gelernt hatte, dann war es: einatmen, ausatmen und locker bleiben! Wenige Minuten später hielt sie in einer kleinen Gasse nahe seiner Praxis und kramte ungeduldig im Handschuhfach nach ihrer Parkscheibe. 17:08 Uhr. Sie drehte die Scheibe auf 17:30 Uhr, ein bisschen Mogeln konnte nicht schaden. Romy stieg aus ihrem Wagen und trat auf das wunderschön restaurierte, alte Gebäude zu. Wie jedes Mal sah sie beeindruckt auf das Klingelschild.

Prof. Dr. med. Dipl.-Psychologe Kai-Uwe Buchenbach

Der Titel war ihr zu lang. Wenn sie mit ihrer besten Freundin Laura über ihn sprach, wurde er von beiden schlichtweg Der Coach oder Buchi genannt. Dieser Mann war ihr Fels in der Brandung. Einer für alles. Er wusste alles über sie und kannte all ihre Stärken und Schwächen. Selten gab er ihr einen Ratschlag. Viel häufiger stellte er ihr diese ganz besonderen Fragen, die sie immer wieder zum Nachdenken anregten, damit sie selbst die passenden Lösungen für ihr Leben fand. Genau genommen hatte sie sich – wie wahrscheinlich jeder, der jemals auf seinem Sofa gesessen hatte – einmal komplett ausgezogen. Und was wusste sie über ihn? Erschütternd wenig. Therapie ist ungerecht, dachte sie.

Romy hatte den Klingelknopf gerade losgelassen, da dröhnte schon der Summer. Die Tür sprang auf. Eilig lief sie durch das frisch geputzte Treppenhaus in die zweite Etage. Der laut knarrende Holzboden unter ihren Füßen verriet ihren Zeitverzug. Es duftete vertraut nach Ingwer-Zitronen-Tee. Professor Buchenbach erwartete sie mit seiner hochgewachsenen und kräftigen Statur bereits im Türrahmen und lächelte sie an. Die randlose Nickelbrille saß auf seiner Stirn und sein leicht ergrauter Dreitagebart war heute echt überfällig. Ein vertrautes Gefühl überkam sie. Er reichte ihr die Hand und scannte sie einmal von Kopf bis Fuß, um sich wie üblich ein Gesamtbild von ihr zu machen. Sie mochte das eigentlich nicht. Es erinnerte sie an die Frau ihres Ex-Chefs, doch Buchi durfte das.

»Guten Tag, Frau Schuhmacher. Schön, dass Sie da sind.« Er ging vorweg in seinen Therapieraum und sie folgte ihm, durch die Eile ziemlich aus der Puste.

»Guten Tag, Herr Professor. Es tut mir leid, ich bin spät dran.«

»Ganz entspannt«, beruhigte er sie. »Sie wissen doch, Stress ist nicht gut für unser Wohlbefinden. Bitte, nehmen Sie Platz!« Romy ließ sich in den tiefen Ledersessel fallen, stellte ihre Handtasche neben sich auf den Boden und schob ihre Ärmel hoch.

Der Professor deutete auf die dampfende Kanne, die auf dem Glastisch zwischen ihnen stand. »Darf ich?«

Sie nickte. »Sehr gerne, danke.«

Er goss erst ihr und dann sich selbst eine Tasse Tee ein und sank daraufhin auf die gegenüberliegende Couch. Romy balancierte zielsicher einen Löffel flüssigen Honig aus einem kleinen Glas in ihre Tasse. Der Professor ließ sich mit einem Stirnrunzeln die Brille auf die Nase fallen, nahm Romys Patientenakte zur Hand und blätterte darin. Romy sah sich währenddessen noch einmal in diesem vertrauten Raum um. Heute ein letztes Mal. Die Wand hinter ihm bestand aus Hunderten von Büchern – alle über dasselbe Fachgebiet, die Psychologie. Sein Schreibtisch war meterhoch gefüllt mit Papierkram. Zwischendrin stand ein trostlos vertrockneter Benjamini, der seine besten Zeiten lange hinter sich hatte. Auf einer Anrichte lag ein Buch über Zen-Buddhismus, auf dem ein Buddha aus dunklem Stein in Übergröße saß. Ein paar letzte Sonnenstrahlen fielen durch das große, runde Fenster und wärmten Romys Gesicht.

»Frau Schuhmacher, wie geht es Ihnen heute?« Ihre Aufmerksamkeit floh zu ihm zurück. Tiefenentspannt legte er einen Arm auf die Lehne seines Sofas und sah sie erwartungsvoll an.

Ein selbstsicheres Strahlen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Sehr gut!«

»Meine Sekretärin hat mir erzählt, dass Sie sich heute von mir verabschieden möchten. Ist das richtig?«

»Ja, das ist richtig«, bestätigte sie und schlug ihre Beine übereinander.

»Haben Sie bereits ein paar Ihrer Pläne umgesetzt?«

»Ja«, gab sie, ohne zu zögern, zurück, »ich habe meinen Job im Architekturbüro gekündigt und mich selbstständig gemacht. Am kommenden Sonntag werde ich Deutschland für ein halbes Jahr verlassen. Ich habe einen ersten großen Auftrag von zwei österreichischen Ärzten aus dem Tannheimer Tal erhalten.« Kerzengerade und voller Stolz saß sie in ihrem Sessel.

Die Augen des Professors wurden größer. »Oh, da haben Sie sich aber eine besonders schöne Umgebung zum Arbeiten ausgesucht. Ich war schon ein paarmal dort. Was hat Sie denn jetzt doch zu Ihrer Kündigung bewegt?«

»Ich bin in meinem Job einfach nicht mehr weitergekommen. Als ich meinem Chef damals die Einladung zum Essen ausgeschlagen habe, hat er mich links liegen lassen und mir nur noch anspruchslose Projekte gegeben. Ich habe ihn mehrfach darauf angesprochen, aber es hat sich bis zum Schluss nichts verändert.«

Professor Buchenbach deutete ein aufmerksames Nicken an und sah über seine Brille hinweg in Romys Augen. »Er ist verheiratet und hat drei Kinder, richtig?«

Romy nickte. »Ich habe ja schon länger über die Kündigung nachgedacht. In meinem Studium in der Schweiz habe ich mich damals auf das Translozieren von Fachwerkhäusern spezialisiert. Das war schon immer das, was ich eigentlich machen wollte, und diesen Traum werde ich mir endlich erfüllen!«

»Ich erinnere mich. Jedes Mal, wenn Sie davon erzählen, bin ich wieder fasziniert. Sie sind die einzige Frau, die ich kenne, die Häuser versetzen kann.« Er schmunzelte und Romy fuhr sich lächelnd durch ihre offenen Haare.

»Ich hatte die Kündigung gerade geschrieben und wollte sie abgeben, um mit meiner Internetseite online zu gehen, da habe ich einen Anruf von einem der beiden Ärzte bekommen, der mit seinem Sohn zusammen ein großes Projekt umsetzen möchte. Das hat mir die endgültige Entscheidung dann nochmal erleichtert.«

Ihr Gegenüber machte sich einige Notizen. »Und wie hat Ihr Chef auf Ihre Kündigung reagiert?«

»Er hat mich noch am selben Tag freigestellt. Ich musste sofort meine Sachen packen und gehen.« Der Professor schüttelte verständnislos den Kopf. Seine Blicke prüften immer wieder Romys Körperhaltung, ihre Hände, Gestik und Mimik. All das nahm sie wahr. Er legte eine Ruhe und Gelassenheit an den Tag, die Romy selten zuvor bei jemandem erlebt hatte.

»Sie sprachen vorhin von einem großen Auftrag. Darf ich fragen, was das für ein Projekt ist?« Er wirkte auffallend interessiert.

»Es wird eine vierhundert Jahre alte Remise hier in Freiburg abgebaut und am Ufer des Haldensees wieder aufgebaut. Die beiden Ärzte wollen sie als Rehabilitationszentrum für Brustkrebspatientinnen und als große dentale Implantologie zu neuem Leben erwecken.«

»Ich bin beeindruckt, Frau Schuhmacher. Und wie sind die Ärzte auf Sie aufmerksam geworden?«

»Ich bin ihnen empfohlen worden. Von wem weiß ich allerdings nicht, wobei ich das ja schon gerne wissen würde«, erwiderte Romy und legte eine Hand unter ihr Kinn.

Professor Buchenbach nahm einen Schluck Tee aus seiner Tasse. »Das werden Sie sicherlich noch in Erfahrung bringen.«

»In der nächsten Woche mache ich dort noch ein bisschen Urlaub vor Ort, und Mitte September startet dann das Projekt. Ich wage also mehr oder weniger einen kompletten Neustart.« Romys Augen glänzten vor Vorfreude.

»Was sagt denn Ihr Partner zu Ihrer beruflichen Neuorientierung?«

»Der weiß es noch nicht. Ich werde mich noch vor meiner Abreise am Samstag von ihm trennen.« Ihre Stimme war etwas zittrig. Auch sie nahm vorsichtig den ersten Schluck Tee zu sich.

»Das nennt man dann einen kalten Neustart, oder?«

»Ja, die viele Arbeit wird mir dabei helfen, schnell auf andere Gedanken zu kommen.« Was das anging, war Romy sich ganz sicher.

»Und was war jetzt ausschlaggebend für die Trennung von Ihrem Partner?« Er legte eine Hand an seine Schläfe, während Romy nachdenklich auf den Boden sah.

»Er gibt mir keinen Grund mehr zu bleiben und das ist wohl der beste für mich, um zu gehen. Ich wollte mit ihm in den Urlaub fahren, irgendwohin ans Meer, wo wir ganz für uns allein gewesen wären. Für mich war das die letzte Hoffnung, unsere Beziehung nochmal in den Griff zu bekommen. In den Monaten vorher haben wir beide so viel gearbeitet und kaum Zeit füreinander gehabt. Er leitet mittlerweile eine IT-Abteilung und ist von morgens bis abends im Büro in Basel. Und an den Wochenenden betreut er seit einem halben Jahr noch einen neuen Kunden in Berlin.« Professor Buchenbach räusperte sich und Romy redete weiter. »Da Maik unbedingt zum Weingut meiner Eltern an den Bolsenasee fahren wollte, wurde aus dem Strandurlaub nichts. Ich bin wirklich gerne bei meinen Eltern, aber wir waren natürlich während des gesamten Urlaubs nie allein, wenn Sie wissen, was ich meine …« Sie sah ihm dabei etwas intensiver in die Augen, denn über diese Problematik hatten sie in den vergangenen Therapiestunden des Öfteren gesprochen.

»Ja, das verstehe ich natürlich«, antwortete er und versank noch tiefer in seiner Couch.

»Er ist permanent mit der ganzen Welt vernetzt, aber sein Blick reicht nicht mehr über seinen eigenen Tellerrand hinaus. Ich bin völlig unsichtbar für ihn. Meine eigenen Bedürfnisse habe ich immer wieder zurückgestellt, und meine Liebe zur Musik hat ihn auch nie interessiert.«

»Hat er nicht mal erwähnt, dass er gerne Kinder mit Ihnen hätte?«

»Ja, aber mittlerweile kann ich mir das mit ihm nicht mehr vorstellen. Er lässt keine Nähe mehr zu und bei jeder kleinsten Auseinandersetzung enden unsere Gespräche in hitzigen Diskussionen und anschließendem Schweigen … oder er verlässt die Wohnung.«

»Darf ich fragen, warum Sie erst am Samstag mit Ihrem Partner Schluss machen und nicht noch heute oder bereits gestern?«

So eine Frage kann nur der Professor stellen, dachte Romy und presste ihre Lippen aufeinander. Sie holte tief Luft und suchte nach einer plausiblen Antwort.

»Weil er erst am Samstag von seiner Geschäftsreise zurückkommt und ich ihm direkt nach der Trennung aus dem Weg gehen möchte. In der Vergangenheit ist er jeder Diskussion aus dem Weg gegangen und dieses Mal werde ich diejenige sein, die danach die Wohnung verlässt.« Herr Buchenbach sah sie erschrocken an.

»Ich weiß«, setzte sie etwas verlegen nach, »Frauen können grausam sein, wenn ihre Bedürfnisse nicht erwidert werden.«

»Was haben denn Ihre Eltern dazu gesagt, als Sie ihnen von Ihrer Kündigung erzählt haben?« Romy hatte Professor Buchenbach erzählt, dass sie sich in der Vergangenheit schlecht vom Einfluss ihrer Eltern hatte lösen können.

»Anfangs wollten sie mich davon abhalten. Man gibt ja nicht einfach so einen sicheren Job auf. Aber als ich ihnen von meinem Auftrag in Österreich erzählt habe, waren sie natürlich stolz.« Romys Mund war trocken vom vielen Reden. Sie nahm einen weiteren Schluck Tee, der mittlerweile auf langweilig warm abgekühlt war.

»Ein bisschen Abstand von Freiburg ist für einen Neustart sicherlich von Vorteil.«

»Das denke ich auch. Wenn alles nach Plan läuft, werde ich im Frühjahr nächsten Jahres wieder zurück sein«, erklärte sie.

»Wer weiß, wer weiß?«, gab er lächelnd zurück. »Wenn man einmal im wohl schönsten Hochtal Europas war, möchte man gar nicht mehr zurück.« Er zog seine dunklen Augenbrauen hoch und blätterte weiter in ihrer Mappe.

Puh, ich glaube, ich will gar nicht wissen, was da alles drinsteht

»Was ist das für ein Gefühl für Sie, jetzt, wo Sie diese zwei einschlägigen Entscheidungen für Ihr Leben getroffen haben?«

»Es fühlt sich unglaublich gut an. Zum ersten Mal mache ich mein eigenes Ding.« Der Professor sah Romy zufrieden an und erhob seinen Zeigefinger.

»Nur Sie sind der Chef in Ihrem Leben und nur Sie entscheiden Tag für Tag, ob Sie Ja sagen oder Nein.«

Romy gab ihm innerlich recht und biss sich auf die Unterlippe.

»Frau Schuhmacher, ich muss sagen … Ihre Entwicklung gefällt mir sehr!«, fuhr er zufrieden fort.

»Danke!« Erleichtert zogen sich ihre Mundwinkel nach oben.

»Erst die Lungenembolie, dann der plötzliche Tod Ihrer Großmutter und die Situation in Ihrem Büro … und ein Partner, der keine Nähe zulässt und nur mit sich selbst beschäftigt ist. Da war es damals kein Wunder, dass Sie eine Depression entwickelt haben.« Er schloss die Mappe und legte sie zurück auf den Tisch.

Romy nickte. »Sie haben in den letzten drei Jahren einen neuen Menschen aus mir gemacht. Dafür möchte ich mich noch einmal bei Ihnen bedanken. Als Sie damals sagten, Depression sei heilbar, da habe ich nicht eine Sekunde lang daran gezweifelt und mich unglaublich sicher an Ihrer Seite gefühlt.«

»Krankheit als Chance … Darunter können sich gesunde Menschen oft nichts vorstellen. Aber jede unserer Erfahrungen hat auch seinen Sinn und bringt uns im Leben ein Stückchen weiter.« Als er den Satz beendet hatte, trank er in einem Zug seine Tasse aus.

»Das stimmt.« Sein Blick streifte die Uhr. Sie mussten langsam zum Ende kommen, das wusste sie. Die Zeit verging an diesem Ort immer viel zu schnell. Romy zog die Strickjacke aus ihrer Handtasche und erhob sich schweren Herzens von ihrem Platz. Auch ihr Coach stand von seiner Couch auf und reichte ihr seine Hand.

»Sollten Sie irgendwann noch einmal meine Hilfe benötigen, kommen Sie jederzeit wieder auf mich zu. Ich bin immer für Sie da, auch online.«

»Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich werde im Ernstfall darauf zurückkommen!« Mit einem Zwinkern legte er seine Hand auf die Türklinke.

»Na, dann wollen wir mal hoffen, dass der Ernstfall nicht eintritt. Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall viel Erfolg und Kraft für Ihre Zukunft, besonders für Samstag. Und suchen Sie sich in Österreich wieder eine Band zum Singen! Das befreit Ihre Seele. Es ist jetzt wichtig, dass Sie Ihre eigene Musik machen und nach Ihren Noten spielen. Zukunftsmusik ist jetzt angesagt.«

Romy legte sich ihre Tasche über die Schulter und nickte.

»Sie sind eine unglaublich starke Frau«, ergänzte Professor Buchenbach für ihn völlig untypisch. Romys Gesicht musste knallrot werden, so fühlte es sich jedenfalls an.

Den erneuten Dank ließ sie überspielt selbstsicher klingen. Immer schön Komplimente annehmen, so wie er es mir beigebracht hat.

»Und denken Sie daran, jeden Tag Ihre Hausaufgaben zu machen!«

»Hausaufgaben?«, wiederholte Romy etwas verwirrt und drehte sich noch einmal zu ihm um.

»Ja, Sie wollten doch jeden Tag etwas anders machen, als Sie es bisher gewohnt waren. Raus aus der Routine.«

»Ah, ja, das hätte ich fast vergessen. Wird erledigt.« Romy schenkte ihm noch ein letztes Lächeln, bevor sie über die Schwelle trat und er die Tür leise hinter ihr schloss. Ein neuer Lebensabschnitt begann.

Anders als bei ihrer Ankunft ging sie jetzt langsam Stufe für Stufe die Treppen hinab und nahm noch ein allerletztes Mal den vertrauten Geruch dieses Hauses tief in sich auf.Befreit von dem Druck, es allen recht machen zu wollen, sah sie nun glasklar, was ihr wichtig war und wie sie sich von all den äußeren Einflüssen abgrenzte. Wo sie bei ihrem ersten Termin bei Professor Buchenbach noch Scham verspürt hatte, weil sie fremde Hilfe in Anspruch hatte nehmen müssen, schwebte sie heute wie ein neuer Mensch zur Tür hinaus. Sie wollte diese Zeit nie vergessen.

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